Aschenpummel (German Edition)

chapter 12


»Und jetzt erzähl mir ein bisschen was über dich.«

Meine erste Reaktion war Abwehr. Noch nie hatte mich jemand dazu aufgefordert, über mich selbst zu reden. Nicht mal Hans, als ich mich für den Job im Schuh-Bi beworben hatte. Er bat mich lediglich, meinen Namen aufzuschreiben, weil er ein hundsmiserables Namensgedächtnis hatte. Am dritten Tag bekam ich einen Zweitschlüssel für den Schuhladen. Das hatte mir so gefallen an ihm. Er vertraute mir von Anfang an.

»Na?«, bohrte Gisela sanft nach.

Die Abenddämmerung setzte langsam ein und begann, den Himmel über unserer Parkbank zartgolden zu schattieren. Giselas Locken lagen wie ein leuchtender Flammenkranz um ihren Kopf. Warum nur hatte ich mir helle Strähnchen machen lassen – rote Haare, das wäre es gewesen. Ich räusperte mich.

»Nun ja, ich bin zweiunddreißig. Noch. Ende des Monats werde ich dreiunddreißig. Und ich, ich kenne den Pi-, Sigi seit vier Monaten. Seitdem er das Buchgeschäft hat. Und … nun ja –« Ich blies eine Menge Luft aus meinen Lungen. Fand, dass ich genug erzählt hatte.

Gisela war anscheinend anderer Meinung.

»Was machst du denn gerne?«, fragte sie.

»Gerne?«, wiederholte ich.

Sie lächelte. »Ich rede von Hobbys – auch wenn ich das Wort absolut doof finde. Aber zumindest weiß jeder, was damit gemeint ist.«

»Hobbys?« Womöglich war es ja mein Hobby, Worte zu wiederholen.

Gisela schaute amüsiert, sie wartete.

Am liebsten hätte ich irgendwas Tolles erfunden. Fallschirmspringen, Tontauben schießen, Kunstfilme anschauen, vegetarisch kochen – doch ich befahl mir, vernünftig zu sein, und sagte lediglich: »Fernsehen und essen.« Halb erwartete ich, dass sie sich über mich lustig machen oder verärgert sein würde, doch sie bohrte gleich weiter: »Und sonst? Was tust du an den Wochenenden?«

Ich spürte, wie meine Nackenmuskeln sich verkrampften. »Ich verbringe Zeit mit meiner Mutter.«

»Ist doch schön.«

Ich schüttelte den Kopf.

»Erzähl«, forderte sie mich auf.

Also erzählte ich. »Meine Mutter ist … anders. Ich glaube, das wollte sie auch immer sein. In allen Dingen. Bis zur Volksschule haben meine Schwester und ich keine anderen Kinder gekannt. Tissi ist ein Jahr älter als ich, und ich kann mich erinnern, wie glücklich sie in ihren ersten Schultagen war. Und dass ich das nicht verstanden habe, denn unsere Mutter hatte uns eingetrichtert, dass wir nichts Gutes in der Schule zu erwarten hatten. Und es hat sich bewahrheitet. Denn irgendwann ist Tissi vollkommen aufgelöst nach Hause gekommen. Sie hat sich in Mamas Arme geworfen und den ganzen Nachmittag geweint. Die anderen Kinder hatten vom Christkind geredet, und Tissi hatte gesagt, dass sie noch nie etwas von einem Christkind gehört hat. Worauf die anderen gemeint haben, dass sie wohl ein besonders schlimmes Kind sein müsse, wenn das Christkind ihr noch nie Geschenke gebracht hatte. Irgendwann später ist Tissi zu der Überzeugung gekommen, dass Mama an allem schuld sei, aber das habe ich nicht so gesehen. Mama hat mir immer leidgetan. Und außerdem … ja, sie ist eben meine Mutter. Sie hatte es nie leicht.«

»Und warum gab es bei euch kein Christkind?«

Ich zuckte die Schultern. »Bei uns gab es gar kein Weihnachten. Wenn Tissi und ich gefragt haben, was die ganzen bunten Lichter in den Auslagen bedeuten, hat sie gesagt, dass das im Winter so gemacht wird, weil es früh dunkel wird und die Straßenbeleuchtung nicht ausreicht. Nach der Sache in der Schule hat sie uns erklärt, dass die Geschenke nicht das Christkind bringt, sondern die Eltern kaufen. Und dass sie kein Geld für einen Baum und Geschenke hat, weil unser Vater sie mit zwei kleinen Kindern sitzen gelassen hat. Als wir größer waren, haben Tissi und ich ihr ein bisschen Geld stibitzt und einen Christbaum gekauft. Und Kerzen und Schmuck. Das mit dem Geld ist ihr nie aufgefallen. Am Anfang hat sie natürlich Zeter und Mordio geschrien, doch mit den Jahren hat sie sich ans Weihnachtenfeiern gewöhnt und wehe, ich würde einmal den Christbaum vergessen. Natürlich zahle ich ihn jetzt immer von meinem Geld«, schob ich eilig hinterher.

Gisela sah mich lange an. »Und deine Schwester? Kommt sie noch immer mit zum Baumkaufen?«

Ich hätte beinahe gekichert. »Nein. Tissi ist mit neunzehn ausgezogen, um ihr ›eigenes Leben‹ zu leben. Mama und ich haben darin nichts zu suchen, außer sie hat Lust, ein bisschen Frust abzuladen. Sie ist wirklich hübsch, weißt du? Und ich halte es keine Sekunde im selben Raum mit ihr aus.«

»Und mit deiner Mutter?«

Ich zuckte die Schultern. »Mit meiner Mutter schon. Ich bin es gewohnt, mit ihr zusammen zu sein …«

»Gewohnt.« Gisela nickte. »Aber gut fühlst du dich nicht bei ihr?«

Ich wollte nicht zu sehr über meine Mutter schimpfen, also sagte ich nichts.

»Du bist zu bewundern.« Gisela stützte die Ellbogen auf die Knie.

»Ich?«, rief ich, beinahe entsetzt.

Sie nickte. »Eine Mutter, die ihre eigenen Kinder manipuliert, eine Schwester, die sich abgesetzt und dich quasi als einziges Kind dieser Mutter zurückgelassen hat. Und mittendrin du. Teufel, Teufel. Du musst die engelhafteste Geduld haben, die man sich nur vorstellen kann.« Sie drückte meine Hand. »Teddy, sag schon, was tust du dir Gutes?«

»Ich esse und ich schaue fern.«

»Und sonst?«

»Jeden Abend gehe ich zu Sigi und kaufe ein Buch.«

»Und sonst?«

Ich schüttelte den Kopf. Gisela auch. »Das reicht nicht«, sagte sie bestimmt.

»Dann sag mir doch bitte, was ich machen soll! Wie kann ich ihn kriegen? Wie muss ich sein?«

»Als Allererstes musst du dir darüber klar werden, dass du dich nicht nur für ihn ändern darfst. Sondern für dich.«

Ich schob diese Wortklauberei mit einer Handbewegung beiseite. »Ja ja, okay. Und wie kriege ich ihn?«

»Hast du mir zugehört?«

»Gisela, ohne ihn kann ich nie glücklich werden. Nie.«

Gisela lachte. »Teufel, Teufel, Mädchen. Pass auf, wir einigen uns auf Folgendes: Sorg du dafür, dass du dich mit dir selbst wohlfühlst, dass du glücklich bist. Dann ergibt sich die Sache mit Sigi von allein.«

Ergeben seufzte ich. »Na gut. Und schaffe ich das in fünf Tagen?«

Sie grinste. »Den Anfang schon.«


Ich fuhr mit der Straßenbahn nach Hause. Eigentlich wäre ich viel lieber zu Fuß gegangen, geflogen, doch es war nach acht, und Mama würde sowieso schon ein Spektakel veranstalten. Irgendwann würde ich dahin gelangen, dass es mir nichts mehr ausmachte, wenn meine Mutter wütend auf mich war. Dass ich ihr klipp und klar ins Gesicht sagen konnte, dass es sie überhaupt nichts anginge, ob ich um halb acht, um acht oder die ganze Nacht nicht nach Hause kam. Doch an diesem Abend hatte ich keinen Nerv dafür. Trotzdem kam ich mir ein bisschen heroisch vor, als ich, in der Straßenbahn sitzend, im Flüsterton Scarlet O’Hara zitierte: »Aber nicht heute. Verschieben wir’s auf morgen.«

Danach rief ich mir noch einmal die wesentlichen Punkte ins Gedächtnis, die ich Gisela zufolge lernen sollte:

Auf meine Bedürfnisse zu hören.

Mich zu mögen.

Mir selbst Gutes zu tun.

Mich nicht unter Wert zu verkaufen.

Mich selbst zu akzeptieren und zu respektieren.

Und den Mut zu haben, Dinge zu ändern, die den ersten fünf Punkten hinderlich waren.

Dazu gab sie mir ein paar Tipps. Einige davon klangen sehr simpel, wie etwa, dass ich beim Gehen auf der Straße öfter mal den Kopf heben sollte, mir bewusst die Welt ansehen, lächeln. Oder dass ich mir ein tolles Schaumbad gönnen sollte und danach eine duftende Bodylotion. Womöglich hatten die Frauenzeitschriften in diesem einen Punkt also doch recht.

Und dann kamen die drei Hammer: Ich sollte unbedingt mal in die Sauna gehen, ohne Handtuch, um ein gesundes Körperbewusstsein zu entwickeln. Und ich sollte ein paar kleine Flirts riskieren. Flirts! Ich! Und Mama und Tissi mussten klare Grenzen von mir gesetzt bekommen.

Ehrlich, ich hatte keine Ahnung, welche von den drei Aufgaben die unerfüllbarste war. Geschweige denn, welche der drei überhaupt eine Chance hatte, erfüllt zu werden.

Doch das alles war noch nicht das schlimmste. Das Schlimmste war, als ich in meiner Wohnung ankam und mir der fürchterlichste Gedanke überhaupt einschoss.


»Ist doch prima«, hörte ich Gisela sagen.

»Prima?« Ich starrte erst das Handy an, dann das Bild, das mir der Vorzimmerspiegel entgegenwarf. Titel: Dicke Trulla in Snoopyunterhose. Vielleicht war es nicht die beste Idee gewesen, mir hektisch die Klamotten vom Leib zu reißen und mich hysterisch vor den Spiegel zu werfen, nachdem mir klargeworden war, dass der Pirat mich in fünf Tagen in Badesachen sehen würde. Ich war vollkommen aufgelöst.

»Ist doch prima«, tönte es erneut aus meinem Handy.

»Gisela, gibt es Badeanzüge mit eingebautem Miederhöschen?«

»Teddy –«

»Oder eingebauten Miederhöschen. Eines wird nicht reichen.«

»- das –«

»Welche Diät hilft am schnellsten?«

»- wirst –«

»Ich brauch eine Schönheits-OP!«

»- du –«

»Es gibt so Bademiederhöschen, ich hab das mal im Fernsehen gesehen.«

»- gefälligst –«

»Oder diese Baderöcke. Gibt’s da auch welche bis zu den Knöcheln?«

»- bleiben –«

»Ich werde nichts mehr essen. Nichts mehr essen.«

»- lassen.«

»Was hast du gesagt?«

Gisela schnaufte. »Teufel, Teufel. Wenn du dir einen Mann angeln willst, für immer angeln willst, dann vergiss Diäten und Miederhöschen. Es sei denn, du hast vor, dich dein Leben lang zu kasteien. Was doch relativ schade wäre, oder? Also, wenn du es mit Sigi ernst meinst, dann bring ihn dazu, dich so zu mögen, wie du jetzt bist.«

Ich drehte den Rücken zum Spiegel und versuchte, einen Blick auf meinen Hintern zu erhaschen. Das ging leichter, als mir lieb war, da ich momentan ausschließlich aus Hintern zu bestehen schien. »Gisela«, fiepste ich, »niemand kann mich so mögen, wie ich bin. Ich mag mich ja nicht mal selbst.«

»Ha, siehst du«, kam es triumphierend aus dem Handy. »Und genau da müssen wir ansetzen.«

Miedler, Nora's books