Aschenpummel (German Edition)

chapter  4

Meine Hochzeit stellte ich mir so vor:

Der wunderschöne Pirat in einem dunklen Anzug, mit einem Auge, aus dem das Glück strahlt. Ich selbst – wundersam erschlankt – in einem weißen Seidenkleid, mit Margeriten im Haar. Tissi tiefstdekolletiert und höchstgeschlitzt und doch jämmerlich verblassend neben der überschäumenden Liebe der jungen Brautleute.

Die Menge raunt: »Was für ein Traumpaar.«

Der Pirat flüstert in mein Ohr: »Komm, Teddy, gehen wir, ich muss endlich mit dir allein sein. Ich halte es nicht mehr aus, auch nur eine Sekunde länger die Finger von dir zu lassen. Ich begehre dich so sehr …«

Seine Hände sind auf mir, seine Lippen überall …

Ich seufzte und riss die Augen auf. Be-De stand vor mir, die Hände in die Hüften gestemmt.

»Hast du mir überhaupt zugehört?«, blaffte sie.

»Ja«, hauchte ich. Ich war so glücklich.

»Und? Wie findest du das?«

»Ich find’s super. Einfach nur super.«

Lauernd fragte Be-De: »Du findest es super, dass sie bei meiner Schwiegermutter ein Karzinom festgestellt haben?«

»Ähhh …«

Be-De grinste. »Du bist eine wahre Freundin, Teddy. Du weißt eben, dass sie das größte Miststück auf Gottes grüner Erde ist. Und dass es ihr natürlich am liebsten wäre, wenn ich abkratzen würde. Kann man es mir da verübeln, wenn ich ihr dasselbe wünsche?«

»Ähhh …«

»Eben.«

Warum haben Frauen immer so ein Problem mit den Müttern ihrer Männer? Ich nahm mir vor, die beste Schwiegertochter aller Zeiten zu werden. Immerhin hatten die Eltern des Piraten die größte Kostbarkeit überhaupt in diese Welt gesetzt, allein dafür musste ich sie schon lieben.

Meine Schwiegereltern stellte ich mir so vor:

Uralt und mit Augenklappe. Aber so was von nett. Papa Pirat erzählt mir von den beiden Kriegen und Mama Pirat serviert saftigen Kokoskuchen dazu.

»Nimm doch noch ein Stück, Teddy«, sagt sie. »Nimm noch ein Stück, du bist so dünn.«

Sobald mein Teller leer ist, legt sie ein neues Stück drauf. Und noch ein Stück und noch ein Stück.

Während mein Verlangen nach Kokos immer größer wurde, plapperte Be-De in einem fort. Soweit ich es mitbekam, waren wir mit dem Thema Familie durch und hatten uns den Klatschspalten zugewandt. Filmstars hier, Popstars dort. Tratschtosteron vom Feinsten.

»Was hast du grade gesagt?«, fragte ich urplötzlich interessiert.

Geduldig wiederholte Be-De: »Die drei Töchter von Bruce Willis sind eigentlich –«

»Nein, nein, das davor …«

»Ach so. Also, die sechs Kinder von Brad und Angelina haben ein Dutzend Kindermädchen und machen mit denen den ganzen Tag nichts anderes als essen und fernsehen.«

»Wow«, sagte ich. Diese Kindermädchensache wäre eine gute Alternative, falls ich doch nicht Mrs. Pirat werden konnte. Den ganzen Tag in einer Nobelvilla sitzen, essen, fernsehen und hie und da einen Blick auf Brad Pitt werfen. Das würde ich hinkriegen. Oder ein bisschen in seinen Sachen stöbern … Na, jetzt mal ernsthaft: Wer glaubt denn nicht, dass die Angestellten von Hollywoodstars in Schubladen und Kästen kramen, in denen sie nichts zu suchen haben? Einmal Brads Unterhose berühren. Oder in Angelinas BH schlüpfen … nö, doch nicht, zu deprimierend.

»So wie der Strohmann aussieht, könnte der auch in Filmen mitspielen«, sinnierte Be-De gerade. Ich merkte, dass sie mich dabei scharf beobachtete, und lief knallrot an.

»Du stehst auf ihn, Teddy!«

»Stimmt nicht«, rief ich entrüstet. Wie konnte sie mich für so oberflächlich wie all die anderen Weiber halten?

»Deine Wangen glühen ja richtig.«

»Be-Deeee …«

»Was?«

» – nise, Bonnie-Denise … heute ist so wenig los, du kannst ruhig schon gehen.« Sie musste jetzt einfach gehen. Be-De lenkte mich zu sehr vom Piraten ab. Dabei meinte sie es ja nicht böse, und ich wollte auch nicht undankbar sein.

Denn wenn ich ehrlich war, musste ich mir eingestehen, dass sie wohl die Frau in meinem Leben war, die dem Begriff »Freundin« am Nächsten kam. Außerdem sah ich sie gerne an. Sie sah aus wie die junge Jane Fonda, und wenn sie redete und ich ihr zuhörte, dann stellte ich mir manchmal vor, dass sie Jane war und ich ihre Schwester. Und mein Vater war dann natürlich Henry Fonda, den ich verehrte, seit ich ihn vor fünfzehn Jahren in »Spiel mir das Lied vom Tod« gesehen hatte. Dass Henry in echt wohl kein besonders guter Vater gewesen und außerdem seit fast dreißig Jahren tot war, störte mich dabei kaum. Heute hatte ich jedoch keinen Kopf für Jane, heute war Bonnie-Denise einfach nur Be-De, die ihre Klappe nicht halten konnte und deren Worte mich nervten wie ein juckender Hautausschlag. Ich fing sogar an, mich zu kratzen.

Be-De saß auf dem Tresen neben der Kassa und überlegte laut: »Ich hab die Woche eh schon wieder Überstunden angesammelt. Du weißt, dass ich schon wieder Überstunden angesammelt habe, oder? Was kratzt du dich denn dauernd? Wenn ich alle Überstunden, die ich bis jetzt schon angesammelt habe, nehmen würde, dann bräuchte ich zwei Monate lang nicht zu kommen, das weißt du, oder? Weißt du das?«

»Natürlich weiß ich das. Drum geh jetzt, dann bist du wenigstens eine Überstunde los.«

Be-De sah auf die Uhr. Sie spitzte die Lippen und begann mit den Beinen zu schlenkern. Anscheinend hatte sie es nicht sehr eilig, nach Hause zu ihren Goldgeschöpfen und dem weltbesten Ehemann zu kommen. Dabei hätte sie heute gar nicht hier sein sollen. Sie war nur zwanzig Wochenstunden angestellt.

Montags bis freitags sperrte sie das Geschäft um neun auf und blieb bis eins. Ich begann um elf und blieb bis halb sieben. Ab eins kam eine der Aushilfen, um mich im Nachmittagsgeschäft zu unterstützen. Nur, dass die Aushilfen sehr oft nicht kamen, was einen bei dem Gehalt nicht wundern durfte. Samstags hatten wir nur bis Mittag geöffnet, und auch wenn heute schon wieder die zweite Kraft ausgefallen war, hätte Bonnie-Denise nicht kommen müssen. Der lange Sommer war nicht gut fürs Geschäft. Bei dreißig Grad hatten die Leute wenig Lust, Herbstschuhe anzuprobieren.

Be-De hielt mit Schlenkern inne. »Wenn du meinst, dass ich dich wirklich alleine lassen kann …«, begann sie.

»Ja«, antwortete ich entschieden. Ich musste endlich darüber nachdenken, was die Worte des Piraten alles bedeuten konnten. Steckte nicht vielleicht sogar ein Wink dahinter, dass Frau Kis die einzige Frau auf der Welt war, die ihn wirklich interessierte? War es nicht mit höchster Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass die Frauenstimme, die ich gestern Abend im Hintergrund gehört hatte, seiner Schwester, seiner Mutter oder seiner Kusine gehörte? Denn was sollte das für eine Ehefrau oder Freundin sein, die sich abends noch nie in seinem Geschäft hatte blicken lassen? Wenn es sie also gab, dann musste sie eine kalte, desinteressierte Person sein, die den Piraten in keinster Weise verdient hatte.

»Ich gehe dann also jetzt …«

»Häh? Aha. Ja, ja.«

»Meine Güte, sie denkt nur noch an den Zahnarzt. Tssssss.« Bonnie-Denise sah mich bekümmert an. »Als Freundin gebe ich dir folgenden Rat: Mach dir keine Hoffnungen, Teddy. Der spielt in einer anderen Liga.«

»Danke, Bonnie-Denise. Danke für deine Ehrlichkeit.«

»Nichts zu danken, Teddy. Du kannst dich immer auf mich verlassen. Ich meine, was würde es bringen, sich in Sachen Attraktivität was vorzumachen. Das würde dich nur unglücklich machen. Such dir einen netten, gemütlichen Mann, der zu dir passt. So einen wie den Herrn Wagenleithner. Der besitzt immerhin eine Sache, die du gern haben willst. Und er mag dich. Auch wenn es in seinem Laden stinkt, dass man am liebsten in Ohnmacht fallen würde.«

In der Tierhandlung von Herrn Wagenleithner stank es tatsächlich. Nicht, dass mich das stören würde, denn ich durfte mich dort sowieso nicht mehr blicken lassen. Seit Anfang dieses Sommers. Seit er sich Batman als Wachhund zugelegt hatte und ich die Frechheit besaß, den Hund zu mögen. »Die ewige Streichelei macht den Bädmän weich«, hatte er sich aufgeregt, also ging ich nur mehr heimlich rüber.

Batman hatte anfangs einige Aufregung in der Straße verursacht. Immerhin lag er auf einer Fußmatte mitten auf dem Gehsteig herum. »Ich kann den Bädmän nicht anleinen. Wie soll er mich sonst bewachen?«, hatte der Wagenleithner den Inhabern der umliegenden Geschäfte erklärt. Worauf der Juwelier ihn gefragt hatte, was ein Hund denn in einer Tierhandlung groß bewachen sollte. Darauf hatte der stolze Besitzer keine Antwort gewusst. »Er ist ein belgischer Schäferhund. Das sind die besten Wachhunde der Welt«, hatte er lediglich eins draufgesetzt.

Soweit ich es in den Wochen danach mitbekommen hatte, gehörte Batman wohl eher zur faulen Sorte bester Wachhund. Und auch an seinem Fell hatte Wagenleithner plötzlich alles Mögliche auszusetzen gehabt. Es war angeblich nicht glatt genug. Der Rasse nach hätte Batman aussehen sollen wie ein langhaariger schwarzer Wolf, wirkte aber eher wie lockiges Schaf. Mir war das egal. Ich mochte ihn genauso wie er war.

Doch sein Herrchen mochte mich garantiert nicht. Und das war Be-Des Meinung nach also der beste Partner, den ich kriegen konnte. Plötzlich juckte es sogar in den Ohren und dann in den Augen.

»Bis Montag also«, sagte ich und schlüpfte hinter den Vorhang. Ich versuchte, die Kränkung nicht an mich ranzulassen, redete mir ein, dass Bonnie-Denise einfach nur jung war, zu unreif, um zu wissen, dass es nicht aufs Aussehen ankam. Doch wem machte ich was vor? Ich hatte diese Erfahrung doch selbst immer gemacht. Nie hatte sich ein Mann für mich interessiert. Und selbst der Kuss in der Trafik, damals als ich einundzwanzig war und in der Blüte meines Lebens stand, war nichts anderes als ein Versehen des Küssers gewesen, der zu diesem Zeitpunkt nicht nur zugedröhnt war, sondern außerdem noch Mitte fünfzig.

Als ich in den Verkaufsraum zurückkam, fand ich die kleine Melli mit einem riesigen Schokoeis auf der Bank vor, so sportlich hüpfend, dass die Federn krachten. Der Eifer ließ ihren Mund weit offen stehen, so dass eine stattliche Menge braun gefärbter Speichelfäden ihren Weg über Mellis Kinn und ihr Kleidchen auf die Bank fanden. Ihre Mutter stand daneben und gebot dem Spaß energisch Einhalt, indem sie immer wieder flüsterte: »Aber nein, Häschen. So was machen artige kleine Prinzesschen doch nicht. Häschen, bitte.«

Dann fragte sie mich, ob wir vielleicht heute geeignete Sportschühchen für ihr Püppchen hätten. Ich schaffte es, ihr nicht die Augen auszukratzen. »Das Sugesäft hat nie söne Suhe«, quengelte Melli vor sich hin. Ich beugte mich zu ihr hinunter. »Da hast du recht, Melli. Besser, ihr geht in ein anderes Geschäft.«

Als die beiden endlich weg waren, ging ich nach hinten, um einen Schwamm zu holen. Aschenputtel, wie es leibt und lebt. Was heißt Aschenputtel? Aschenpummel! Immerhin endlich mit einem Prinzen in Aussicht.

Die Tür bimmelte. Ich drückte mich an einen Stapel Schuhkartons und hielt die Luft an. Bitte nicht Melli, bitte nicht.

Stille. Ich schob den Vorhang ein Stück zur Seite und sah hinaus. Die gute Nachricht – es war nicht Melli. Die schlechte Nachricht – es war schlimmer. Eine von diesen Frauen, denen man schon von hinten ansah, wie hübsch sie waren. Und das lag gar nicht so sehr am cremefarbenen, sichtlich teuren Etuikleid, den schmalen Fesseln und der braunen Lockenpracht bis zum Hintern.

Nein, ich habe schon vor langer Zeit herausgefunden, dass es vor allem eine Sache ist, die die Schönheiten den Normalsterblichen voraushaben. Und das ist ihre Haltung. Und damit meine ich nicht, dass sie stets kerzengerade durch die Straßen gehen, oh nein, die da zum Beispiel rollte ihre Schultern nach vorne, wodurch sie einen Buckel machte, dass Quasimodo vor Neid erblassen könnte. Dazu hielt sie ihre dünnen Ärmchen in den Ellenbogen und den Handgelenken abgewinkelt wie Tyrannosaurus Rex auf Futtersuche. Und dennoch. Es lag eine gewisse Erhabenheit in der Art, wie sie ihren Körper präsentierte und mit manikürten Fingern die Handtaschen am Ständer inspizierte.

Ich könnte das vor dem Spiegel üben, so viel ich wollte, da wäre nichts zu machen. Weil mir die eine wesentliche Sache fehlt: das Wissen darum, begehrenswert zu sein. Die Erfahrung, allein schon durch meine Optik etwas darzustellen. Bei einer wie ihr würde ein intaktes Jungfernhäutchen auf dem Pathologentisch als Sensation gefeiert werden.

Aus dem CD-Player erklang Sinatras »Girl from Ipanema«, und Frankie hätte sich wahrlich keinen passenderen Moment und keine bessere Traumfrau dafür aussuchen können. Ich ließ den Schwamm auf den Boden fallen, wischte mir die Hände am Rock ab, dann räusperte ich mich und hoffte, dass die Traumfrau zumindest einen Riesenzinken haben würde.

Mit Schwung drehte sie sich um. Nein, vergebens gehofft. Sie hatte etwas äußerst Gefälliges in der Gesichtsmitte, ein ganz allerliebstes Stupsnäschen, und es kam sogar noch schlimmer.

Die Schöne war Vanessa Hoffmann. Ich hatte sie seit sechzehn Jahren nicht gesehen. Ich war doppelt so alt wie damals. Doch auf der Stelle fiel ich in pubertäres Verhalten zurück. Meine Hände wussten nicht wohin. Meine Blicke schwirrten im Raum umher. Und die Pickel, die mir in diesem Moment ganz bestimmt im Gesicht wuchsen, konnte ich beinahe sprießen hören.

Sie übernahm die Führung. »Ach du meine Güte … bist du …? Du bist es doch?«

»Wir waren in derselben Klasse, ja«, antwortete ich.

Auf ihrer Stirn zeigte sich ein ganz entzückendes Fältchen. »Ist das lange her …«

Ich nickte. »Ewigkeiten.«

»Wie die Zeit vergeht.«

»Tick-tack, tick-tack«, machte ich, weil mir nichts Besseres einfiel, und kam mir dabei vor wie eine Psychopathin.

Das Fältchen wuchs sich beinahe zur Falte aus, und Vanessa deutete auf das Auslagenfenster. »Ich bin nicht hier, um etwas zu kaufen«, stellte sie fest.

»Okay …« Jetzt war sie die Psychopathin.

»Ich – also um ehrlich zu sein, es war draußen so heiß und da dachte ich –«

Der hübsche Mund verzog sich zu einem etwas schiefen Lächeln. Er wurde breiter und breiter. Ein juchzender Laut, der wohl jeden Mann in Ekstase versetzt hätte, entfloh ihm. Mir war das peinlich. Ich schätze, ich brauchte wohl eine gute Minute, um zu kapieren, dass sie weinte. Eine weitere Minute, um mich aus meinem Salzsäulenzustand zu reißen.

Gottogott, was nun? … Ich versuchte es mit Schultertätscheln. Vanessa zu berühren war komisch. Das hatte ich in sechs gemeinsamen Schuljahren nicht getan. Also ließ ich die Hand sinken und murmelte: »Wird schon wieder, hmm?« Wow, das klang ja phantastisch.

Sie ließ sich auf die Bank fallen. Ich vergaß vor Schreck zu atmen. Gut, ich hatte sie nie gemocht, aber dass sie sich mit ihrem hellen Kleid ausgerechnet jetzt, wo sie ohnehin so verzweifelt war, in Mellis Schokoeisfleck setzte, hatte ich nicht gewollt. Sie hatte aber nichts gemerkt und kiekste und schluchzte leise weiter. Die Hände hatte sie zierlich vors Gesicht gelegt. Herrgott, die Frau weinte ja sogar attraktiv! Wenn ich heule, greint es nur so aus mir heraus und aus Augen, Nase und Mund strömen alle möglichen Körperflüssigkeiten.

Mit einem Blick auf die Uhr an der Wand stieß ich hervor: »Vanessa, kann ich dir irgendwie helfen?«

»Es geht schon. Ist nicht so schlimm«, sprach’s mit erstickter Stimme, den Kopf immer noch in den Händen vergraben.

»Ja dann …« Hilflos, und vor allem ungesehen, wies ich in Richtung Tür.

Von unten tönte es verzweifelt: »Es ist nicht leicht für eine Frau, so auszusehen wie ich.«

Ich verschränkte die Arme vor der Brust und sah böse ihren Hinterkopf an. Natürlich, es war nicht leicht, mit einem Engelsgesicht inklusive Stupsnase, umrahmt von langen Locken, und das alles präsentiert auf einem Traumkörper, durchs Leben zu gehen. Viel leichter war es freilich, flachbrüstig, breithüftig, schmallippig und dünnhaarig wie ich zu sein.

»Die Menschen reduzieren mich immer auf das eine …«

Ich schloss die Augen, ich wusste genau, was jetzt kam.

» … die Frauen hassen mich. Die Männer betrachten mich als Sexobjekt.«

Ich versuchte es wieder mit Schultertätscheln. »Na, na, das stimmt doch nicht. Schau, ich bin auch eine Frau. Und ich hasse dich nicht.«

Sie sah mich an – die Augen weit geöffnet und schimmernd, zwei große blaue Seen, die in der Sonne glänzten. Mit einiger Befriedigung stellte ich fest, dass ihr die Wimperntusche bis zum Kinn gerutscht war.

»Jetzt weiß ich wieder, wie du heißt«, flüsterte sie. »Taddäa, aber alle haben immer Teddy gesagt.«

»Ja«, seufzte ich.

»Wie kuschelig das klingt. Der Name gefällt mir.«

»Du spinnst«, entfuhr es mir. Doch so sehr ich es auch versuchte, ich konnte das Lächeln, das sich auf meinem Gesicht ausbreitete, einfach nicht unterdrücken. Natürlich konnte sie das einfach nur so dahingesagt haben, aber das machte für mich in dem Moment keinen großen Unterschied. Ich freute mich trotzdem. Fakt war, dass noch nie jemand gesagt hatte, dass ihm mein Name gefällt.

Ich räusperte mich. »Geht’s wieder?«, fragte ich vorsichtig.

Sie belohnte mich mit einem zauberhaften Lächeln. »Aber ja. Wie süß von dir, dass du dir Sorgen gemacht hast. Ich scheine etwas an mir zu haben, das in meinen Mitmenschen auf der Stelle den Beschützerinstinkt weckt.« Mit einer schwungvollen Kopfbewegung warf sie ihre Haare nach hinten. »Wirke ich tatsächlich so zerbrechlich?«

»Naja, du hast grade ziemlich geweint …« Wie jetzt, doch die Tussinummer? Oder hatte die Frau einfach einen kompletten Knall? Jedenfalls hatte sie das mit den Stimmungsschwankungen ziemlich gut drauf.

»Bist du verheiratet, Teddy?«

»Noch nicht«, antwortete ich wie aus der Pistole geschossen. Mit der Betonung auf »noch«.

»Ach, dann gibt es also bereits einen zukünftigen Herrn Kis?«

»Natürlich.« Er hatte schwarzes Haar und eine Augenklappe.

»Bist du glücklich?«

»Klar.«

Langsam keimte der Gedanke in mir auf, sie könnte tatsächlich aus einer Irrenanstalt ausgebrochen sein. Womöglich aus der Abteilung für gemeingefährliche Irre. Gott, anscheinend hatte ich selbst zu oft die Jetzt gelesen.

»Und du? Was machst du eigentlich beruflich?«, fragte ich und hätte mich sofort auf die Zunge beißen können. Das konnte ja nur schiefgehen. Entweder sie war absolut gaga, dann hatte sie sicher keine Arbeit. Oder sie war Staranwältin oder Model oder Sängerin und würde mir gleich den Unterschied zwischen unseren Jobs genüsslich unter die Nase reiben.

»Ich hab vor zwei Wochen bei Dr. Strohmann angefangen, als Zahnarzthelferin.«

Sie und der Strohmann. Natürlich. Sofort sah ich sie in einem hautengen weißen Minikittelchen vor mir, aus dem jedes Mal, wenn sie sich über einen Patienten beugt, ihr üppiger Vorbau herausquillt.

»Mich wundert, dass du keine Patientin von uns bist. Ist doch gleich nebenan.«

Weil ich mir mit einem Monatseinkommen von tausend Euro netto keinen Privatzahnarzt leisten kann? »Weil ich einen anderen, sehr guten Zahnarzt habe.«

»Wen denn?«

Ich konnte mich nicht daran erinnern, überhaupt mal bei einem Zahnarzt – außer einmal am Sonntag in der Notfallsordination – gewesen zu sein. Dieser unangenehmen Antwort wurde ich jedoch entbunden, da sich in dem Moment etwas ereignete, das unser beider Aufmerksamkeit gänzlich für sich beanspruchte. Die Ladentür wurde geöffnet.

Und dann wurde es dramatisch.

Nach einem Vormittag mit Be-De in Höchstform, dem Intermezzo mit Melli und zwei Minuten mit Vanessa hätte ich nicht gedacht, dass es in Sachen Nervensägen noch eine Steigerung hätte geben können. Doch es gab sie. Es gab eine Person, die noch mehr ungebetene Tipps auf Lager hatte als Be-De und die noch schöner war als Vanessa.

Sie kommt doch sonst nie her, fuhr es mir durch den Kopf, als ihr kupferrotes Haar in der stickigen Atmosphäre des Ladens, in dem kein Lüftchen wehte, um ihr Leinwandgöttingesicht tanzte, als stünde sie vor einer Windmaschine.

»Tissi!«

Die grünen Augen schossen Elektroblitze auf mich. »Ich heiße Tira.«

Ich verzog das Gesicht und ließ den Kopf fallen.

Als ich den Kopf wieder hob, wurde es beängstigend.

Tissi/Tira vs. Vanessa.

Zwei hochgewachsene, kurvige Göttinnen in Designerklamotten, die sich fixierten wie Löwenmütter, die ihre Jungen verteidigen. Das Junge war natürlich das Schönheitskrönchen.

Mit zitternden Knien sank ich auf meinen Hocker. Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich einen Vorteil darin, zu den Unscheinbaren zu gehören. Mir war fast schlecht vor Erleichterung, mit dieser Sache nichts zu tun haben zu müssen.

Und dann wurde es gespenstisch.

»Aaaah, ist das die neue Pradatasche. Die ist doch noch gar nicht auf dem Markt?!«

»Kontakte.«

»Sind Sie in der Modebranche?«

»Nein, nein, das ist ein persönlicher Gefallen, den jemand von Prada mir macht. Der Verrückte sieht mich als Model, haha. Im richtigen Leben bin ich allerdings Psychologin, Dr. Tira Kis, sehr angenehm.«

Hallo? Hallooo? Wo war der Hass zwischen den beiden geblieben? Wo der Neid?

»Und was haben Sie studiert?« Aha, meine kluge Schwester wusste augenscheinlich sofort, wie sie sich noch einen weiteren Vorteil verschaffen konnte.

Doch auch Vanessa war mit allen Wassern gewaschen. »Publizistik. Allerdings nicht bis zum Doktortitel. Kaum war ich Magistra, da hatte ich schon ein Angebot von der Cosmopolitan, sie wollten mich unbedingt haben. Also bin ich mit dreiundzwanzig nach München gegangen und habe dort bis vor kurzem gelebt. Eine aufregende Zeit, viele Reisen, interessante Begegnungen und so. Aber wissen Sie, irgendwann ist man doch aus dem Alter raus, in dem es nur um die Oberfläche geht, oder? Ich wollte etwas Sinnvolles machen. Jetzt arbeite ich im medizinischen Bereich. Es bedeutet mir so viel, den Leuten die Hand zu halten, sie in ihrer schwersten Stunde zu trösten. Es gibt mir das Gefühl, der Gesellschaft etwas zurückzugeben.«

Ich war baff. Dieses Luder. Falls Tissi durch Vanessas Antwort aus dem Konzept gebracht worden war, so ließ sie es sich jedenfalls nicht anmerken. Im Gegenteil, es schien fast so, als würde die unvermutete Ebenbürtigkeit sie sogar noch beflügeln.

»Ich verstehe Sie so gut«, gurrte sie vertraulich, »bei uns in der Psychologie nennt man dieses Phänomen ›Helfersyndrom‹. Sie sollten unbedingt in meiner Praxis vorbeikommen. Wo habe ich denn meine Karte? Egal. Sie finden mich auf Facebook. Sie sind doch auf Facebook, nehme ich an?«

»Natürlich. Sie werden übrigens meine eintausendvierhundertneunundachtzigste Freundin sein.«

»Süß. Ehrlich gesagt habe ich bei zweitausend aufgehört zu zählen. Doch vermutlich sprechen wir von etwa viertausenddreihundertsiebenundneunzig.«

Vanessa zuckte zusammen, fing sich jedoch rasch wieder. »Ich bestätige nicht jede Freundschaftsanfrage. Meine bisherigen eintausendvierhundertachtundachtzig kenne ich alle tatsächlich auch im wahren Leben.«

Tissi senkte den Blick. »Auf meine heutige Statusmeldung habe ich neunhundertdreiundvierzig Gefällt mir erhalten.«

»Und ich habe für mein neues Profilbild sechshundertdreizehn Gefällt mir bekommen und vierhundertneun Kommentare. Nicht, dass ich auf so etwas Wert legen würde …«

»Doch, doch, das tun Sie. Viel zu viel. Sie müssen sich einfach unter meine Fittiche begeben. Bevor ich es vergesse, woher kennen Sie denn eigentlich meine Schwester Teddy?«

»Schwester?« Vanessa war sichtlich fasziniert. Sie konnte gar nicht oft genug von Tissi zu mir und von mir zu Tissi schauen. »Sachen gibt’s«, flüsterte sie schließlich ehrfürchtig. Um gleich darauf wissenschaftlich zu werden: »Diese Genetik …«

»Nicht wahr?« Tissi kicherte amüsiert. »Und es kommt noch besser: Ich bin die Ältere.«

Hätte ich bis dahin ein anderes Leben gehabt, wäre ich gekränkt gewesen. So aber saß ich seelenruhig auf meinem Hocker und staunte selbst mal wieder über den Spaß, den Mutter Natur sich mit uns Schwestern erlaubt hatte. Man konnte es wirklich niemandem verübeln, wenn er die Verwandtschaft anzweifelte.

Tissi schnippte mit den Fingern. »Teddy, Mama hat mich heute schon wieder angerufen, weil du dich nicht anständig um sie kümmerst. Tu das bitte endlich mal. Ich habe fünf Tage die Woche damit zu tun, mir das Gejammer von irgendwelchen Leuten anzuhören«, sie schenkte Vanessa ein zuckersüßes Lächeln, »- nichts für ungut, meine Liebe –, da brauche ich am Wochenende wirklich meine Ruhe.«

»Ja, Tiss-, äh Tira.«

Sie klopfte an meine Stirn. »Mer-ken bitte!« Dann legte sie die Hand auf Vanessas Arm. »Es hat mich schrecklich gefreut, Sie kennenzulernen. Und bitte, kommen Sie bei mir vorbei. Dann können wir uns über die enorme Belastung unterhalten, die der Umzug und die ganze Veränderung für Sie Arme bedeutet.« Einen Moment lang betrachtete sie ihr Gegenüber prüfend, dann fuhr Tissi fort. »Daher kommen wahrscheinlich auch die vielen Falten. Meine Güte, Sie Arme …« Sie seufzte mitfühlend, dann rauschte sie hinaus.

»Deine Schwester ist entsetzlich direkt«, keuchte Vanessa.

»Ich weiß … es … tut mir wirklich leid, du musst vergessen, was sie gesagt hat, durch ihren Beruf ist sie immer so … so, sie sieht in allem das Schlimmste, deine Falten …«

Vanessa kicherte. »Falten? Mach dich nicht lächerlich, die ist doch nur neidisch. Nein, ich meinte das, was sie über dich gesagt hat. Sie tut ja so, als wäre nur ihr Leben wichtig, außerdem tut sie so, als wärst du Gott weiß wie unansehnlich!«

»Und das bin ich nicht?«, fragte ich unsicher.

»Teddy, nein, du siehst … reizend aus. Wirklich reizend.«

Vor Dankbarkeit stiegen mir die Tränen in die Augen. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass jemand was Positives über mein Äußeres sagte.


Ich senkte den Kopf und weinte plötzlich, was das Zeug hielt. So wie sie vorhin. Nur wo sie sanft geschluchzt und gekiekst hatte, schnaufte und grunzte ich.

»Du siehst reizend aus. So reizend«, wiederholte sie in einem fort. Irgendwann schaffte ich es, den Kopf zu heben und hervorzupressen: »Jetzt gerade aber nicht, oder?«

Sie lächelte, und ich lächelte zurück. Danach bekam ich Schluckauf.

Vanessa legte den Arm um meine Schulter und küsste mich sogar auf den Kopf. Eine Sache, die normalerweise nur mein Vater, Henry Fonda, machte. Und zwar dann, wenn er mich seinen Kollegen in Hollywood vorstellte und Charles Bronson und Claudia Cardinale erklärte, dass ich seine größte Stütze, sein ganzer Stolz sei.

»Ich glaube, wir werden gute Freunde sein«, sagte Vanessa plötzlich. »Wirklich«, hauchte ich, und sie war mir tatsächlich so nah in diesem Moment, dass es mir nicht besonders seltsam vorgekommen wäre, wenn wir auch noch angefangen hätten, uns gegenseitig Zöpfe zu flechten.

Sie gab mir ihre Handynummer und beschwor mich, sie doch wirklich und unbedingt bald anzurufen. Ich schwitzte, der Stift in meiner Hand zitterte. Ich versuchte krampfhaft, das Zittern vor ihr zu verstecken, sie durfte nicht merken, wie wichtig sie plötzlich für mich war. Ich hatte keinerlei Erfahrung in diesen Dingen, und Vanessas Freundlichkeit, um nicht zu sagen Zuneigung, überforderte mich schlicht. Wie reagierte man als normaler Mensch auf so was? Dankbar? Euphorisch? Cool? Und woher wusste ich, ob sie es tatsächlich ernst mit mir meinte? Ich wollte es so gerne glauben.

Zum Abschied nahm sie mir das Versprechen ab, bei ihrem nächsten Besuch im Laden sämtliche Stöckelschuhe anprobieren zu dürfen, und warf mir außerdem eine Kusshand zu, die ich voller Begeisterung und mit einem lauten Schmatzen zurückgab.

Weg war sie. Ich sank auf meinen Hocker. Was war ich für ein gesegnetes Geschöpf. Ich hatte den Piraten, ich hatte Bonnie-Denise, und jetzt hatte ich sogar Vanessa.

Ein Uhr war längst vorbei, ich konnte den Rollladen herunterlassen, das Geschäft zusperren und nach Hause gehen. Sinatra sang zum Abschied »My Way« und ich sang lautstark mit. Das Leben war schön.

So schön, dass ich mir beim Bäcker an der Straßenbahnhaltestelle ein großes Stück Mohnkuchen kaufen musste, immerhin hatte ich heute schon gesportelt und genauso gut konnte ich morgen damit anfangen, dünn zu werden.

Die Straßenbahn kam, und ich stieg ein. Und mit jeder Station, die sie mich meiner Wohnung näher brachte, wusste ich, dass ich es heute ausprobieren musste. Jetzt gleich.

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