Aschenpummel (German Edition)

chapter 5

Ich stieg bei der Nussdorfer Straße aus und marschierte die Stiegen zur Liechtensteinstraße hinunter. Beschwingt und entschlossen zugleich klackerten meine Sandalen bei jedem Schritt, und ich fühlte mich stark, mutig und – hübsch. Ja, hübsch.

Mein Auto war klein, rostig und irgendwann einmal grün gewesen. Ich ärgerte mich, als ich beim Aufsperren einen Adrenalinstoß verspürte. Mutige Menschen sollten nur dann unter Adrenalin stehen, wenn sie andere aus brennenden Häusern retten. Ich wusste, dass ich nicht lange darüber nachdenken durfte. Einfach anlassen, die Automatik auf D stellen, den Fuß aufs Gaspedal und los. Doch ein gelbes Auto vorne und ein rotes hinten bremsten mich aus, bevor ich überhaupt losfahren konnte. Ich war eingekeilt.

Acht Minuten brauchte ich, um aus der Parklücke zu kommen, zweimal stieß ich an das rote Auto an und einmal an das gelbe. Noch dazu wartete schon irgend so eine Riesenkiste auf meinen Parkplatz. Du Idiot, kannst du nicht weiterfahren, die Lücke ist sowieso viel zu klein für dich! Gott! Ich hasste nichts mehr auf der Welt, als beim Ausparken beobachtet zu werden, nur Einparken war noch schlimmer.

Als ich es endlich auf die Fahrbahn geschafft hatte, wusste ich nicht, wen ich zuerst totschlagen sollte, mich oder mein Auto. Ich war die verdammt noch mal arschschlechteste Ausparkerin der Welt!

Und die verdammte Schrottkarre hatte in diesen paar Minuten schon dermaßen viele verdächtige Geräusche von sich gegeben, dass ich eigentlich gar nicht mehr weiterfahren brauchte, um zu wissen, dass die paar Ruhetage ihm nicht geholfen hatten, seine Macken auf die Reihe zu kriegen! Ich trat das Gaspedal beinahe durch und mein Auto fuhr ganze dreißig. Shiiiiit! Ich hätte losbrüllen können.

Hinter mir hupte es. Die Riesenkiste. Ja, verdammt, wusst’ ich doch, dass du nicht in die Lücke passt, Arschloch! Ich kann nicht schneller, siehst du das nicht, es geht nicht! Die Kiste hupte noch einmal. Ich starrte in den Rückspiegel und gestikulierte wild nach hinten. Der Typ in dem Wagen gestikulierte zurück. Ich zeigte ihm den Mittelfinger, und um meinen Standpunkt wirklich deutlich zu machen, wackelte ich mit dem ganzen Arm auf und ab. Das Fett am Oberarm wackelte mit und ich wurde noch wütender. »Arschloooch!«, brüllte ich und bog in die nächstbeste Gasse rechts ein, um den Idioten loszuwerden. Er bog ebenfalls ab. Ich fluchte weiter und fuhr an den Straßenrand, er stellte sich hinter mich. Ich schnappte nach Luft. Scheiße, dieser Vollbimpf will sich mit mir anlegen. Na warte!

Herrlich, wie mutig Wut machen kann. Ich stieß meine Tür auf, sprang aus dem Fiat und – stand dem Zahnarzt gegenüber.

»Schönes Auto«, murmelte ich. Aliens, bitte kommen.

Er dirigierte mich auf den Gehsteig. Hatten wir das heute nicht schon mal? Seine Augen blickten ernst auf mich herab. Ja, Herr Doktor, ich leide sicher am Tourette-Syndrom, ja, lassen Sie mich einweisen. Ich wusste, ich sollte mich entschuldigen, war aber viel zu trotzig dazu, also blickte ich einfach genauso ernst zurück. Mein Mund war verkniffen, seiner hingegen zuckte plötzlich. Und dann lachte er laut auf. Natürlich hätte ich einfach mitlachen sollen, wie es sich im Zwischenmenschlichen so gehört. Doch ich konnte nicht, die Wut auf ihn und der Kummer wegen meines Autos und die Angst vor morgen lähmten mich. Trotzdem wollte ich dem Zahnarzt gefallen. Ich wollte jedem Mann gefallen. Also gab ich mir einen Ruck und kicherte so gut es ging mit. Er wischte sich die Lachtränen von den Wangen und sagte: »Sie haben ganz schön Feuer in sich.«

Das Kichern wurde von einem debilen Teenagergrinsen abgelöst. Himmelschimmel, der wird noch glauben, du bist total verknallt in ihn! Es war aber auch fies für eine Frau, die sonst nie von Männern bewundert wurde, ausgerechnet von so einem Mann ein Kompliment zu bekommen. Als würde ich nicht im Übungsbecken schwimmen lernen, sondern direkt im offenen Meer. Gleichzeitig ärgerte es mich, dass ich so gar keine Souveränität und anscheinend auch null Stolz besaß. Also versuchte ich, zum Trotzgefühl von vorhin zurückzufinden. »Es war aber auch nicht nett von Ihnen, so zu hupen. Mein Auto macht Probleme, wissen Sie.«

»Natürlich weiß ich das. Das hätte ja jeder Blinde gemerkt. Darum habe ich ja gehupt. Ich habe Sie beim Einsteigen gesehen, wusste also, dass Sie es waren, und habe Ihnen bedeutet, dass Sie rechts ranfahren sollen, damit ich mir Ihr gutes Stück ansehen kann.«

»Ach so«, hauchte ich. Das dumme Grinsen würde ich wohl nie mehr loswerden. Strohmann rieb sich die Hände. »Wenn ich Sie jetzt bitten dürfte, die Motorhaube zu öffnen.«

»Mmhm«, machte ich und ging voraus. Die Motorhaube war vorne, das wusste ich, denn hinten war ja der Kofferraum. Ich stellte mich also vor mein Auto und begann dort herumzufummeln, wo ich es für richtig hielt. Der Zahnarzt kam an meine Seite. Er nahm meine rechte Hand in seine und zog sie zu sich. Seine Haut fühlte sich rau und männlich an. Ich sah zu ihm hoch, und es war, als durchdringe sein Blick jede Pore meiner Haut. Fast hätte ich panisch an mir heruntergesehen, um mich davon zu überzeugen, dass ich noch angezogen war.

So fühlte es sich also an, wenn man im Begriff war, einen begehrenswerten Mann zu küssen. Mitten auf der Straße.

»Darf ich?«, fragte er sanft, und ich schluckte und nickte ergeben – ich würde den Piraten ja nicht betrügen, sondern nur ein bisschen für ihn üben –, dann schloss ich die Augen und öffnete leicht die Lippen. Der Zahnarzt nahm mir den Autoschlüssel ab, den ich in der rechten Hand gehalten hatte, ging zum Fiat und setzte sich auf den Fahrersitz.

Dort drückte er auf irgendeinen Zauberknopf, der mir bis dahin verborgen gewesen war, und im nächsten Moment klackte die Motorhaube einen Spalt weit auf. Er startete den Motor und ließ ihn einige Male aufheulen. Dann stieg er aus und öffnete die Haube zur Gänze.

Ich verzog mich auf den Gehsteig und lehnte mich an die Hausmauer, wobei ich versuchte, möglichst lässig auszusehen. Mein Herz klopfte zum Zerspringen. Während der nächsten Viertelstunde hatte ich genügend Zeit, den Zahnarzt zu beobachten. Er war mit Eifer bei der Sache, schien sich nicht daran zu stören, dass sein weißes Poloshirt schwarze Flecken bekam, und fluchte nur ganz leise, als er sich die Finger einklemmte.

Dunkelblonde Haarsträhnen hingen in seine Stirn, auf der mittlerweile Schweißtropfen standen. Ein Bild von einem Mann. Wenn einer mein Auto in Schuss kriegen konnte, dann er, davon war ich überzeugt. Der Mechaniker hatte gemeint, dass mein Fiat einfach ein alter, irreparabler Kübel sei. Ha, der hatte noch nicht Bekanntschaft mit dem Zahnarzt gemacht.

Zwei junge Mädchen mit sehr dünnen Beinen wackelten an mir vorbei, und als ich die Blicke sah, die sie auf Strohmann warfen, fühlte ich wieder diesen unvernünftigen Stolz in mir aufsteigen, den ich schon heute Vormittag in seiner Begleitung verspürt hatte. Ich wünschte, der Pirat würde vorbeikommen, meine Bekanntschaft mit dem Superstar müsste selbst auf ihn Eindruck machen.

»Frau Kis, ich fürchte, da ist nichts zu machen.«

»Nichts?«, wiederholte ich fassungslos. »Bitte, ich –«, doch diesen Satz konnte ich nicht beenden, was hätte ich denn sagen sollen? Dass ich mich zu Tode fürchtete? Vor Mama?

Doch Strohmann bemerkte offensichtlich meine Bestürzung. Er lehnte sich neben mich an die Hausmauer und sagte: »Schauen Sie, ich mache Ihnen einen Vorschlag: Ich habe einen alten Peugeot in meiner Garage stehen. Baujahr 98, hat nicht viele Kilometer drauf. Kein schlechtes Auto, guter Zustand, aber er verstellt mir den Platz, und ich wollte ihn ohnehin loswerden.«

Ich schüttelte den Kopf. Heftig. Nie würde ich mir dieses gute Auto mit den wenigen Kilometern leisten können. Und selbst wenn, wie sollte ich denn damit fahren?

Strohmann lächelte mich an. Er hatte diese wunderbare Angewohnheit, beim Lächeln die Augen sanft zuzudrücken, ganz kurz nur, doch es flößte sofort Vertrauen ein. »Ich schenke Ihnen den Wagen«, sagte er.

»Nein«, rief ich erschrocken. »Warum sollten Sie? Ich meine –«

»Warum nicht?«, konterte er. »Wie gesagt, der Peugeot verstellt mir den Platz. Außerdem habe ich weder Zeit noch Muße, seinen Verkauf zu inserieren oder sonstige Anstrengungen in dieser Angelegenheit zu unternehmen.« Er zuckte mit den Schultern und sah auf einmal fast schüchtern aus. Aber das bildete ich mir sicher nur ein. »Sie würden mir einen Gefallen tun, wenn Sie ihn annehmen.«

Warum machte er das? Was wollte er von mir? Ich musste ihm trotzdem Geld dafür anbieten. Zweitausend hatte ich auf der Seite. Wenn ich dazu noch die ganzen Münzen aus meinem Schuhkarton nehmen würde, dann käme ich auf –

»Er hat eine Gangschaltung, oder?«, platzte es plötzlich aus mir heraus. Ich hätte mich für meine Unverfrorenheit in den Hintern beißen können, aber was sollte ich machen, diese Frage war von existenzieller Wichtigkeit für mich.

»Er hat eine Gangschaltung, ja. Ist das ein Problem?«

»Es … es tut mir so leid, Sie sind so dermaßen nett zu mir und ich – es tut mir leid, die Sache ist nur die … ich kann mit Gangschaltung nicht fahren.«

»Ach, das verlernt man nicht, das ist wie Fahrrad fahren.«

Ich wollte ihn nicht zusätzlich schockieren und verschwieg, dass ich noch nie in meinem Leben auf einem Fahrrad gesessen hatte. »Ähm«, machte ich stattdessen, »ähm, ich bin seit meiner Führerscheinprüfung vor acht Jahren nur mehr mit Automatik gefahren.«

Da war es wieder, das Vertrauen erweckende Lächeln, der sanfte Lidschlag. »Das kriegen wir schon hin. Ein paar Fahrstunden bei mir, und Sie sind Formel-1-tauglich.«

Ich musste lachen. Verschämt senkte ich den Kopf. Dann fiel mir ein, dass Männer es mochten, wenn Frauen selbstbewusst waren, also hob ich den Kopf wieder und ging sogar so weit, beim Lachen zwei Reihen Mäusezähnchen zu zeigen. Strohmann stutzte, ich erinnerte mich an seine Profession und klappte sofort den Mund zu.

»Fahrstunden«, sagte ich schließlich.

»Ja«, antwortete er. »Genau das werden wir machen. Übrigens, ich bin der Hubertus.«

Nicht lachen, Teddy! »Ich bin die Teddy«, brachte ich stockend hervor.

Er rückte etwas näher und raunte: »Vertrauen Sie mir, Teddy. Ich bin ein guter Lehrer.«

Ich hatte keine Ahnung, ob er das beabsichtigt hatte, aber ich konnte auf einmal an nichts anderes denken als an die Lehren des Kamasutra.


Irgendwie schaffte ich es ins Auto. Der Fahrersitz war heiß, und obwohl ich wusste, dass die Sonne dafür verantwortlich war, spürte ich regelrecht den Gesäßabdruck des Zahnarztes unter mir. So bescheuert wie die paar hundert Meter nach Hause war ich in meinem ganzen Leben nicht gefahren. Ich dankte Gott dafür, dass noch kein Fahrlehrer neben mir saß. Ich verwechselte Brems- mit Gaspedal und vergaß bei beiden Gassen, die ich passierte, dass ich keine Vorfahrt hatte. Zum Abschluss brachte ich es fertig, mich in der fünf Meter langen Parklücke mit dem Vorderrad auf den Gehsteig zu stellen.

Mein Kopf wackelte vor Aufregung. Was wollte der Zahnarzt von mir? Ich hatte doch nichts. Ich war nicht reich, nicht schön, hatte weder berühmte Verwandte noch sonst was vorzuweisen. Doch irgendetwas an mir musste für ihn interessant sein.

Bestand die Möglichkeit, dass ich mich seit der letzten Nacht derart geändert hatte, dass mich plötzlich eine faszinierende Aura umgab? Etwas wahnsinnig Anziehendes, dem niemand widerstehen konnte? War ich durch den Beschluss, mein Leben von einer vollkommen neuen Seite anzugehen, zu einer Art Persönlichkeit geworden? Ich lachte leise vor mich hin und fand es seltsam, dass es wie ein Meckern klang. So sollte das Lachen von großen Persönlichkeiten nicht klingen.

Verwirrt und leicht euphorisch stieg ich die Wendeltreppe bis in den fünften Stock hinauf. Ich sperrte meine Wohnung auf und stellte mich gleich mal vor den Ganzkörperspiegel im Vorzimmer. Ich sah aus wie immer. Ich lachte noch einmal so wie vorhin, als ich mit dem Zahnarzt gesprochen hatte, und erstarrte.

In jeder erdenklichen Ritze zwischen meinen Zähnen pickte Mohn! Es sah aus, als hätte ich eine ganze Ameisenfamilie gefressen. O Gott, hatte ich ihm heute Morgen auch meine Zähne gezeigt? Ob er sich daran erinnerte? Bitte, bitte, er musste einfach wissen, dass schwarz zwischen den Zähnen nicht Standard bei mir war. Doch wie stark musste diese neue Aura um mich herum eigentlich sein, dass er sich nicht mal durch die Ameisenstückchen hatte abschrecken lassen?

Mit dem Fingernagel stocherte ich in den Ritzen herum. Anschließend saugte ich den angesammelten Mohn unter meinem Nagel zurück in den Mund. Irgendetwas sagte mir zwar, dass diese Vorgehensweise nicht ganz dem Bild der neuen Traumfrau Teddy entsprach, doch solange mich keiner dabei sah …

Natürlich war es dumm und naiv von mir, zu glauben, dass ich von einer Nacht auf die andere die Gabe erhalten hatte, die Menschen um mich herum zu verzaubern, natürlich, natürlich, natürlich. Aber was, um Gottes willen, hätte ich denn sonst denken sollen? Der Pirat war heute das erste Mal von sich aus zu mir gekommen. Vanessa wollte meine Freundin sein. Und der Zahnarzt schenkte mir ein Auto! Und sosehr ich mich auch bemühte, irgendwelche bösen Hintergedanken aus all diesen Aktionen herauszulesen, ich fand sie nicht.

Ich zog meinen Rock aus, fischte die Sporthose aus meinem Rucksack und quetschte mich hinein. Zwei überdimensionale, hellgraue Hühnerkeulen, das waren meine Schenkel in der Damen Running Dreiviertel Tights. Und so hatte der Pirat mich heute gesehen. Shiti. Was hatte dieses tolle Schicksal eigentlich noch an Zumutungen für mich parat?

Nachdem ich ja schon Mohnkuchen gefuttert hatte, war die Diät für heute wohl ohnehin gelaufen. Also nahm ich Gehacktes aus dem Kühlschrank, brutzelte es in der Pfanne an und goss eine große Dose geviertelte Tomaten darüber. Dazu kochte ich mir dreihundert Gramm Spaghetti. Die Krönung war ein Päckchen geriebener Parmesan. Ich setzte mich auf mein rotes Sofa und zog mir die Spaghetti mit einer halben Folge Beverly Hills rein. Dieses neue Beverly Hills, das nur noch 90210 heißt und in dem Brenda und Kelly uralt sind. Ich bekam jedoch kein Wort davon mit. Die verwirrten, guten Gefühle, die mir dieser Tag beschert hatte, verflogen langsam, und was blieb, war die Angst vor morgen.

Noch hatte ich ja keinen Zahnarztwagen. Noch hatte ich mein altes Auto, das den Weg auf den Kahlenberg höchstwahrscheinlich nicht noch einmal schaffen würde. Und was dann? Mama war sehr deutlich geworden letzten Sonntag. Ich sollte das Auto reparieren lassen, und wenn das nicht ging, dann eben ein neues kaufen. Zehntausend Schilling, hatte sie gemeint, zehntausend Schilling würde ich ja wohl auf der Seite haben, und dieser Betrag müsse ja wohl für einen guten Gebrauchtwagen reichen.

Ich hatte sogar zweitausend Euro auf der Seite, was mehr als zehntausend Schilling war. Aber nicht mal diese zweitausend Euro konnten reichen, um ein Automatikauto zu bekommen. Und was anderes ging nicht. Ich war noch nie mit Gangschaltung gefahren, nicht ein einziges Mal in meinem Leben. Auch nicht in der Fahrschule. Weil ich nie in der Fahrschule war. Folglich nie eine Führerscheinprüfung gemacht habe. Was einer der Gründe ist, warum diese sonntäglichen Ausflüge für mich so qualvoll waren.

Und jetzt wollte der Zahnarzt mir Fahrstunden geben. Ab nächstem Dienstag schon. Vier Abende hintereinander. Wo ich doch nicht nur die mir eigene Ungeschicklichkeit fürchten musste, sondern vor allem auch jede Polizeikontrolle.

In der Affenhitze Spaghetti zu essen war keine gute Idee gewesen. Es benötigte schon eine Riesenportion Erdbeereis, um mir Abkühlung zu verschaffen. Trotzdem fühlte ich mich danach elend. Ich war vollgestopft und konnte nichts anderes mehr tun, als auf morgen zu warten.

Nein, Teddy, du wirst nicht den Piraten anrufen. Nein, nein, nein! Aber was, wenn ich wieder mal an seiner Wohnung vorbeispazierte? Das machte ich öfter, immer mit einer großen Kapuze über dem Kopf und aufgesteckten Sonnenblenden auf der Brille. Ha, und genau das würde sich heute ändern! Ich sprang vom Sofa und stürzte ins Bad. Carpe diem, Teddy! Du wirst dich so toll herrichten, wie du dich in deinem Leben noch nicht hergerichtet hast! Hatte nicht irgendjemand mal behauptet, dass jede Frau schön sein konnte, mit genügend Schminke im Gesicht?

Ich kleisterte mir das Gesicht zu. Ich hantierte zwanzig Minuten mit Pinselchen und Wattestäbchen herum, bis ich schließlich zwei halbwegs anständige Striche links und rechts auf den Oberlidern hatte. Ich stimmte sogar die Farbe des Lippenstifts auf die meines T-Shirts ab. Rot.

Für untenrum wählte ich einen schwarzen Rock aus festem Stoff, der zwar viel zu heiß für die Jahreszeit war, aber die Dellen halbwegs unter Kontrolle hielt. Trotzdem zog ich ein Miederhöschen drunter an. Meinen BH hatte ich mit jeweils drei Pölsterchen pro Seite ausgestopft, was mir gerade mal ein zartes B-Körbchen bescherte.

Die Haare toupierte ich mir so lange auf, bis sie ganz verfilzt waren, aber wenigstens sahen sie jetzt nach mehr aus.

Ich war mit dem Ergebnis recht zufrieden. Nicht, dass ich richtig gut ausgesehen hätte, aber zumindest anders als sonst, und das war ja der Sinn der Übung.

Meine Geldbörse und das Handy steckte ich statt wie sonst in meinen Rucksack in eine zum Rock passende schwarze Handtasche, von der ich hoffte, dass man ihr nicht gleich ansah, dass sie aus Plastik war.

Ich schlüpfte in rote Flip-Flops und stellte mich abschließend noch einmal vor den Ganzkörperspiegel. Lippen vor, Wangen leicht einsaugen, geheimnisvoller Blick von schräg unten. Ja, ich wirkte tatsächlich anders als sonst.

Vorsichtig schlüpfte ich aus der Tür und versuchte, sie so leise wie möglich zu schließen. Nach dem ersten Flappen, das meine Schlapfen verursachten, zog ich sie aus, nahm sie in die Hand und schlich barfuß die Wendeltreppe hinunter. Ich war im zweiten Stock, als ich die Tür von unten aufgehen hörte. Mama. Sie musste irgendwas mitbekommen haben.

Ohne lange zu überlegen, drehte ich um und lief die Treppe wieder hinauf. So leise wie möglich sperrte ich meine Tür auf, wobei das ja auch schon egal war. In der Wohnung angekommen, schmiss ich mich auf mein Bett und starrte finster an die Zimmerdecke. Sollte sie mir morgen blöd kommen, dann würde ich ihr nicht nur sagen, dass sie sich die Sonntagsfahrten in Zukunft sonst wohin stecken konnte, sondern auch, dass sie mir nie, nie wieder nachspionieren durfte! Verdammt! Ich drehte mich auf den Bauch und kreischte in mein Kopfkissen. Heute noch, und nur noch heute, würde ich sie in Ruhe lassen. Aus Rücksicht auf sie würde ich erst in der Nacht meine Reise zum Piraten antreten, noch leiser und noch heimlicher, als ich es jetzt versucht hatte. Aber ab morgen würde die Schonung vorbei sein. Aus und vorbei, für immer. Ab morgen würde es zwischen meiner Mutter und mir nur noch die bittere Wahrheit geben. Und sollte sie an gebrochenem Herzen sterben, dann war ich auch nicht schuld daran.

»Wurscht«, flüsterte ich. »Alles wurscht.«

Ich wartete, bis es zehn Uhr war. Die Zeit bis dahin vertrieb ich mir vor dem Spiegel. Ich hatte meine alte Lambada-Kassette in den Rekorder geschoben und tanzte den verbotenen Tanz voll sündhafter Sinnlichkeit, wie ich selbst fand. Immer, wenn ich vor dem Spiegel tanzte, kam ich mir sexy vor. Immer. Das Blöde war nur, dass ich unter Menschen noch nie getanzt hatte und mir normalerweise schon das Stehen und Gehen in Gesellschaft Probleme bereitete. Wie konnte jemand, der sich so lasziv vor dem Spiegel bewegte, einen Gang haben wie ein Roboter auf Stelzen?

Ein letzter wogender Hüftschwung, dann toupierte ich die Haare frisch auf und zog mir die Lippen noch einmal nach.

Nacht, ich komme. Carpe diem, Teddy. Und veni, vidi, vici.





Miedler, Nora's books