Aschenpummel (German Edition)

chapter 1


Mein Leben war ein Phänomen, denn ich hatte einfach alles. Einfach alles, was eine Frau nicht brauchen konnte.

Ich hatte eine Schwester mit Doktortitel und Miss-Universum-Körper, eine Mutter mit Verfolgungswahn und sadistischer Ader, einen mies bezahlten Job in einem verschwindend kleinen Schuhladen, und jede kulinarische Sünde sichtbar verewigt an den falschen Stellen meines Körpers.

Außerdem hatte ich Liebeskummer. Und die herausragende Gabe, sämtliche Fettnäpfchen in meiner Umgebung aufzuspüren, um mich darin zu wälzen.

Und dann hatte ich noch etwas. Es war winzig klein, ging aber trotzdem nie verloren – obwohl ich ansonsten eine Meisterin im Verlieren war. Doch dieses Kinkerlitzchen wurde ich einfach nicht los, und so wie die Dinge standen, würde es mir noch im Tod die Treue halten.

Ich sah die Szene schon vor mir:

Meine kalte Leiche auf dem Tisch. Darüber gebeugt zwei Pathologen. Der eine: »Immer diese Hundertjährigen. Da bleibt man beim Untersuchen in jeder Falte hängen.«

Der andere: »O mein Gott, du wirst nicht glauben, an was ich jetzt hängen geblieben bin. An ihrem Jungfernhäutchen!«

Der eine: »War sie Nonne?«

Der andere: »Nö, die war einfach nur hässlich.«

Okay, vielleicht war das übertrieben. Wahrscheinlich würde ein einziger Pathologe reichen, um mich zu untersuchen. Es sei denn, Mama beschloss, mein Ende ein paar Jahrzehnte vorzuverlegen und mich am Sonntag zu ermorden, bei Mord müssen sicher zwei ran. Grund genug hätte sie. Bei dem Gedanken brach ich in Schweiß aus. Aber ich durfte nicht schwitzen! Ich musste bildschön oder zumindest trocken aussehen, denn in zehn Minuten würde ich hinüber ins Buchgeschäft gehen und meinem Traummann gegenüberstehen.

Höchste Zeit, den Laden dichtzumachen. Ächzend bückte ich mich und sammelte acht Paar Sportschuhe, Größe 27, ein. Weiße mit blauen Blümchen, silberne mit Glitzerstreifen, rote mit gelben Sternen, der Rest in fünf verschiedenen Rosaschattierungen. Und trotzdem hatte die kleine Melli wie stets nur die Nase gerümpft und ihr Schokoladeneis auf meinem Hocker verteilt. »Ich will aba Prinzessinnenportsuhe!«

Wie sollten die aussehen? Mit Stöckel drunter und Krönchen drauf?

Ich balancierte die Schuhschachteln hinter den Vorhang und pfefferte sie ins erstbeste Regal, in dem noch Platz war. Das machte ich immer so. Bonnie-Denise zuliebe. Sie war ganz versessen aufs Ordnen und Schichten.

Ein letzter Blick in den Spiegel. Nicht gut. Ich sah absolut scheiße aus, mehr noch als sonst. Ich nahm die Brille ab und beugte mich so weit vor, dass ich mit der Nase gegen den Spiegel stieß. Einmal dem Piraten so nahe sein … Ich setzte die Brille wieder auf und rubbelte mit den Händen über meine Wangen, um wenigstens dort ein bisschen Farbe zu bekommen. Es war Ende August, Ende eines Jahrhundertsommers, und ich war weißer als der weiße Hai, fast so schlimm wie in den Wintermonaten, in denen ich weißer war als das kleine Gespenst.

»Keine Farbpigmente, das Kind, fast ein Albino«, hatte meine Mutter jahrelang jedem, der nicht schnell genug war, zugeflüstert. »Ich hab doch braune Haare und braune Augen«, hatte ich aufbegehrt, woraufhin mir Mama einen Blick zuwarf, der zwischen »Was weißt du schon?« und »Wer weiß, wie lange noch!« lag.

Ich reckte das Kinn hoch. Mein Hals immerhin hatte Farbe. Aber leider nicht die gute Sorte: rote, kreisrunde Flecken, die sich auf den Wangen sicher ganz reizend ausgenommen hätten, überall anders aber nach Ausschlag aussahen. Ich schnappte mir eines von den Seidentüchern, die wir verkauften, und wickelte es mir um den Hals. Ich dachte sogar daran, es so zu knoten, dass das Preisschild zwischen Hals und Tuch verschwand. Das olivfarbene Leinenkleid, das ich trug, hing wie ein Sack an mir herunter – und trotzdem zeichneten sich die Schenkel links und rechts als Beulen ab. Ich kramte das Reservemiederhöschen aus meinem Rucksack und quetschte meine Hüften hinein.

Zwei juckende Miederhöschen übereinander. Das war ich. Teddy Kis.

Auf dem Weg zum Mann meiner Träume. Zum Piraten.

Vor vier Monaten war er mit all seinen Büchern in den Laden nebenan eingezogen. Er hatte in bunten Lettern die Worte Libri Liberi auf ein Schild gemalt und saß seither wochentags von zehn bis neunzehn Uhr zwischen den ganzen abgegriffenen Heften und Büchern und verkaufte sie für zwei Euro und weniger das Stück.

Jeden Abend kaufte ich bei ihm ein Buch. Ich ließ mir beim Aussuchen Zeit, erst, wenn ich die allerletzte Kundin war, ging ich zur Kassa. Beim Zahlen sah ich ihn nie an – was natürlich unsinnig war, aber ich hatte nicht viel Vertrauen in mich, was das Unterdrücken von hysterischen Kicheranfällen betraf. Dafür drückte ich ihm den Schein so in die Hand, dass wir dabei Hautkontakt hatten. Ich zahlte immer mit einem Schein. Das Wechselgeld, das ich von ihm bekam, legte ich in der Nacht unter mein Kopfkissen. Und am nächsten Tag in den Schuhkarton, der unter meinem Bett stand. Um die achthundert Münzen lagen darin. Er war voll. Kein Platz mehr für weiteres Wechselgeld.

Das war aber nicht der Grund, warum der heutige Besuch beim Piraten der erbaulichste jemals werden musste. Der Grund war wie immer Mama. Und dass sie mir am Sonntag endgültig den Kopf abreißen würde. Und dass heute schon Freitag war!

»Mach dir keine Sorgen, Teddy. Ich beschütze dich. Kein Sonntag der Welt kann dir etwas anhaben, denn du bist eine schöne und starke Frau, die Frau meiner Träume, und ich werde dich auf Händen durch alle Widrigkeiten dieser Welt tragen. Ich liebe dich.«

Ich schloss die Augen. Wenn der Pirat diese Worte tatsächlich zu mir sagen würde, dann könnten mich wahrhaftig sämtliche Widrigkeiten an meinem Hintern lecken. Den Gedanken, dass die Widrigkeiten recht viel zum Lecken hätten, verdrängte ich rasch wieder. Stattdessen ließ ich den Piraten weitere Liebesworte flüstern: »Ich habe noch nie eine Frau wie dich gekannt, Teddy. Du bist einzigartig, und die Tatsache, dass du noch Single bist, muss bedeuten, dass alle anderen Männer auf dieser Welt blind sind.«

Als ich die Augen wieder öffnete, zeigte mir mein Spiegelbild erbarmungslos, dass die anderen Männer wohl eher nicht blind waren, wenn sie mich verschmähten, und dass ich außerdem wieder mal meinen Handrücken knutschte. Ich bückte mich, um den CD-Player auszuschalten, doch dann zog ich meinen ausgestreckten Finger zurück und richtete mich auf. Diesen Song konnte ich nicht unterbrechen. Er war mein Song.

»I traveled each and every highway …« Denn er gab mir das Gefühl, genauso zu leben zu dürfen, wie ich wollte, und am Ende einfach schmettern zu können: »Scheißegal! I did it my way!« Natürlich würde ich erst mal damit anfangen müssen, so zu leben, wie ich wollte, um am Ende meiner Tage mit vollem Anrecht mitsingen zu dürfen, aber in dem Text lag so viel Kraft und Selbstvertrauen, dass ich mich allein schon beim Zuhören stark, ja beinahe todesmutig fühlte.

Seit fünfzehn Jahren arbeitete ich hier, fast die Hälfte meines Lebens, und nie war auch nur ein Tag im Schuhladen vergangen, wo wir nicht vom Aufsperren bis zum Absperren Sinatra gehört hätten. Weil Hans, der ehemalige Besitzer des Schuh-Bi-Dubi-Du, »Ol’Blue Eyes« ja persönlich gekannt und verehrt hatte wie kein anderer. Und es erfüllte mich mit Stolz, seit Hans’ Tod vor drei Jahren persönlich dafür zu sorgen, dass die Tradition aufrechterhalten wurde. Auch wenn das einige Kämpfe mit Bonnie-Denise bedeutete, die viel lieber Katy Perry, oder »wenn schon so was Vorsintflutliches, dann wenigstens Shaggy«, gehört hätte.

Es war so weit. Ich schaltete den CD-Player ab, reckte das Kinn vor und straffte die Schultern. Ich würde jetzt da rübergehen und den Piraten mit meiner unwiderstehlichen Anziehungskraft umhauen. Das konnte doch nicht so schwer sein. Ich musste es nur schaffen, ein bisschen Liebreiz, Anmut und Stolz auszustrahlen. Ich würde es ganz einfach my way tun. Jawohl.


Ich schloss die Tür ab und sah Batman auf der anderen Straßenseite. Er gähnte. Als ich ihm zuwinkte, stand er auf und fing an, aufgeregt hin und her zu tänzeln. Ich signalisierte ihm, indem ich auf mein uhrloses Handgelenk deutete, dass ich heute leider keine Zeit für ihn hatte. Auf der Stelle nahm er wieder seinen Platz ein. Batman war der Einzige, der mich immer verstand.

Ich holte tief Luft, dreimal hintereinander, bis mir schwindelig wurde, dann marschierte ich los. Liebreizend und anmutig. My way. Es sind exakt zwölfeinhalb Schritte vom Schuh-Bi zum Libri Liberi. Ich wusste nicht warum, aber ich zählte sie jedes Mal. Und heute, wo es besonders wichtig war, zählte und ging ich mit geschlossenen Augen. Zehn, elf, zwölf, zwölfeinhalb.

Ich fand es wahnsinnig romantisch, dass ich den Weg so gut kannte, dass ich ihn sogar blind fand, blind nach der Türklinke greifen konnte … ich fasste ins Leere, denn die Türe war bereits geöffnet. Ich stolperte die kleine Stufe ins Geschäft und riss in meiner Panik beinahe den erstbesten Bücherständer um. Das Ganze verursachte einen unglaublichen Lärm, Quietschen meinerseits inklusive.

Der Pirat saß hinter seinem Schreibtisch und sah mich an.

»Oh«, sagte er. Und dann: »Guten Abend.«

»Guten Abend«, flüsterte ich, ließ den Ständer los und verschwand hinter einem Regal. Dort biss ich mir erst einmal auf alle zehn Fingernägel zugleich. So lange bis mir klar wurde, dass das Geräusch, das meine Zähne dabei machten, in dem kleinen Laden widerhallte wie ein Lachanfall in der Kirche. Ich zog die Finger aus meinem Mund und blickte mich vorsichtig um. Niemand sonst war zu sehen, der Pirat und ich waren alleine. Verdammt, Teddy! Liebreizend und anmutig? Shiti!

Doch ich ermahnte mich sofort, wieder Haltung anzunehmen, schließlich kann auch die anmutigste Frau mal ein kleines bisschen ins Stolpern geraten. Jetzt war es an der Zeit, mich auf mein eigentliches Ziel zu konzentrieren: endlich den Piraten zu verführen.

Abgesehen von ein paar Drehständern gab es nur drei lange Regale im Libri Liberi. Es war mir schleierhaft, wie der Pirat von seinen Einnahmen leben konnte, aber gleichzeitig fand ich die Vorstellung, dass er ein völlig armer Schlucker war, irrsinnig romantisch. Die Reihenfolge der Bücher in den Regalen kannte ich in- und auswendig. Jeden Abend hätte ich ganz genau sagen können, welche fehlten und welche neu dazugekommen waren. Zu den Ständern ging ich nie – zu exponiert. Auch zwei Miederhöschen bewirkten keine Wunder.

Ich blieb also auch jetzt hinter meinem Regal. Zog ein paar Bücher heraus und stellte sie wieder hinein. Dann zog ich die nächsten heraus. Ein kleines bisschen gleichmäßigen Lärm machen, das war gut, um keine peinliche Stille entstehen zu lassen. Ich schob einen Gebrüder-Grimm-Sammelband zurück ins Regal und behielt einen Duden in der Hand. Ganz vorsichtig bewegte ich mich an den Rand des Regals. Ich streckte den Kopf vor und lugte in Richtung Schreibtisch. Der Pirat hielt den Blick gesenkt und las in einem vergilbten Heft.

Sein schwarzes Haar schimmerte. Er sah so schön aus, dass es wehtat. Alles, alles würde ich für ihn tun. Sein rechter Zeigefinger schob sich unter die Augenklappe. Ich schluckte. Prinz Charles fiel mir ein, der einst Camillas Tampon hatte sein wollen. Die Welt hatte das komisch gefunden, doch ich verstand ihn – oh, könnte ich nur die Augenklappe des Piraten sein …

Ich sank hinter das Regal zurück. Wenn nur heute nicht schon Freitag wäre. Wenn nur in zwei Tagen nicht schon wieder Sonntag wäre. Wenn nur letzten Sonntag nicht die Sache mit dem Auto passiert wäre. Wenn Mama nur nicht Mama wäre und vor allem ich nicht ich! Ich konnte vor Kummer schon nicht mehr schlafen, die letzten Nächte hatte ich mich nur mehr im Bett gewälzt. Oder ich hatte dagelegen wie ein Käfer, der sich tot stellt, weil er weiß, dass er gefressen wird, sobald er sich rührt. Doch jede Nacht hatte mich der Gedanke getröstet, dass ich den Piraten am nächsten Tag wiedersehen würde.

Aber heute war das anders. Heute war Freitag. Und samstags hatte das Libri Liberi geschlossen. Ich lehnte mich mit dem Rücken gegen das Regal. Die Angst vor Mama trieb mir die Tränen in die Augen. Die Kehle tat mir weh, so sehr musste ich plötzlich ein Schluchzen unterdrücken. Rotz lief aus meiner Nase und bildete eine Blase unter dem linken Nasenloch. Unwillkürlich schnaufte ich, und es hallte so laut in dem stillen Raum wider, dass ich vor Schreck die Augen aufriss. Ich räusperte mich vernehmlich und schlug hektisch den Duden auf und geräuschvoll wieder zu.

Wenn ich das Wochenende überstehen sollte, dann brauchte ich jetzt ein Wunder. Unbedingt. Von mir aus auch nur ein ganz kleines. Oder, oder zumindest ein Zeichen, von irgendwoher ein Zeichen … bitte …

Der Duden! Ich blätterte ihn irgendwo auf, schloss die Augen und tippte blind mit dem Zeigefinger auf ein Wort. »Beatmen« stand da. Und »med: besondere Gasgemische in die Atemwege einführen«. O Gott, Gasgemische, was für Gasgemische? Ich sollte also sterben? Das war mein Zeichen? Das war eine Frechheit!

Ich hörte, wie der Pirat den Stuhl zurückschob. Er stand auf. Wollte, dass ich ging, damit er das Geschäft absperren konnte. Nein, nein, bitte noch nicht – halt! Jetzt hatte ich es! Nicht »Gasgemische«, »beatmen«, das war mein Zeichen! Also los! Ich wankte hinter dem Regal hervor, beide Hände aufs Herz gepresst. Aus meinem Mund drang ein schauerlicher Laut. Es klang erbärmlich, dilettantisch, doch es gab kein Zurück. Der Pirat stand hinter dem Schreibtisch und starrte mich mit seinem einen Auge an.

»Aaaaaaaahhh«, machte ich gequält, kniff die Augen zu, knickte in den Knien ein, vollführte eine halbe Drehung und ließ mich auf den Hintern und schließlich auf den Kopf fallen. Es war dermaßen peinlich, dass ich mich fast darüber freute, wie weh das tat.

»Frau Kis!« Beinahe hätte ich die Augen wieder aufgerissen. Er wusste meinen Namen. Er – wusste – meinen – Namen!

Die Hand, die meine nahm, war kühl. Ich fühlte ein Streicheln auf der Wange. Oh Shiti, ich hatte vergessen, die Luft anzuhalten. Jemanden, der wie eine Dampflok schnauft, braucht man nicht zu beatmen. Mit flatternden Lidern öffnete ich die Augen. Er war über mich gebeugt. Er sah wunderschön aus.

Ich musste was sagen. »Gasgemische«, flüsterte ich.

Miedler, Nora's books