Aschenpummel (German Edition)

chapter 16

Fünf Gänge. Eine Kupplung. Ein so ein dämlicher Knüppel und ein so ein winziges Pedal. Was, verdammt noch mal, war daran so schwer?

»Nicht aufregen, liebste Teddy, ganz ruhig. Man braucht Ruhe, um ein Auto zu lenken. Ruhe und Geduld.«

Die Stimme des Zahnarztes klang hypnotisch, trotzdem hätte ich ihm am liebsten eine reingehauen. Was wusste der Mann schon von meinem Leben? Ich hatte keine Zeit für Ruhe und Geduld. Ich musste das bis Sonntag können!

»Ruhe und Geduld … Ruhe und Geduld …«

»Jaaa«, knurrte ich. »Jaaa, verdammt! Tschuldigung.«

»Liebste Teddy, keine Entschuldigungen, bitte. Ich weiß doch längst, wie viel Feuer in Ihnen steckt.«

Wieder soff der Motor ab.

»Ich geb’s auf! Ich geb’s auf!« Das war mein Ernst. Es würde sowieso nie klappen. Ich war eben nicht so wie andere Menschen. Ich war eben nicht normal.

»Nun ja«, begann Strohmann, »wie war es denn damals in der Fahrschule?«

Ich schnaubte und drehte den Schlüssel wieder nach rechts. Den linken Fuß nach oben, den rechten nach unten – der Motor röhrte, und wir fuhren! Wir fuhren tatsächlich!

»Wir fahren! Wir fahren!«

»Wunderbar, Teddy, na sehen Sie … und jetzt wieder auf die Kupplung und –«

»Was? Was soll ich machen?«

»Links auf die Kupplung – Kupplung, Teddy, Kupplung. Stehen Sie auf der Kupplung? Gas, Teddy, Gas – nicht so viel! Nicht so viel! Kupplung, Teddy, Kupplung und schalten! Nach hinten, zweiter Gang, nach hinten … ähh, oje …«

Dem Zahnarzt schien es mehr auszumachen als mir, dass ich den Motor wieder abgewürgt hatte.

Ich hatte meinen Triumph für heute. Ich hatte es geschafft, anzufahren. Mit Kupplung und Gangschaltung.

Strohmann räusperte sich. »Wollen wir es für heute gut sein lassen?«

Ich nickte. Es war Mittwoch. Noch vier Tage bis Sonntag und der erste Schritt, der wichtigste, war gemacht.

Ich fühlte mich richtiggehend beschwingt. Vielleicht hatte ich deshalb auf dem Heimweg das Bedürfnis, gehobene Konversation zu betreiben und so Sachen zu sagen wie: »Ganz unglaublich, dass wir es Anfang September noch auf dreißig Grad schaffen, nicht wahr?« Und: »Wien ist schon eine schöne Stadt.«

Der Zahnarzt belohnte mich mit sanft vorgetragener Zustimmung und seinem Lächeln mit Wimpernschlag.

Er parkte vor meiner Haustür und stieg mit mir gemeinsam aus. Ich war gerade dabei, die leuchtenden Farben des Abendhimmels zu loben, als plötzlich von oben eine Stimme ertönte.

»Ist er das?!«

Mama.

»Ist das der Zahnarzt?!«

Ich knirschte mit den Zähnen. Aliens, bitte holt die verdammte Frau ab.

»Mama, bitte!«

»Ist er verheiratet?!«

Strohmann stand die Überraschung ins Gesicht geschrieben. Ich stöhnte: »Bitte entschuldigen Sie, ich muss schnell da rauf, meine Mutter erwürgen.«

Jetzt lachte er, ich lachte mit. Und überlegte, ob ich es wohl wirklich fertigbrächte, sie zu erwürgen.

»Ihre Mutter besitzt eine herzerfrischende Offenheit.«

»Bring ihn rauf!«, kam der Befehl von oben. »Ich will sehen, ob er tatsächlich so gut aussieht, wie du behauptet hast!«

»Ich kann gerne auf einen Sprung mit hinauf –«

»Neineinein«, wehrte ich ab. »Wir haben beide schon genug gelitten. Ich meine, ich meine, wegen meiner Mutter … nicht wegen Ihnen, oder so.«

Er nahm meine Hand und sah mir tief in die Augen.

»Was macht er da, Thaddäa?! Hält er deine Hand?!«

»Sie sollten nicht mit den Zähnen knirschen, Teddy, es wäre sehr schade um die schönen Beißerchen.«

»Ja, es … es tut mir leid …«

»Liebste Teddy … ich freue mich sehr auf unser Wiedersehen morgen.«

Und im nächsten Moment spürte ich schon seine Lippen an meiner Wange.

Die Haustür musste ich nicht aufsperren, da meine Mutter bereits den Summer drückte.

In meinem Kopf drehte sich alles, ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Mama ging es wohl ähnlich, sie war vollkommen außer sich: »Er hat dich geküsst, ich bekomme tatsächlich Enkelkinder! Du musst es also irgendwie geschafft haben, ihm zu gefallen. Zahnarzt, sagst du? Nun, es gibt sicher schlechtere Berufe, auch wenn mir ein richtiger Arzt lieber wäre. Er sieht wirklich gut aus – und er hat dich geküsst!«

Sie tat sich augenscheinlich schwer, diese beiden Tatsachen miteinander in Einklang zu bringen. War ja auch schwer zu begreifen, was so ein Mann an mir finden konnte.

»Mama, er gibt mir einfach Fahrstunden.«

»Papperlapapp, Fahrstunden. Ich hoffe nur, er ist nicht einer von diesen Schwulen.« Sie senkte ihre Stimme zu einem Flüstern. »Letztens stand erst in der Zeitung, dass diese Schwulen pervers sind.«

Ich seufzte. Der Hall klang lange im Treppenhaus nach. »Mama, sag, kannst du dir wirklich nicht vorstellen, dass es einen Mann gibt, der sich für mich interessiert?«

Sie ging gar nicht auf meine Frage ein. »Oder ist er ein Ausländer? Könnte ein Pole sein. Oder einer aus der Tschechei. Der ein Visum will.«

»Gute Nacht, Mama.«

»Halt, nicht so hastig, junge Dame. Du wirst mir den Mann bald hierherbringen. Haben wir uns verstanden? Und wenn er nicht gescheit deutsch kann, verbiete ich dir den Umgang mit ihm. Sag ihm das. Sag ihm, er soll gescheit Deutsch lernen. Ach nein, sag ihm am besten gar nichts. Aber bring mir ein paar Enkelkinder nach Hause.«

Ich biss mir auf die Unterlippe. Wahrscheinlich war dieser Moment hier auch nicht schlechter geeignet als alle anderen, um meiner Mutter vom Piraten zu erzählen.

»Mama, es gibt da jemand anderen –«

Sie verdrehte die Augen. »Thaddäa, hör gut zu, was deine Mama dir jetzt sagt: Du gehörst zu den Frauen, Kind, die nie einen Mann für sich alleine haben werden. Es wird immer eine andere Frau geben, du musst nur zusehen, dass du diejenige bist, die den Trauschein hat. Das ist deine finanzielle Absicherung.«

»Mama, nein, ich meinte es andersrum –«

Meine Mutter lachte. Wenn sie gut drauf ist, kann sie mit ihrem Lachen Glas zum Zerspringen bringen, und an dem Abend war sie spitzenmäßig drauf.

»Thaddäa, du willst mir doch nicht etwa erzählen, dass du die Geliebte bist? Dass er eine Frau daheim sitzen hat, und sich bei dir nicht zurückhalten kann? Ha, das ist – das ist … hahaha! Hohohoho!«

Aus dem zweiten Stock hörte man ein Klirren. Dann noch eines. Die ersten Fensteropfer.

»Gute Nacht, Mama.«

Sie griff nach meinem Arm, ihre Hand war eiskalt. »Thaddäa, hör auf deine Mama«, gurrte sie und schob ihr Gesicht so nahe an meines, dass ich wegen ihres Mundgeruchs die Luft anhalten musste, »lock ihn in dein Bett. Mach ihn betrunken, aber nicht zu betrunken, sonst funktioniert er nicht mehr, das kannst du deiner Mama glauben.«

»Mama!« Ich riss mich los und stolperte rückwärts. Meine Wangen brannten vor Scham. Und ein bisschen immer noch von den Küssen des Zahnarztes.

»Mama, rede nie wieder so mit mir«, flehte ich.

»Deine Mama war in ihrer Jugend sehr begehrt. Deine Mama hat gewusst, was die Männer verrückt macht.«

Ich steckte mir die Finger in die Ohren und verfiel in eine Art Moonwalk – weg von Mama, nur weg von Mama, noch ein Schritt, noch ein Schritt.

»Aha«, sagte ich laut, »aha, aha, gute Nacht, aha …«

An der Stiege angekommen, drehte ich mich um und preschte nach oben, fünf Stufen auf einmal nehmend. Mit zitternden Fingern versuchte ich, den Schlüssel ins Schloss zu stecken, zweimal fiel er mir herunter. Als ich es endlich geschafft hatte, aufzusperren, riss ich die Tür auf und schmiss sie mit Karacho hinter mir zu. Nie wieder machst du das mit mir, Mama! Nie wieder!

Ich stand vor dem Spiegel und heulte meine frisch geküssten Wangen an. Verdammt noch mal, Teddy, was willst du eigentlich? Den Zahnarzt? Nein! Oder?

Ich angelte mein Handy aus dem Rucksack und drückte die Tasten. Ich musste ihn hören, auf der Stelle, ich musste ihm sagen, dass ich ihn –

»Hallo?«

Ich biss die Zähne zusammen.

»Hallo?«

Ich presste die Lippen aufeinander.

»Wer ist denn da?«

Ich kniff die Augen zu.

Der Pirat legte auf.

Na prima, du Genie, das hast jetzt wieder gebraucht, ja, das war absolut nötig, du Vollkofferweib. Gott, am liebsten hätte ich meinen Kopf in den Spiegel gerammt und mir mit den Scherben die Kehle durchgeschnitten. Eine geköpfte Leiche, deren Hautfetzen sich in tausend kleinen Spiegelsplittern reflektieren.

Ich wählte eine neue Nummer.

»Teddy! Hallo!«

»Hallo, Gisela.«

»Was ist los? Du hörst dich traurig an.«

Ich setzte mich auf den Boden. »Ich hatte nur gerade einen Zusammenstoß mit meiner Mutter. Und dann gibt es da einen Mann, einen anderen als Sigi, er gibt mir Fahrstunden –«

»Okay, Teddy, schön der Reihe nach. Ich hab Zeit. Erzähl’s mir.«

»Dieser Mann sieht viel zu gut aus. Er sieht aus wie Mr. Universum, ist aber Zahnarzt. Und ich verstehe nicht, was er an mir findet.«

»Aber Teddy, das ist doch großartig. Wenn er so phantastisch aussieht, dann kann sein Ego sicher einen kleinen Dämpfer vertragen. Flirte ein bisschen mit ihm, hol dir Selbstvertrauen, das ist vollkommen in Ordnung. Mach ihm halt keine falschen Hoffnungen. Und falls du ihn nicht gut kennst, geh nicht gleich zu ihm in die Wohnung, gell. Den Fehler hab ich kürzlich gemacht. Dachte, die Frau wäre ein scheues Reh.« Sie lachte. »Teufel, das war sie nicht, aber ich weiß mich zu wehren.«

»Und wie würdest du dich gegen eine dominante, klammernde, besserwisserische Mutter wehren, die deinen Alltag kontrolliert und dir vorschreibt, wie du zu leben hast?«

Gisela brauchte nicht lange zu überlegen. »Ich würde ihr klarmachen, dass die Beziehung zwischen euch nur funktionieren kann, wenn der nötige Respekt vorhanden ist. Und natürlich so Dinge wie Wärme, Mitgefühl und Aufmerksamkeit.«

»Respekt«, flüsterte ich in den Hörer. »Du hast recht, Gisela, meine Mutter hat null Respekt vor mir.«

»Und den kannst nur du dir verschaffen. Deine Mutter wird so lange auf ihre Tour weitermachen, wie du sie lässt.«

Ich nickte.

»Teddy? Bist du da?«

»Ach so, ja. Ich bin nur so verblüfft, weil es aus deinem Mund so einfach klingt.«

»Das ist es.«

»Ja, das glaube ich jetzt auch. Verdammt, ja!«

Nach dem Gespräch mit Gisela ging es mir wesentlich besser.

Trotzdem verzichtete ich ausnahmsweise auf die Turnübungen, die mein Intensivprogramm an dieser Stelle vorgeschrieben hätte. Ich begnügte mich damit, vom Sofa aus Desperate Housewifes anzuschauen und ab und zu die Pobacken zusammenzukneifen. Dabei schaufelte ich Mozzarella und Tomaten in mich hinein und sehnte mich nach einem Steak mit Kräuterbutter.

Gott, waren die alle dünn bei Desperate Housewifes, das war doch krank, oder? Was war das überhaupt für ein Leben, so ohne richtiges Essen? Und wer, verdammt noch mal, bestimmt eigentlich, wie eine Frau auszuschauen hat? Wenn eine Frau keine Orangenhaut haben durfte, warum gab es die Scheiß-Orangenhaut dann überhaupt? Und warum lästerten die Weibermagazine über Stars mit Dellen und Löchern in den Oberschenkeln? Weil sie sich insgeheim freuten, dass die eben auch nicht perfekt waren. Niemand war perfekt! Warum wurde uns dann überall eingeredet, wir müssten perfekt sein?

Ich setzte meine Salatschüssel an die Lippen und trank das ganze Essig-und-Öl-Gemisch aus. Meine Kehle brannte, missmutig starrte ich auf Teri Hatchers Zahnstocherbeine. Bis Samstag noch, bis zum Bikinitag, danach würde ich wieder vernünftig essen, das schwor ich mir.


Miedler, Nora's books