chapter 9
Es war halb eins, als ich die Stiegen hinaufschlich. Natürlich war es ein Triumph, unbemerkt an Tür Nummer drei vorbeizukommen, doch mir war gar nicht nach Feiern zumute.
Wen wollte er mir vorstellen? Sicher hatte das nichts mit der Buttersäuregeschichte zu tun, oder? Ich wollte niemand Neuen am Montag kennenlernen, ich wollte allein sein mit dem Piraten.
Vollkommen aufgelöst kam ich in meiner Wohnung an. Dort dann gleich der nächste Schlag: Die Wimperntusche hatte beschlossen, meine Augenpartie zu verlassen und dafür den Rest meines Gesichts in Beschlag zu nehmen. Dafür hatte der Lippenstift sein Versprechen, meinen Mund voluminöser erscheinen zu lassen, nicht nur gehalten, sondern sogar noch eins draufgelegt: Ich sah aus wie der Joker.
Und überhaupt – ich brauchte eine Schönheitsoperation! Zumindest Fett absaugen und Busen vergrößern. Das konnte in meinem Fall doch gar nicht so viel kosten. Die sollten mir einfach das Fett von den Oberschenkeln in den Busen stopfen. Das gäbe eine originelle Körbchengröße, K oder Q oder so.
Okay, Teddy, mahnte ich mich, komm runter. Du hast heute mehr erlebt als in den ganzen zweiunddreißig Jahren bisher. Du hast jetzt einen echten Draht zum Piraten. Du bekommst ein Auto geschenkt, und das noch dazu von einem Typen, auf den alle Frauen scharf sind. Das sind Gründe zum Feiern.
Und ich blöde Kuh war noch immer nicht glücklich!
Wenn ich alle Lebensratgeber, die ich je gelesen hatte, auf einen Stapel stellen würde, wäre ein Sprung von dieser Bücherturmspitze garantiert tödlich. Man frage mich nach irgendeinem Psychothema, egal nach welchem – ich schwöre mit erhobenen zwei Fingern, dass ich ein Buch dazu gelesen habe.
Vielleicht ein kurzer Auszug:
Endlich Mut zum NEIN sagen
Endlich Mut zum JA sagen
Wie entledige ich mich meiner Probleme
Wie entledige ich mich meiner Probleme in zehn Tagen
Wie entledige ich mich meiner Mutter
Die Befreiung zur Sexualität
Ich bin stark
Endlich Frau sein
So werden Sie nie mehr gemobbt
Hilfe in allen Lebenslagen
Et cetera, et cetera, et cetera.
Nachdem ich irgendwann mal alle Themen durchhatte, die auf mich passten, hatte ich begonnen, mich über Probleme zu informieren, die ich nicht hatte:
Endlich Mann sein
Gibt es ein Leben nach dem Wechsel?
Magersucht – lass dich nicht auffressen von der Sucht
Bulimie – das Leben kotzt dich an
Wie entledige ich mich meines Vaters
Nichtraucher forever
Mein Kind spricht nicht mehr mit mir – was tun?
Ratgeber für Single Moms
Handbuch für gestresste Manager
Traumjob Lehrer – Albtraum Schüler
Statt Pillen nur mehr Tic Tacs schlucken
Ja, auch diese Liste war endlos, und das Traurigste war der Grund, aus dem ich mir die Bücher gekauft hatte:
Ich wollte mir diese Probleme aufhalsen. Ich hasste meine eigenen Probleme, also lag die Idee nahe, mir neue zuzulegen. Ich hatte das Nichtraucherbuch gelesen und dabei meine ersten und einzigen Zigaretten geraucht. Ich hatte das Magersuchtbuch verschlungen und dabei eine Fastenkur probiert. Und beim Pillenbuch hatte ich statt Tic Tacs Baldriankügelchen geschluckt, und mir ausgemalt, wie es auf einer Entziehungskur wäre.
So, aber das alles waren Geschichten von gestern und vorgestern und vorvorgestern. Ab jetzt würde ich das Leben einfach angehen. Einfach leben.
Ich seufzte. Das bedeutete vor allem eines: Ich musste die Sache mit Mama regeln.
Ich setzte mich mit Zettel und Stift aufs Sofa und machte eine To-do-Liste. Das erste Mal in meinem Leben. Und das, obwohl ich schon vor zwölf Jahren ein Buch dazu gelesen hatte: To do: Schreiben Sie es auf, dann tun Sie es auch!
Ich schrieb:
Fahre Mama nie wieder am Sonntag auf den Kahlenberg
Lass dich nie wieder von ihr ausspionieren
Grenz dich ab (evtl. Wegziehen?)
Lass dich nie mehr von anderen runtermachen (Tissi, Be-De)
Werde ruhiger, lerne Dinge zu akzeptieren – wenn der Pirat dich nicht will, dann musst du das akzeptieren
Den Nebensatz bei Punkt Nummer 5 strich ich gleich wieder durch. So ein Blödsinn, ich würde doch nicht jetzt, wo meine Chancen um ein Vielfaches gestiegen waren, die Flinte ins Korn werfen.
Als Nächstes strich ich Punkt 1 durch. Es war ein Uhr nachts, der Sonntag hatte also schon begonnen, da wäre es echt nicht fair, Mama abzusagen. Auch wenn ich mich abgrenzen wollte, ein Ekel brauchte ich nicht gleich zu werden.
Danach strich ich die Sache mit dem Wegziehen bei Punkt Nummer 3 durch. Ich mochte meine Wohnung und wollte unbedingt noch das Meer und das rote Segelboot in meinem Schlafzimmer haben. Sollte doch Mama ausziehen.
Okay, viel blieb nicht auf meiner Liste. Aber für mich war es dennoch genug.
Die Nacht dauerte nur noch wenige Stunden und war trotzdem viel zu lang, ähnlich wie die davor. Doch während ich in der Nacht auf Samstag das aufregende Gefühl gehabt hatte, dass durch mein neues Leben und meine neue Einstellung alles Mögliche geschehen konnte, war in der Nacht auf Sonntag schon viel zu viel geschehen, als dass überhaupt noch irgendetwas möglich schien. Solche und ähnlich verworrene Gedankengänge quälten mich und mein Hirn, während ich – meine Jane Eyre fest an die Brust gedrückt – im Bett lag und verzweifelt auf den Schlaf wartete.
Denn schlafen musste ich, sonst würde ich morgen eine noch schlechtere Autofahrerin sein als ohnehin schon, und das Allerletzte, was ich auf der Welt wollte, war mit Mama gemeinsam zu sterben. Ich hätte es nicht ertragen, mit ihr durch den Lichttunnel zu gehen, mit ihr im Himmel zu landen, oder in der Hölle, oder reinkarniert zurück auf dieser Welt, bei meinem Glück noch als Zwillingspärchen oder so.
Es war nach drei Uhr morgens, als ich endlich einschlief. Ich träumte von Spinnen und durchsichtigen Larven, die sich schließlich doch durch meinen Mund schlängelten und meine Schleimhäute als Nistplatz benutzten. Schreiend wachte ich auf und stocherte mir im Mund herum. Es war halb sechs. Ich sprang aus dem Bett und suchte meinen Körper nach Insekten ab. Dieser verfluchte Pirat und sein Buch, dieser liebe, süße, verfluchte Pirat.
Ich hatte Kopfschmerzen, einen richtigen Kater wie im Fernsehen und sehnte mich trotzdem nach einem Long Island Ice Tea. Mit dessen Hilfe hätte ich Mama sagen können, dass ich sie heute nicht auf den Kahlenberg fahren würde. Wäre es denn wirklich so unfair von mir, ihr kurzfristig abzusagen? Es gab doch einen Bus da rauf. Und außerdem, was wenn ich krank wäre? Das war es! Ich war heute einfach mal krank.