chapter 6
Ich war Maria aus der West Side Story. Doch halt, wahrscheinlich war genau das das Problem. Nicht die scheue, gute Maria sollte ich sein, sondern ihre Schwägerin, die feurige Rita. Ich flip-flopte durch die U-Bahnstation, den Kopf hocherhoben, die Lippen geschürzt. Mein Herz klopfte zum Zerspringen, aber das sah ja keiner.
Es war ein völlig neues Erlebnis für mich, spätabends mit der U-Bahn zu fahren. Samstag, zweiundzwanzig Uhr. Um die Zeit schlief ich normalerweise vor dem Fernseher ein. Alle anderen anscheinend nicht. Die U-Bahn war gerammelt voll, und neben den ganzen Tussis, die sich fürs Ausgehen schick gemacht hatten, kam ich mir plötzlich fürchterlich unscheinbar vor. Trotz rotem Oberteil und roten Lippen. Außerdem hatte ich das Gefühl, mein Jungfernhäutchen mitten im Gesicht zu tragen. Ich reckte die Mäusefäustchen nach vorne. Ach, hätte ich bloß die Haare noch höher auftoupiert.
Am Naschmarkt stieg ich aus. Zwischen fünfzig anderen Leuten. Wie immer spürte ich mein Aufregungsbauchweh, und das, obwohl ich noch einige hundert Meter bis zur Wohnung des Piraten zurückzulegen hatte. Seine Adresse hatte ich – genau wie seine Telefonnummer – ein einziges Mal, und zwar vor vier Monaten, nachgeschlagen, und ich wusste, dass ich sie nie, nie würde vergessen können. Doch begegnet war ich ihm hier noch nicht. Auch wenn ich mir jedes Mal sicher gewesen war, dass es aber diesmal wirklich passieren würde.
Vor Nummer 106 blieb ich stehen. Sollte ich irgendwo klingeln und so versuchen ins Haus zu gelangen? Drin gewesen war ich bisher nie. Von hinten hörte ich Schritte. Ich fuhr herum und sah einen jungen Mann auf mich zukommen. Beflissen machte ich ihm Platz, damit er die Tür aufsperren konnte, zum Mithineingehen war ich allerdings zu lahm. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss. Blöd. Das wäre die Chance gewesen. Voll verbockt.
Unverrichteter Dinge wieder heimfahren und die ganze Nacht voller Panik wach liegen und auf morgen warten, war so ziemlich das Letzte, worauf ich Lust hatte. Ich guckte nach oben zu den Fenstern. Ein Zeichen, bitte, ein Zeichen. Von oben kam nichts. Hmm … ich blickte auf die andere Straßenseite. Das Einzige, was dort ins Auge stach, war ein beleuchtetes Schild, auf dem das Wort »Einrahmen« stand. Der lauten Musik und den Silhouetten hinter den Fenstern nach zu urteilen, handelte es sich dabei um ein Lokal.
War das mein Zeichen? Der Pirat wohnte direkt gegenüber, wahrscheinlich war er schon mal in dem Lokal gewesen, oder? Vielleicht war er ja sogar jetzt gerade drin. Aber ich in einem Nachtlokal? In einer Bar? Wurscht. Energisch schritt ich über die Straße. Ich zog die Tür vom Einrahmen auf, bevor die Feigheit Zeit hatte, mich einzuholen. Sollten sie mich doch alle angaffen, wenn ich eintrat. Sollten sie mit dem Finger auf mich zeigen, mich beleidigen und auslachen, ich würde mit erhobenem Kopf und geradem Rücken an ihnen vorbeimarschieren. Ich, die Braut des Piraten.
Und dann stand ich im Einrahmen. Keiner würdigte mich eines Blickes. Direkt vor mir rieb eine junge Frau ihren dünnen Körper an einem Mann, dessen Haare bis zum Hintern reichten. Es war volles, glänzendes Haar, und ich hätte sofort mit ihm getauscht. Die Dünne rief mir irgendetwas zu, das ich aber nicht verstehen konnte, weil die Musik viel zu laut war. Eifrig beugte ich mich zu ihr. Sie wiederholte ihren Satz, irgendwas mit »eilig« und »bitte«. Ich signalisierte ihr, dass ich noch immer nicht verstanden hatte, und hielt ihr mein Ohr hin. Daraufhin bündelte sie alle Kräfte, die ihr dürrer Körper aufbringen konnte, in ihre Stimme und brüllte mich an: »Ich sagte, geil dich bitte woanders auf!«
Ich zuckte zurück. Es kam mir gar nicht in den Sinn, mich zu verteidigen, was hätte ich auch sagen sollen – dass ich auf die Haare von ihrem Freund neidisch war? Ich wollte einfach nur weg von den beiden. Ich zwängte mich durch die vielen Menschen nach hinten, dorthin, wo ich Tische vermutete. Irgendwo alleine sitzen und den Kopf in die Speisekarte stecken. Tische fand ich schon, allerdings nur diese hohen, zum Stehen. An der Bar war ein Hocker frei, ziemlich in der Mitte.
Ich hatte noch nie zuvor an einer Bar gesessen, und eigentlich wäre ich in diesem Moment lieber gestorben als mich dort niederzulassen. Doch wie, Teddy, wie willst du jemals etwas mit Mama oder dem Piraten oder sonst was ändern, wenn du nicht mal das schaffst? Wurscht, Teddy, wurscht. Ich drängte mich also nach vorne an die Theke und kletterte auf den Hocker, der anscheinend nichts anderes im Sinn hatte, als mich schnell wieder abzuwerfen. Er schwankte, und ich musste mich mit beiden Händen an der Bar festhalten, um nicht umzukippen.
Ich nahm mir ein paar Erdnüsse aus dem Schälchen, das vor mir stand, und überlegte grade, wie riesig wohl mein Hintern auf dem Hocker aussehen mochte, da bewegte sich auch schon der Barkeeper auf mich zu.
»Was bekommst du?«, brüllte er.
»Eine Cola Light!«, brüllte ich zurück.
Er wackelte mit dem Zeigefinger. »Keine Limonaden!«
»Aha! Was denn dann?«
Von irgendwoher zauberte er eine Karte herbei, und ich betete darum, dass ich was Essbares drin finden würde.
Nichts. Nicht mal einen Schinken-Käse-Toast und dabei hatte ich mal gehört, dass es in jedem Lokal zumindest Schinken-Käse-Toasts gab. Keine Limonaden. Einen Espresso könnte ich nehmen. Oder ein Mineralwasser.
Oder Alkohol.
Ich spähte nach links und rechts, warf sogar einen Blick hinter mich. Keine Tissi da und keine Mama. Natürlich nicht, warum sollten sie auch. Doch mir war, als würde ich ihr Kommen quasi heraufbeschwören, wenn ich nur daran dachte, mir Alkohol zu bestellen. Mama würde mich vierteilen lassen. Ich ging die Cocktails auf der Karte durch. Meine Wahl fiel auf den Long Island Ice Tea, weil ich gerne Eistee trank und ich mir vorstellte, dass in einem solchen Getränk nicht viel Alkohol sein würde.
»Einen Long Island Ice Tea, bitte!«, brüllte ich den Barkeeper an, der neben seinem Ohr einen silbernen Becher schüttelte. Wie im Fernsehen. Dass es so was in Wirklichkeit gab? Ich musste grinsen.
Der Drink kam und ich nahm gleich einmal drei große Schlucke durch den Strohhalm. Langsam fühlte ich mich hier richtig wohl. Ich fand, dass ich durchaus öfter in Bars gehen sollte. Leutselig betrachtete ich meine Sitznachbarn. Links von mir thronte eine vollbusige Blondine, die an einem Getränk nippte, das nur aus Eiswürfeln und grünen Blättern zu bestehen schien. Rechts von mir saß ein etwa vierzigjähriger Mann mit Halbglatze und Anzug, in dessen Glas eine Olive schwamm.
Ich wandte mich nach links. »Was bedeutet eigentlich Einrahmen?« Die Blondine stutzte für einen Moment, dann nahm sie eine Zigarette aus ihrer Handtasche und zündete sie an. Ich nahm einen langen Schluck von meinem Ice Tea und wandte mich nach rechts.
»Na, sehr gesprächig sind die Frauen hier drin ja nicht gerade«, sagte ich zu Halbglatze und stupste ihn mit meinem Ellenbogen an. Er sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Dann beugte er sich zu mir rüber und flüsterte: »Tauschst du den Platz mit mir?« Ich wusste zwar nicht, was das bringen sollte, aber ich wollte mir gern Freunde machen, also tauschte ich. Ab da bekam ich nur noch Halbglatzes Rücken zu sehen, seine Augen steckten im Ausschnitt der Blondine.
Ich trank einen weiteren großen Schluck. Die Welt war plötzlich eine viel schönere. Alles war so … so easy, so einfach, so groovy. Wozu sich ständig den Kopf zerbrechen? Der Ice Tea machte die Sache mit dem »wurscht« um so vieles leichter.
»Jetzt werd ich mal für kleine Mädchen«, murmelte ich vor mich hin. Dem Rücken von Halbglatze drohte ich: »Dass mir nur ja keiner meinen Ice Tea wegtrinkt.« Mann, ich war so mitten drin im Geschehen, es machte so Spaß dazuzugehören.
Allerdings dauerte es einige Zeit, bis ich das Klo fand, und als ich endlich auf der Muschel saß, war mir so schwindelig, dass ich mich links und rechts an der Wand abstützen musste, um nicht runterzufallen. Mir war schlecht, und gleich nachdem ich meine Blase entleert hatte, entleerte sich auch mein Magen. Spaghetti, Erdbeereis, Long Island Ice Tea. Und dazwischen schwarze Pünktchen. Der Mohn. Ich kotzte gleich nochmal. Mama hatte recht, Alkohol war Teufelszeug.
Von draußen hämmerte es an die Klotür. »Komm endlich raus, andere müssen auch mal!«
»Ja«, stöhnte ich und würgte wieder.
»Andere müssen auch mal!«
»Ja doch!«
»Andere müssen auch mal!«
»Ja«, kreischte ich. Dann riss ich die Tür auf. Zwei Mädchen, die allerhöchstens vierzehn sein konnten, drängten sich an mir vorbei in die Kabine. »Igitt«, sagte die eine, während die andere kicherte.
»Maul halten, Tussies«, fuhr ich die beiden an. »Geht doch heim zu eurer Mami.«
Ich stieß die Tür zum Lokal auf und walzte mir meinen Weg durch die Menge. Ich war so wütend. Jemand boxte mich in die Seite. Ich fuhr herum und starrte in die Augen von irgend so einem Bodybuilder. »Was?«, brüllte ich angriffslustig. »Was willst du von mir? Mich blöd anlabern? Einen auf dicke Hose machen? Mich umbringen?«
Seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen. Ich duckte mich und floh in Richtung Ausgang. Eine Kellnerin packte mich an der Schulter.
»Zahlen!«
»Jaaaaa«, machte ich und stolperte zurück zur Bar. Dort schüttete ich mir das ganze Schälchen Erdnüsse in den Mund. »Zahlen«, blaffte ich den Barkeeper an. Auf meinem Hocker saß eine schwarzhaarige Schönheit.
»Du weißt schon, dass das mein Platz ist, oder?« Sie reagierte nicht, also wurde ich noch lauter: »Du hast dich einfach auf meinen Platz gesetzt!«
Sie lachte. Da stieß ich sie runter. Im nächsten Moment stand ich auf der Straße, und der Bodybuilder raunte mir zu: »Lass dich hier nie wieder blicken. Alkoholikerin!«
»Ha!«, machte ich. »Ich hab in meinem Leben noch nie was getrunken, du Arsch!«
Er zuckte nur die Schultern und verschwand im Einrahmen. »Ja, du Arsch, verzieh dich zu deiner Freundin! Du feiger Arsch!«, brüllte ich ihm nach.
In dem Moment sah ich den Piraten.
Er war gerade um die Ecke gebogen und kam direkt auf mich zu. Es fühlte sich an, als müssten mir gleich die Augen rausfallen, so weit riss ich sie auf. Das war mein Zeichen. In der größten Not, im tiefsten Schmerz, als Entrechtete, die von der Gesellschaft gemieden und von der Gemeinschaft verstoßen war, kam mein Licht, meine Rettung … ausgerechnet in Gestalt des Piraten. Wieder wurde mir schwindlig, diesmal vor Romantik, und ich musste mich gegen die Hausmauer lehnen. Heiße Tränen der Dankbarkeit stiegen mir in die Augen – und versiegten, als der Pirat einfach an mir vorbeiging.
Es war tatsächlich so. Keinen halben Meter von mir entfernt marschierte er an mir vorbei, dann überquerte er die Straße und steuerte direkt auf sein Haus zu. Er hatte mich nicht gesehen! Das konnte doch nicht wahr sein!
Ich sah, wie er das Schloss aufsperrte. Halt! Halt! Der konnte doch nicht einfach … mach was, Teddy!
»Halt!«, schrie ich und rannte über die Straße.
Er drehte sich um. »Oh«, sagte er.
»Ja«, antwortete ich.
7
Es gibt Situationen, in denen selbst redselige Menschen verstummen. Dies war so eine, und der Pirat und ich, die wir beide eher generell auf den Mund gefallen waren, schwiegen uns minutenlang an. Das war der Moment, in dem ich mir wünschte, ich hätte zwei Long Island Ice Teas getrunken. Oder mir zumindest nach dem Kotzen und den Erdnüssen einen Kaugummi in den Mund gesteckt.
Und es war der Moment, von dem ich wusste, dass er unsagbar wichtig für meine gemeinsame Zukunft mit dem Piraten sein würde. Was ich jetzt sagte, könnte den Ausschlag zum Wunder geben. Oder zur Tragödie.
»Ich wollte nur wissen, ob Sie am Montag wieder geöffnet haben.« Goooott, was für eine Tragödie!
»Ja«, sagte er.
»Aha«, machte ich. Und fügte gleich noch souverän hinzu: »Gut.«
»Ja.«
Er spielte mit seinem Schlüsselbund herum. Bitte nicht gehen, bitte nicht gehen, bitte nicht –
»Ich …«, begann ich in meiner Not, »ich hab nämlich gestern ein Buch bei Ihnen gesehen, eine … eine ganz alte Ausgabe von Jane Eyre und ich wollte sie kaufen, aber … naja, mein Schwächeanfall …«
»Ja.« Er nickte. Und dann, als würde ihm plötzlich etwas einfallen, fragte er: »Und wie geht es Ihnen heute?«
»Guuuut«, log ich. »Sehr, sehr gut.« Mit dem Zeigefinger deutete ich auf die andere Straßenseite. »Ich war was trinken, mit ein paar Freunden, da im, äh … Einrahmen. Nettes Lokal, Long Island Ice Tea und so …«
»Ich bin auch manchmal dort«, sagte er. »Aber bis jetzt war ich immer alleine da.«
Mein Herz sackte ab, rutschte durch meinen Bauch, mein Becken, dann teilte es sich und landete in zwei Hälften in meinen Füßen. Er war einsam. Ein Schauer lief über meinen Rücken. Es war wie eine Offenbarung. Es war, als hätte Gott die Liebe nur aus diesem einzigen Grund geschaffen. Für den Piraten und mich.
Der Pirat räusperte sich. »Mit meinen Freunden treffe ich mich immer innerstädtisch.«
»Mmhm«, antwortete ich und fragte mich, ob sich mein Herz wohl jemals wieder zusammensetzen ließ.
»Wegen Jane Eyre –«, sagte er plötzlich, »wenn Sie es gleich haben möchten, dann können wir jetzt ins Geschäft fahren.«
Es gab zwei Männer, mit denen ich bisher einen Samstagabend verbracht hatte. Der eine war der Trafikant vom Franz-Josefs-Bahnhof gewesen und der andere mein Englischlehrer in der sechsten Klasse. Ersterer hatte mich nach getaner Kussarbeit angewiesen, für ihn ein Päckchen aus dem Cleopatra ein paar Gassen weiter zu holen. Ich ging alleine hin, es war ein kalter Februarabend und mein Mund fühlte sich vollkommen anders an als sonst. Zum ersten Mal schmeckte ich einen zweiten Menschen, und auch, wenn der Trafikant nicht genau meiner Vorstellung vom Traummann entsprach, so war ich doch einundzwanzig und endlich, endlich geküsst worden. Das Cleopatra war menschenleer; es waren Katzen, die anscheinend die Herrschaft dort übernommen hatten. Auf jeder Bank, auf jedem Stuhl lag eine Katze. Und die größte von ihnen, eine getigerte, lag sogar auf dem Tisch.
»Grüß Gott?«, fragte ich vorsichtig. Doch nicht mal ein Miauen bekam ich als Antwort. Ich räusperte mich, räusperte mir Mut zu, dann wiederholte ich, diesmal lauter: »Grüß Gott?«
»Wer bist du?«
Ich fuhr herum, sah niemanden, nur noch mehr Katzen. »Ich … ich bin die Teddy, ich komme vom … Trafikant –«
»Nimm’s dir, liegt hier auf der Theke. Sag ihm, das nächste Mal will ich Bares sehen.«
»Sag ich ihm«, flüsterte ich, griff nach einem kleinen weißen Päckchen auf der Theke und stolperte im Hinausrennen über zwei Katzen.
Die Ware lieferte ich brav ab, mein Kusspartner jedoch würdigte mich keines Blickes. Ich versuchte, ihm die Geschichte mit den Katzen witzig zu verkaufen, ich wollte doch, dass er mich mochte, dachte, dass er mein fester Freund sein würde, doch er hatte nur Augen für das Päckchen, und als ich das nächste Mal Briefmarken bei ihm kaufte, tat er so, als würde er mich zum ersten Mal sehen.
Den Englischlehrer hatte ich, als ich sechzehn war. Er sah aus wie Morten Harket von Aha, und ich schmuste jede Nacht mein Kopfkissen ab und stellte mir vor, es wäre er.
Als ich achtzehn war, schon längst die Schule geschmissen hatte und bei Hans im Schuh-Bi arbeitete, erwischte ich Englisch-Morten mit Tissi in ihrem Zimmer. Und so traurig ich darüber auch war, ein wenig fühlte ich mich doch geschmeichelt, schließlich hatten Tissi und ich dieselben Eltern, war es da nicht fast so, als hätte Englisch-Morten auch ein bisschen mich geküsst? Danach aßen wir zu dritt eine Schinkenkäsepizza, es war ein Samstagabend und ich verbrachte bestimmt eine volle Stunde in seiner Gesellschaft.
Zwei Samstagabende, zwei Männer. Doch U-Bahn gefahren war ich mit keinem von beiden.
Die U-Bahnstation Karlsplatz besitzt eine Besonderheit. Sie stinkt nach Kotze. Und zwar immer. Normalerweise ist mir das egal, aber in dieser Nacht mit dem Piraten war es mir schrecklich unangenehm. Noch dazu, wo ich mich keine zwanzig Minuten zuvor selbst übergeben hatte. Ich bildete mir plötzlich ein, dass es heute schlimmer war als sonst, und fürchtete, dass der Pirat meinen könnte, der Gestank käme von mir.
Also sagte ich: »Puh, hier riecht es auch immer …« Nicht mal das Wort »stinken« konnte ich vor ihm in den Mund nehmen.
»Buttersäure«, sagte der Pirat, während er weiter geradeaus starrte.
»Buttersäure«, wiederholte ich. Dieses Gespräch quoll nicht gerade über vor Romantik.
Die U-Bahn kam, und wir setzten uns gegenüber voneinander auf einen Vierersitz. Bei jedem Rumpeln, das die U-Bahn machte, wackelten wir im Gleichtakt hin und her. Es war einerseits betörend, so im Einklang miteinander zu sein, andererseits war es seltsam, den Piraten von so etwas Gewöhnlichem wie einer U-Bahn beeinflusst zu sehen. Fast, als wäre er ein ganz normaler Mensch. Einer, der sich auch die Nägel schnitt und die Zähne putzte. Und sogar aufs Klo musste. Ich spürte, dass ich rot wurde.
Schwedenplatz, noch vier Stationen mit dieser Linie. Plötzlich hatte ich den Eindruck, dass der Pirat heute anders aussah als sonst. Er räusperte sich, ich blickte schnell zu Boden. War es ein gutes Zeichen, dass wir uns so lange anschwiegen? Hieß es denn nicht immer, es sei ganz wichtig, dass Paare auch miteinander schweigen können? Oder bedeutete es schlicht, dass wir uns nichts zu sagen hatten? Schottenring. Noch drei Stationen.
»Warum Buttersäure?«, fragte ich plötzlich. Wir mussten uns einfach was zu sagen haben. Der Pirat zuckte zusammen. Und ich kam mir vor wie eine Riesenwalze, die alles platt machte.
Er räusperte sich. »In den siebziger Jahren …«
Weiter kam er nicht, in dem Moment passierte das Unausweichliche. »Fahrscheinkontrolle.«
Fast hätte ich aufgeschrien. Mir wurde heiß, und ich bekam vor Schreck kaum Luft. Während der Pirat seinen Fahrausweis zückte, kramte ich hektisch in meiner Handtasche herum und murmelte in einem fort: »Wo ist er nur, wo hab ich ihn denn, wo ist er nur, wo hab ich ihn denn …« Natürlich hatte ich keinen Fahrausweis. »Hmm, ich hab auch einen Fahrausweis, aber anscheinend hab ich ihn heute leider vergessen.«
»Na, dann steig’ma aus. Flott.«
Aliens, bitte, bitte. Die U-Bahn hielt, und der Kontrolleur scheuchte uns auf den Bahnsteig: »Dalli dalli, die Herrschaften!«
Ich hätte weiß Gott was darum gegeben, einfach bewusstlos zu werden. Kurz spielte ich mit dem Gedanken, einen erneuten Schwächeanfall zu erleiden, doch dann würde am Ende jemand die Rettung rufen, und aus wär’s mit dem abendlichen Besuch im Buchgeschäft.
So standen also der Pirat und ich mit der diensteifrigen Obrigkeit auf dem Bahnsteig und ich musste meinen Namen, die Adresse und Telefonnummer sagen und meinen Ausweis vorzeigen. Das nächste Problem, ich hatte keinen Ausweis dabei.
»Ham’ Sie keinen Führerschein?«, fragte der Kontrolleur schon recht genervt.
Peng, genau ins Schwarze. »Natürlich hab ich einen Führerschein, ich fahre ja Auto, aber ich hab ihn eben nicht mit. Der ist in meiner zweiten Geldbörse, zusammen mit dem Fahrausweis.«
»Na, dann gemma halt auf die Polizeistation.«
Neineinein, keine Polizei. Wenn dort noch mal mein Führerschein zur Sprache käme … »Ich – schauen Sie, ich hab diese Mitgliedskarte von der Bibliothek …«
»Das, was wir brauchen, ist ein amtlicher Lichtbildausweis, meine Dame.«
Plötzlich mischte sich der Pirat ein. »Wo ist denn bitte das Problem? Sie hat Ihnen doch alle Daten genannt und auf der Mitgliedskarte steht ja wohl ihr Name, das müsste doch reichen.«
Natürlich reichte so etwas ohne Foto drauf nicht, ich hätte die Börse ja gestohlen haben können, aber der Schaffner schien allmählich die Nase voll von mir zu haben und die Geschichte beenden zu wollen.
Der Pirat rückte seine Augenklappe zurecht, woraufhin unser neuer Bekannter ihn angewidert betrachtete und meinte: »Ihr seid’s mir ein schönes Pärchen.«
Instinktiv ging ich in Verteidigungshaltung und schnauzte den Uniformierten an: »Haben Sie ein Problem mit uns?«
»Ich hab kein Problem, ich werd ja keine siebzig Euro zu bezahlen haben, falls ich doch keinen Fahrausweis besitze.« Er kritzelte noch etwas auf seinen Block und drückte mir dann einen Zettel in die Hand. »Melden. Dort. So bald wie möglich. Verstanden?«
Ich starrte ihn finster an, alle Sorgen wegen der Polizei und meines nicht existenten Führerscheins waren vergessen. Ich antwortete: »Werd ich. Machen. Verstanden.«
Der Pirat griff nach meinem Arm und zog mich fort. Ich erschauerte unter seiner Berührung. Wir fuhren mit der Rolltreppe nach oben, und ich kaufte einen Fahrschein am Automaten. Danach stiegen wir die Treppe hinunter und warteten auf die nächste U-Bahn.
Ich sah ihn an. »Es tut mir sehr leid, dass Sie wegen mir aussteigen mussten.«
Er schüttelte den Kopf. »Das macht doch nichts. Aber Sie sollten sich nicht mit Leuten anlegen, die am längeren Hebel sitzen.«
»Wieso nicht?«, brauste ich auf. Ich fühlte mich ungerecht behandelt. Der Umstand, dass ich in der Tat schwarzgefahren war, schien mir vernachlässigbar. Außerdem fand ich es befremdlich, dass der Pirat Auseinandersetzungen so sehr zu scheuen schien. Vollmundig behauptete ich: »Ich wehre mich immer, wenn es angebracht ist.«
Wieder schüttelte er den Kopf. »Irgendwann werden Sie das aufgeben.«
»Nie«, antwortete ich fest. »Es ist absolut wichtig, für seine Prinzipien zu kämpfen. Absolut, absolut, absolut wichtig.« Er sah mich merkwürdig an. Ich blickte herausfordernd zurück und fragte: »Finden Sie das nicht?«
Er senkte den Blick und starrte auf die Gleise. »Nicht mehr.«
Damit schien die Diskussion für ihn beendet. Er verfiel wieder in Schweigen, und ich hatte Zeit, mich mit dieser vollkommen neuen Seite auseinanderzusetzen, die ich gerade an mir entdeckt hatte.
Wir mussten einmal umsteigen, um an unser Ziel zu kommen. Die ganze Zeit über hielt ich den frisch erworbenen Fahrschein fest in der Hand, bereit, ihn dem nächsten Schaffner unaufgefordert unter die Nase zu halten. Es kam jedoch keiner. Der Pirat schwieg, als hätte er ein Gelübde abgelegt, von ihm kam lediglich ein kleines Nicken, wenn unsere Blicke sich zufällig trafen. Wieder dachte ich, dass irgendetwas heute Abend anders war an ihm.
Die Sieveringer Straße lag verlassen da. Aus den geöffneten Fenstern der Wohnhäuser drang gelegentliches Lachen. Irgendwo sang jemand »Fly me to the moon«.
»Das hätte dem Hans gefallen«, sagte ich und fügte ungefragt hinzu: »Der Hans, das war der Gründer vom Schuh-Bi-Dubi-Du. Er ist vor drei Jahren gestorben.«
Es dauerte eine Weile, bis der Pirat antwortete. »Aha«, sagte er schließlich. »Wollte der Hans auf den Mond fliegen?«
So viel Unwissen verschlug mir die Sprache. Natürlich, der Pirat hatte Hans ja nicht mehr gekannt, aber »die Story« – wie der Hans gesagt hätte – war doch wohl jedem in der Umgebung bekannt.
»Der Hans war der größte Frank-Sinatra-Fan aller Zeiten. Er hat ihn sogar mal getroffen, vor vierzig Jahren oder so, in New York. Da haben sie eine ganze Nacht zusammen durchgemacht, und Sinatra hat dem Hans ganz viele Originalsachen geschenkt. Platten, Noten, eine Ukulele, alles mit Autogramm drauf …«
»Ach«, jetzt lächelte der Pirat, »das ist ja eine wunderbare Geschichte.«
Ich nickte eifrig. »Ja, und bis vor ein paar Jahren hingen die Sachen auch alle im Schuh-Bi-Dubi-Du, aber kurz vor seinem Tod hat er sie abgenommen. Ich habe Nancy danach gefragt, aber sie tut so, als wüsste sie von nichts.«
»Nancy Sinatra?«
Ich kicherte. »Nein, Hans’ Tochter. Sie hat das Geschäft übernommen. Sie ist furchtbar. Und am liebsten würde sie das Schuh-Bi-Dubi-Du umbenennen.«
»In was denn umbenennen?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Aber sie darf eh nicht. Das hat Hans im Testament so festgelegt. Wäre ja auch blöd, wo der Name doch die Idee von Frank Sinatra höchstpersönlich war.«
Der Pirat blieb stehen. Selbst im Dunkeln sah ich sein linkes Auge leuchten. »Erzählen Sie«, bat er.
Ich war ebenfalls stehen geblieben. Der Wind wehte sanft und über uns schaukelte ein Zweig. Vielleicht ein Mistelzweig, dachte ich in einem Anflug von angelsächsischer Romantik.
»Also«, begann ich, »in dieser Nacht hat der Hans dem Frank Sinatra von seinem großen Traum erzählt, einmal ein eigenes Geschäft aufzumachen. Und weil er so betrunken war, hat er gemeint, es sei ihm ganz egal, welches Produkt er verkauft, wichtig sei einzig, dass sich der Name des Geschäfts von einem Sinatra-Song herleitet. Und dann haben die beiden überlegt, und Frank hat Hans alles Mögliche vorgeschlagen, aber ins Deutsche übersetzt hätte das alles keinen Sinn ergeben. Und irgendwann hat Frank gefragt, was ›Shoe‹ auf Deutsch heißt. Und der Hans hat gesagt, dass ›Shoe‹ einfach ›Schuh‹ heißt. Und dann hat Frank zu singen begonnen: ›Strangers in the night exchanching glances, wond’ring in the night, what were the chances, we’d be sharing love, before the night was throuououough, shoobie doobie doo lalalalala shoobie doobie doo hmhmhmhmhmhmmmmmm … Und deswegen verkaufen wir Schuhe im Schuh-Bi-Dubi-Du.«
Und noch während ich mir dazu gratulierte, dass ich es geschafft hatte, vor dem Piraten zu singen, einfach so zu singen, machte der Pirat etwas noch viel Erstaunlicheres: Er nahm meine linke Hand in seine und zog sie an sich. Mir brach der Schweiß aus. Und zwar vor allem in der linken Hand. Ich spürte, dass sie klitschnass war, und als der Pirat sie an sein Herz drückte, fühlte sich mein ganzer Körper an, als sei ich gerade einem Regenguss entkommen.
Er ließ mich los und streckte beide Arme in die Luft. »Frau Kis«, rief er, »ich danke Ihnen! Ich danke Ihnen von Herzen, Sie haben mir den Abend mit dieser wunderbaren Anekdote unendlich versüßt.«
O mein Gott, Pirat, dachte ich, heirate mich, heirate mich doch endlich. Ich will dich lieben und ehren, dir Geschichten erzählen, dir zu Füßen liegen, die Augenklappe polieren, dein – und da endlich wusste ich es. Wusste, was heute so vollkommen anders am Piraten war als all die Monate zuvor.
»Herr Nemeth«, entfuhr es mir. »Herr Nemeth, Ihre Augenklappe!«
Sofort tastete er nach ihr. Er wirkte verunsichert.
Ich gestikulierte vor seinem Gesicht herum. Das war doch nicht zu fassen. Der Pirat, dieser anbetungswürdige, hinreißende, göttliche Mensch, dieser Betrüger –
Ich zwang mich, das Fuchteln einzustellen, und stieß hervor: »Sie tragen die Augenklappe auf der falschen Seite.«
Er sah mich an, als würde er nicht ganz verstehen. »Es gibt keine falsche Seite.«
»Nicht? Pir-, ich meine, Herr Nemeth, Sie haben die Klappe sonst immer auf dem anderen Auge.«
Er lächelte. »Dass Ihnen das auffällt … ich wechsle alle halbe Jahr, sonst ist es zu viel Belastung für das eine Auge, während das andere verkümmert.«
»Aber warum …?«
»Wenn immer das gleiche Auge –«
»Nein, nein!«, rief ich. »Das hab ich schon kapiert. Ich meine, warum tragen Sie überhaupt die Klappe?«
Das Leuchten in dem für mich völlig neuen linken Auge erlosch. Der Pirat ging weiter, ich eilte ihm nach, und erst als er die Tür vom Libri Liberi aufsperrte, sagte er: »Frau Kis, bitte fragen Sie mich nicht mehr danach.«