Aschenpummel (German Edition)

chapter 24

Drei Anmerkungen zu Mut:

Erstens: Dass ich zwei Stunden später neben dem Piraten saß, zeigte, dass ich den Mut gehabt hatte, ihn anzurufen.

Zweitens: Dass es ausgerechnet das Einrahmen war, in dem wir saßen, zeigte wiederum, dass ich nicht den Mut gehabt hatte, seinen wahnwitzigen Treffpunktvorschlag abzulehnen – hätte ja sein können, dass er sich sonst nicht mit mir getroffen hätte.

Drittens: Dass es jedoch ausgerechnet das Einrahmen war, in dem wir saßen, zeigte wiederum, wie viel Mut in mir steckte. Noch dazu, wo es erst drei Uhr nachmittags war, der Laden dementsprechend leer und der einzige Anwesende außer dem Barkeeper, dem Piraten und mir der Bodybuilder war, der mich eine Woche zuvor rausgeschmissen hatte.

Oh, und eine vierte Anmerkung gab es auch noch: Ich würde mir Mut antrinken.

»Einen Long Island Ice Tea, bitte.«

»Ich nehme das Gleiche wie die Dame.«

Batman hatte seinen Kopf unter meinem Barhocker abgelegt. »Er wirkt überaus friedliebend«, stellte der Pirat fest, und ich nickte eifrig. Danach saßen wir stumm und steif nebeneinander, bis ich ins Erdnussschälchen fasste und dort auf die Finger des Piraten traf. Wie von der Tarantel gestochen, zuckten wir beide zurück. Cheyenne hatte noch untertrieben, wir waren nicht nur blöd, wir waren die zwei größten Spinner aller Zeiten.

Die Drinks kamen. Als der Pirat sein Glas hob, um mir zuzuprosten, hatte ich schon die Hälfte von meinem ausgetrunken. Umso enthusiastischer übernahm ich den Trinkspruch: »Auf uns.«

Danach nahm ich drei, vier winzige Schlucke – mehr pro forma – und platzte dann heraus: »Ich bin nicht lesbisch.«

Der Pirat wandte schnell den Blick ab und starrte in sein Glas.

»Wehe«, begann ich, »wehe, Sie fangen jetzt an, mir irgendwelche Predigten darüber zu halten, dass ich zu mir selbst stehen muss. Das mag zwar stimmen, doch lesbisch bin ich nicht. Ich steh auf Männer. Verstanden? Ich steh auf so was, was Sie sind!« Okay, verdammt, vielleicht doch ein bisschen zu viel Alkohol in dem Ice Tea.

Aber wenigstens sah er mich jetzt an.

»Ich weiß ja, dass Sie nicht lesbisch sind«, sagte er dann.

»Was?«, rief ich, ließ die Kinnlade Richtung Boden fallen und befürchtete, dass ich nie wieder imstande wäre, den Mund zu schließen.

»Gisela«, stieß ich hervor.

Der Pirat winkte ab. »Nein, nein, Gisela weiß davon nichts. Sie denkt natürlich, dass Sie lesbisch sind. Wenn ich auch nicht genau weiß, warum Sie sie in dem Glauben gelassen haben.«

Automatisch wollte ich mich rechtfertigen, doch da fiel mir ein, dass es wohl eher er war, der mir eine Erklärung schuldete.

»Warum haben Sie Gisela auf mich angesetzt?«, bohrte ich nach.

Mit hängenden Schultern saß er auf dem Barhocker. Seinen Drink hatte er bis aufs Zuprosten überhaupt noch nicht angerührt. Am liebsten hätte ich ihm ja den ganzen Inhalt intravenös verabreicht. Wenn er betrunken war, würde ich ihn sicher rumkriegen.

Doch der Pirat hatte sein eigenes Tempo. Und während ich dasaß und wartete, erinnerte ich mich daran, dass ich sein Tempo ja eigentlich mochte. Und wenn diese Sache zwischen uns etwas werden sollte, dann musste ich mich eben verdammt noch mal daran gewöhnen.

Ich nahm einen großen Schluck durch den Strohhalm.

Da endlich sprach er: »Ich kann es Ihnen nicht sagen. Eher würde ich die Augenklappe ablegen.«

»Dann tun Sie das doch endlich«, flehte ich.

Erschrocken fuhr er zurück. »Nein.«

»Gut, dann sagen Sie mir, warum Sie Gisela gesagt haben, dass ich lesbisch bin.«

Er schüttelte den Kopf.

»Dann runter mit der Klappe!«

»Ich kann nicht!«

»Sie können!«

»Nein!«

Da sprang ich auf. »Ach verdammt noch mal, dann will ich Ihnen mal was sagen: Ich mag Sie. Ich mag Sie so sehr, dass ich vier Monate lang jeden Abend zu Ihnen gekommen bin und mir ein Buch gekauft habe. In meiner Wohnung, die wirklich nicht sehr groß ist, stapeln sich die Bücher! So sehr mag ich Sie. Ich mag Sie so sehr, dass ich versucht habe, innerhalb einer Woche zu einer Frau zu werden, die es verdienen würde, an Ihrer Seite zu sein. Ich mag Sie so sehr, dass ich vier Tage lang Extremsport betrieben habe, um eine halbwegs anständige Figur zu bekommen. Ich mag Sie so sehr, dass ich gestern Nacht beinahe, ach, verdammt, vergessen Sie’s! Jedenfalls mag ich Sie bei weitem genug, dass ich es restlos akzeptieren würde, wenn Sie sich mir nie ohne Augenklappe zeigten. Sie sollten aber wissen, dass es nichts, gar nichts geben könnte, was sich unter der Klappe verbirgt, das irgendetwas an meinen Gefühlen für Sie ändern könnte. So sehr mag ich Sie!«

»Flammende Rede, Lady«, bemerkte Bodybuilder anerkennend. Oder auch verarschend.

Völlig egal, das Einzige, was zählte, war der Pirat, der bei meinen letzten Worten aufgestanden war und sich mit einem Ruck die Augenklappe vom Kopf gerissen hatte.

Lieber Himmel. In meinem ganzen Leben hatte ich so etwas nicht gesehen.

Es war das schönste Gesicht, das der liebe Gott je gemeißelt hatte.

»Uhh, das ist übel«, hörte ich den Barkeeper sagen.

Bodybuilder verzog das Gesicht und klopfte dem Piraten auf die Schulter: »Kopf hoch, Junge, du hast ja noch die Augenklappe.«

Ich konnte mich gar nicht satt sehen an ihm.

»Ich habe ja gewusst, dass Sie entsetzt sein würden.«

Ich fasste mir ans Herz. »Entsetzt? Sie meinen – ich, ich versuche nur zu verstehen, warum Sie diese Klappe tragen. Ist es – damit die Leute Sie nicht nur auf Ihr Aussehen reduzieren?«

Er ließ den Kopf sinken. »Naja, als Kind bin ich ziemlich verspottet worden –«

»Ich auch«, rief ich begeistert. »Aber Moment mal, warum Sie?«

»Na, deswegen eben.«

»Wegen Ihrer Schönheit?«

Er hob den Kopf, seine Stirn war gerunzelt. »Wie können Sie mich so verspotten?«

Jetzt verstand ich gar nichts mehr. Belämmert schüttelte ich den Kopf.

Verzweifelt rief er: »Sehen Sie es denn gar nicht?«

»Ja, was denn, um Himmels willen?«

»Na, mein linkes Auge. Oder auch das rechte. Je nachdem.«

Ich wollte es ja sehen. Ich bemühte mich, es zu sehen. Ich streckte den Kopf nach vorne und rückte meine Brille zurecht. Jetzt sah er noch schöner aus als zuvor. Da würde Tissi mit ihrem Zahnarzt ziemlich abstinken daneben.

In dem Moment sagte der Pirat: »Mein linkes Auge ist doch viel weiter unten als das rechte.«

Ich kniff die Augen zusammen, um schärfer sehen zu können, doch mir blieb nichts anderes übrig, als wieder den Kopf zu schütteln.

Da endlich lächelte der Pirat. Er sagte: »Ich habe Gisela angerufen und behauptet, dass Sie lesbisch sind, weil …«

»Ja?«

Der Pirat atmete tief ein, dann legte er los: »Weil ich alles an Ihnen mag. Ich mag Ihre Begeisterung, Ihr Mitgefühl, Ihre Spontaneität. Ich mag es, wie Sie mich ansehen, und ich mag, wie Sie aussehen.«

Am liebsten hätte ich mich versteckt, so sehr musste ich plötzlich grinsen. Ich spürte, wie ich knallrot anlief und mir die Tränen in die Augen traten. Bitte nicht heulen, bitte nicht!

»Ich mag Sie«, sagte der Pirat. »Ich mag Sie so sehr, dass ich vier Monate lang jeden Abend auf Ihren Besuch gewartet habe. Ich mag Sie so sehr, dass ich jedes Buch, das Sie bei mir gekauft haben, am nächsten Tag nachgekauft habe, um es zur gleichen Zeit lesen zu können wie Sie. Ich mag Sie so sehr, dass ich mich nicht getraut habe, Sie um eine Verabredung zu bitten. Ich mag Sie so sehr, dass ich behauptet habe, dass Sie lesbisch sind, damit Gisela dazukommt, weil ich gehofft habe, dass sie uns auf irgendeine Weise zusammenbringen könnte. Ich mag Sie so sehr, dass ich Cheyenne eingeredet habe, dass sie unbedingt ins Kasperltheater gehen möchte, nur damit ich wieder etwas mit Ihnen unternehmen kann.«

»Kasperltheater ist cool«, bestätigte Bodybuilder.

»Das Coolste auf der ganzen Welt«, flüsterte ich und wartete auf meinen Kuss.

»Darf ich jetzt die Klappe wieder aufsetzen?«, fragte der Pirat vorsichtig.

»Ja«, riefen Barkeeper und Bodybuilder wie aus einem Mund.

»Ja«, stimmte ich ihnen zu. »Du kannst machen, was du willst.«

Da zog er mich an sich. Und als unsere Lippen sich berührten, da wusste ich, dass dieser Kuss der erste richtige in meinem Leben war.

»Moment mal«, mischte Barkeeper sich ein. »Was ist jetzt mit der Augenklappe? Du wolltest sie doch aufsetzen. Puh, das ist ja nicht mit anzusehen.«

Der Pirat und ich küssten uns weiter. Bodybuilder sagte – und ich glaube, dass Rührung in seiner Stimme lag – »F*ck, das muss wahre Liebe sein.«

Ich zog meinen Kopf zurück und strich mir verlegen die Haare hinter die Ohren. Der Pirat räusperte sich und setzte seine Augenklappe auf.

»Yeah«, machte Barkeeper.

Mit einem großen Schluck trank ich meinen Ice Tea aus und fragte, einfach, weil ich jetzt irgendetwas sagen musste:

»Was war denn jetzt mit der Buttersäure in den Siebzigern?«

Sigi blinzelte aus seinem linken Auge.

»Die Geschichte, die du in der U-Bahn-Station vorige Woche begonnen hast«, half ich ihm auf die Sprünge, während ich in Wahrheit an nichts anderes denken konnte als an unseren Kuss.

»Ach so, ja, also in den Siebzigern wurden die U-Bahn-Schächte mit einem Putzmittel gereinigt, das auf Buttersäure basierte. Naja, das war nicht so klug.«

Ich nickte. Nicht das ich großartig mitbekommen hätte, um was es gerade ging, aber das war auch egal. Alles war egal. Aber nicht wurscht! Zumindest nicht das ganze Leben.

»Gehen wir?«, fragte der Pirat schüchtern.

»Ja, verdammt«, rief ich und nahm seine Hand.


Wir standen vor dem Einrahmen. Batman, der Pirat und ich. Wäre es nur nach mir gegangen, dann hätten wir längst auf der anderen Straßenseite in der Piratenwohnung sein können. Doch er hatte eben sein eigenes Tempo. Wogegen ich momentan auch gar nichts einzuwenden hatte, schließlich sagte er gerade zu mir: »Ich hätte nie gedacht, dass so eine wunderschöne Frau wie du sich für mich interessieren könnte.«

Wie ich reagierte, war klar. Ich senkte den Kopf so schnell ich nur konnte, damit er nicht auf die Idee kam, noch einmal genauer hinzusehen.

»So eine wunderschöne Frau.«

Plötzlich dämmerte mir etwas. Er war komplett blind in Bezug auf mich! Mit brennenden Wangen hob ich den Kopf. Bodybuilder hatte recht gehabt. F*ck, das musste Liebe sein.

Ich sah in sein leuchtendes linkes Auge und stellte mir unsere Zukunft vor.

Er in seinem Bücherladen. Ich – wundersam erschlankt – daneben im Schuh-Bi …

Moment mal! Wenn er vor Liebe blind war, dann brauchte ich ja gar nicht zu erschlanken. Dann brauchte ich nur dafür zu sorgen, dass seine Liebe niemals endete. Und so wohl, wie ich mich heute in meiner Haut fühlte, passte doch eigentlich alles. Ich passte. Mit all meinen Dellen und Polstern.

»Können wir bitte was essen gehen?«, hörte ich mich im nächsten Moment inständig flehen.

»Aber natürlich.« Er küsste mich auf die Nase und legte den Arm um mich.

Und während wir uns zu dritt auf den Weg zu einem Italiener machten, summte der Pirat »Fly me to the moon« und ich stellte mir unsere nahe Zukunft vor:

Der Pirat und ich gemeinsam an einer reich gedeckten Tafel. Er erzählt von seinen Büchern, während ich alles durcheinander esse, was mir Spaß macht. Nudeln, Fleisch, Fisch, Schokolade, Baguette, noch mehr Fleisch, Unmengen von Kuchen, Kokoskuchen, Mohnkuchen, Nusstorte – nein, keine Nusstorte –, noch mehr Schokolade, noch mehr, noch mehr. Wir sitzen zwischen all den Zahnärzten und Tissis dieser Welt, die sich nicht vorstellen können, wie glücklich wir sind. Batman hockt daneben, den Kopf auf meinem Schoß. Und oben im Himmel, da thront Hans auf einer Wolke neben Frank Sinatra, der nur für uns sein »Strangers in the night« singt.

Ja, so stellte ich mir unsere Zukunft vor.

Miedler, Nora's books