chapter 13
Was folgte, waren die vier härtesten Tage meines Lebens. Bis zehn Uhr vormittags im Bett liegen und vom Piraten träumen war gestrichen. Abends auf dem Sofa lümmeln war gestrichen. Futtern, was und so viel ich wollte, war gestrichen.
Ich stellte mir einen Stundenplan zusammen. Ausgehend von meiner eigenen Vorstellung einer Schnellverschönerung – die Tipps hierfür holte ich mir aus bunten, dünnblättrigen Magazinen – und Giselas Anregungen zur Festigung meiner Persönlichkeit.
6:30: Aufstehen, duschen. Und zwar diese schmerzhaften Wechselduschen, mal kalt, mal heiß.
Zum Frühstück eine Tasse schwarzer Kaffee, wobei der Sud auf die Oberschenkel kommt, als preisgünstiges Mittel gegen Cellulite. Dazu eine Scheibe Vollkornbrot belegt mit sogenanntem Putenschinken (Eine Pute verdient niemals den Beinamen »Schinken«!). Dazu zwei große Gläser Wasser.
7:15: Rein in die Laufklamotten und mit vollgepacktem Rucksack Richtung Schwimmbad joggen.
8:00: Als wahnsinniger allererster Badegast ins Becken hüpfen und zwanzig Längen schwimmen, bis es
8:30: ist. Dann Pause mit einem Viertelliter Multivitaminsaft oder kaltem Tee. (Der Tipp stammte von Gisela, damit ich vor Anstrengung nicht austrocknete.)
8:50: Noch mal ins Becken und wassertreten, wassertreten, wassertreten.
9:15: Sauna. Ohne Handtuch, um dieses gesunde und positive Gefühl für meinen Körper zu entwickeln. (Gisela)
9:35: Duschen, Haare föhnen, umziehen.
Wasser und Obst konsumieren. (Gisela: Flüssigkeit und Nahrungsaufnahme sind auch bei einer Diät wichtig, meinte sie.)
10:15: Flotter Spaziergang Richtung Schuh-Bi und dann endlich um
11:00: Arbeit!
19:00: Fahrstunde mit dem Zahnarzt. Kein Abstecher davor zum Piraten, er sollte sich bis Samstag verzehren (Gisela) – ich zumindest verzehrte mich.
20:30: Abendessen zu Hause – ungesund spät zwar, aber durch die Fahrstunden nicht anders machbar. Gedünstetes Gemüse (Fenchel und solche Leckereien).
Danach: Fernsehen. Wenigstens diese Sache musste mir bleiben, aber vom Boden aus, mit angespanntem Po und den Beinen in der Luft. Rauf, runter … rauf, runter …
Am ersten Tag war ich noch recht motiviert. Das Schwimmprogramm zog ich knallhart durch, was wohl auch daran lag, dass ich es über Wasser kaum im Badeanzug aushielt. Ich musste mir vor Samstag unbedingt noch einen neuen zulegen, irgendein Wunderteil, das mich in Richtung 90–60–90 quetschte, ich war bereit, all mein Geld dafür auszugeben.
Auf den Saunagang verzichtete ich an diesem ersten Trainingstag. Gezwungenermaßen. Da stand so großartig an der Tür geschrieben: Einlass zu jeder halben und vollen Stunde. Das passte absolut nicht in meinen Zeitplan, da hätte ich alles andere umändern müssen und das ging leider nicht. Jammerjammerschade.
Als ich schleppenden Schrittes um kurz vor elf in die Sieveringer Straße einbog, überlegte ich, ob ich kurz beim Piraten reinschauen sollte. Gisela wäre natürlich dagegen gewesen, klar, doch Gisela war ja nicht da. Ich hatte Seitenstechen und fühlte mich vollkommen dehydriert. Laufen konnte man das, was ich tat, längst nicht mehr nennen, nicht mal mehr schleichen. Ich schaffte es immerhin irgendwie, einen Fuß vor den anderen zu setzen und halbwegs die Spur zu halten.
Zwei Meter vor dem Libri Liberi steigerte ich das Tempo auf Zeitlupenjogging. Der Pirat sollte ruhig sehen, wie sportlich ich war, zu schnell durfte ich aber auch nicht sein, sonst hätte er ja gar keine Gelegenheit, mich zu sehen. Allerschönstes Zeitlupenjogging, laaaaangsaaaam, elegaaaaaant, Haaaaaallooooo, ich hob die Hand zum Gruß, setzte mein schönstes Lächeln auf und joooooooggte am Buchgeschäft vorbei. Der Pirat war nirgends zu sehen. Mist. Ich trippelte ein paar Schritte zurück und klebte meine Nase an die Glastür. Nichts.
»Guten Morgen, Frau Kis.«
Ich erschrak fast zu Tode. Und prallte mit meinem – trotz Frühsport immer noch erstaunlich schwabbeligen – Hintern an den Piraten. »Was machen Sie denn – auf der Straße?«, stieß ich hervor, plötzlich wieder unglaublich außer Atem.
Er hielt ein paar leere Säcke hoch und zeigte auf die andere Straßenseite zu den Mülltonnen. »Ich habe mich alter Lasten entledigt.«
»Ach ja, verstehe.«
»Oh, und die letzten Minuten habe ich Sie bei Ihrem Morgensport beobachtet.«
Die letzten Minuten? »Ich, äh«, begann ich, »hatte eine Art Krampf, deswegen war ich ein bisschen langsamer, das passiert manchmal, wenn ich es mit dem Sport übertreibe, dann muss ich auch diese Armbewegungen machen …« Ich ruderte mit den Armen und fügte hinzu: »Das kann dann so aussehen, als würde ich winken.«
»Ja, so sieht es in der Tat aus.«
»Naja, jedenfalls freue ich mich auf Samstag. Freue mich sehr darauf, Ihre Nichte kennenzulernen.«
»Ich freue mich auch, Frau Kis.«
Geigespielende Engel waren im Anflug, ein wohliges Prickeln lief über meinen Rücken und Be-De steckte den Kopf aus dem Schuhladen.
»Teeeddy, hör endlich auf zu flirten und schieb deinen dicken Hintern ins Geschäft!«
»Wie kannst du vor anderen Leuten dicker Hintern zu mir sagen!«
»Du hast selbst gesagt, dass du einen dicken Hintern hast. Außerdem waren eh keine Leute auf der Straße.«
»Der Herr Nemeth war da!«
»Der Herr wer? Dieser Buchmann, dieser einäugige?«
»Sag nie wieder dicker Hintern zu mir.«
»Ich hab dich nicht so genannt, ich hab nur gesagt, dass du den dicken Hintern endlich reinhieven sollst.«
»Reinhieven?«
»Was kann ich dafür, dass er dick ist!«
»Du kannst dir deine Scheißehrlichkeit sonst wo hinschieben, Be-De!«
»Hast du grad Bidet zu mir gesagt? Weißt du überhaupt, was ein Bidet ist?«
»Natürlich weiß ich das. In ein Bidet kann ich meinen fetten Hintern quetschen!«
»Jetzt krieg dich mal wieder ein!«
»Krieg du dich wieder ein, Be-De!«
»Wenn du noch einmal Bidet zu mir sagst, kündige ich.«
»Wenn du noch einmal fetter Hintern zu mir sagst, kündige ich.«
Danach kehrte Waffenstillstand ein, kündigen wollten wir beide nicht. Zwei Stunden lang redeten wir kein Wort miteinander, ich bediente zwei Kunden in der Zeit und Bonnie-Denise drei. Der fette Hintern nagte an mir. Was widersinnig war. Besser wäre gewesen, an dem fetten Hintern wäre genagt worden. Als die kleine Melli – vorne eine Eistüte, hinten die Mama – hereingetänzelt kam, überließ ich sie Be-De und flüchtete auf die Straße. Batman war ein guter Zuhörer, und er versuchte sein Bestes, mein Leid mit einem kräftigen Zungenschlecken quer über meine Brille wegzuwischen.
»Dir ist es egal, wie ich ausschaue, gell. Du bist der Einzige, dem das wirklich egal ist.« Ich sage ja, im Selbstmitleid war ich ganz groß. Mit einem Ruck stand ich auf. Batman schnüffelte an meinen Waden. Ich winkte ihm zum Abschied zu und marschierte schnurstracks um die Ecke und in die Apotheke hinein.
»Abführtabletten«, schnaufte ich grantig, was der Pharmazeutin gegenüber unfair war, denn sie konnte ja weder etwas für meine Misere noch dafür, dass sie selbst hübsch und dünn war.
Sie legte ihren Porzellanpüppchenkopf schief, deutete ein gekünsteltes Lächeln an. »Was haben Sie denn für Beschwerden?«
»Was glauben Sie?«, erwiderte ich und kam mir unsinnigerweise verdammt cool dabei vor.
Die Dame holte ein kleines grünes Döschen aus einer Lade und musterte mich ernst. Erst meine Mimik, dann meine Hüften. »Sie wissen schon, dass Abführmittel bei längerfristiger Anwendung die Darmflora schädigen und außerdem ein Gewöhnungseffekt einsetzt. Nehmen Sie auf keinen Fall mehr als zwei Stück, vor dem Schlafengehen. Sollten die Beschwerden anhalten, müssen Sie einen Arzt aufsuchen.« So, wie sie mich angesehen und außerdem das Wort Beschwerden betont hatte, musste ich annehmen, dass sie mir etwas unterstellte. Zum Beispiel absichtlich Durchfall herbeiführen, um schneller abzunehmen, oder irgend so etwas absolut Abwegiges. Augenblicklich brannten meine Wangen und meine Hände zitterten, als ich das Wechselgeld entgegennahm. Als ich die Apotheke verließ, kam ich mir vor wie ein Junkie, der vor der Polizei flüchtete.
Die Beute in meiner Faust versteckt, kehrte ich ins Schuh-Bi zurück. Be-De war eifrig damit beschäftigt, Mellis Mama Erziehungstipps zu geben, während Melli selber Turnübungen auf meinem Hocker vollführte, so dass ich ungestört hinter den Vorhang schleichen konnte.
Wenn Sie vor dem Schlafengehen 1–2 Dragees einnehmen, tritt die Wirkung nach etwa 10 (8–12) Stunden ein. Am nächsten Morgen können Sie mit einer oder zwei weichen Stuhlentleerungen rechnen.
Aha. Ich sah auf die Uhr. Kurz vor eins. In acht Stunden war es neun. Da sollte ich zu Hause sein. Doch, was wenn die Wirkung erst nach zwölf Stunden einsetzte? Und ich im Schlaf überrascht wurde? Die Sache musste also beschleunigt werden. Kurz entschlossen öffnete ich die Dose und schüttete mir drei Dingelchen auf die Hand. Ich schluckte sie trocken runter. Und dann noch drei. Eine normale Darmentleerung würde nicht reichen, ich musste schließlich abnehmen dabei.
Als Be-De fünf Minuten später ihre Sachen gepackt hatte und gehen wollte, traf sie an der Tür auf Vanessa.
»Teddy, deine Freundin ist da«, war das Letzte, was ich an dem Tag von ihr hörte.
»Zickenkrieg?«, fragte Vanessa, während sie die Luft neben meinen Wangen küsste.
»So was in der Art«, antwortete ich und stellte erstaunt fest, dass ich plötzlich Schuldgefühle Be-De gegenüber hatte. Schließlich war sie seit zwei Jahren so etwas wie meine beste Freundin. Dass ich jetzt drauf und dran war, mit meiner neuen Freundin Vanessa über sie zu reden, womöglich zu stänkern, gefiel mir nicht.
»Tja, daran wirst du dich gewöhnen müssen«, orakelte Vanessa.
»Wie meinst du das?«
Sie setzte sich auf das Ledersofa, schlug die Beine übereinander und rückte sich die Sonnenbrille am Scheitel zurecht. »Wie eine hängengebliebene Schallplatte«, sagte sie dann.
»Meinst du mich damit?«, fragte ich unsicher.
Sie lachte. »Nein, die Musik. Jedes Mal, wenn ich hier reinkomme, läuft ›Girl from Ipanema‹.«
Ich lauschte. Tatsächlich. Was hatte Sinatra nur für einen Narren an Vanessa gefressen? Doch sollte er ruhig weiter das Ipanema-Girl aus ihr machen, solange nur mir »My Way« blieb.
Ich setzte mich neben sie.
»Was hast du vorhin gemeint? Dass ich mich daran gewöhnen muss …«
»Teddy, du reifst soeben zum Schwan, merkst du das nicht? Vor drei Tagen warst du noch eine Ente, aber dieses Stadium hast du nun überwunden. Dein Gesicht hat sich verändert. Als hättest du neue Erfahrungen gemacht. Bereichernde Erfahrungen. Jede Frau macht diese Metamorphose im Laufe ihres Lebens durch. Manche früher, manche später, manche nur zum Teil und manche in voller Pracht. Zu denen gehörst du, Teddy. Und deine kleine Kollegin anscheinend nicht.«
Ich runzelte die Stirn.
Vanessa beugte sich vertraulich zu mir. »Du reifst, du reifst, das traurige Gänseblümchen metamorphosiert zur prachtvollen Pfingstrose, verstehst du mich?«
Ich verstand, dass sie mir damit ein unheimlich tolles Kompliment gemacht hatte, auch wenn ich bezweifelte, dass ein Gänseblümchen sich zur Pfingstrose auswachsen konnte, aber ich war keine Botanikerin und daher nickte ich dankbar.
»Vielleicht ist es ja auch so, dass du einen besonders faszinierenden Mann kennengelernt hast? Kann das sein?«, wollte Vanessa wissen.
»Ich … ich, dein Chef, der Dr. Strohmann, er gibt mir Fahrstunden ab heute Abend.« Warum erzählte ich ausgerechnet Vanessa davon? Wo sie Strohmann doch gut kannte! Und warum um Himmels willen redete ich überhaupt vom Zahnarzt?
Vanessa hingegen schien ganz entzückt, aus meinem Mund von ihrem Chef zu hören. »Ach, er ist ja so nett. Und ein wahres Bild von einem Mann.«
»Und seid ihr beide … ich meine –« Was ging mich das an? Das sollte mich gar nicht interessieren!
»Gott, nein, das würde ich nie. Er ist mein Chef, das ist alles. Aber natürlich ist er außerdem noch ein faszinierender, vertrauenswürdiger Mann. Nicht mein Typ, aber an deiner Stelle wäre ich durchaus interessiert.«
»Was sollte er schon an mir finden?«
»Teddy, du metamorphosierst gerade, verstehst du nicht? Das spüren die Männer, das wollen die Männer.« Sie tätschelte meinen Arm. »Und jetzt zeig mir ein bisschen deinen Laden, ja? Mich würde zu sehr interessieren, was sich hinter dem Vorhang verbirgt.«
Die Frau der schnellen Themenwechsel. Ich hätte viel lieber weiter über meine wundersame Reifung geredet und vielleicht auch ein bisschen über den Zahnarzt, wollte aber nach den vielen aufbauenden Dingen, die sie zu mir gesagt hatte, nicht undankbar erscheinen. Also führte ich sie nach hinten, wo sie auf der Stelle begann, die Schuhschachteln zu inspizieren.
»Das müssen ja Tausende sein«, flüsterte sie ehrfürchtig. »Und du weißt bei jeder Schachtel, was drinnen ist?«
»Nun ja, eher nicht, nein. Links hinten haben wir die Kinderschuhe, davor die Herrenschuhe und auf der rechten Seite die Damenschuhe. Und aus diesen drei Gruppen sind dann noch mal alle in Untergruppen geteilt. Sportschuhe, Sandalen, Halbschuhe, Schnürschuhe, Stiefel, Hauspatschen –«
»Und ist auch noch was aus früheren Saisons dabei?«
»Ja natürlich, wir machen zwar einmal im Jahr Inventur, sind aber immer nur zu zweit dabei. Und viel Zeit ist nie dafür. In die untersten Schachteln hat vermutlich seit Jahren kein Mensch geschaut.«
Vanessa umarmte mich.
»Ach, ich wünschte, ich dürfte das. Schuhe sind ja meine Leidenschaft. Darf ich? Darf ich?«
Wie hätte ich ihr einen Wunsch abschlagen können, wo sie mir doch gerade gesagt hatte, dass ich metamorphiere, oder wie auch immer das hieß.
Während ich im Laufe des Nachmittags neun Kundschaften bediente, einmal vier gleichzeitig, den Rest zum Glück hintereinander, wühlte Vanessa sich durchs Lager. Um halb sieben erklärte ich ihr, dass ich abschließen müsse, und sie erklärte mir, dass sie die Hälfte der Schachteln durchhätte und am nächsten Tag für den Rest wiederkommen wolle.
»Suchst du nach was Bestimmtem?«, fragte ich zum zehnten Mal.
»Nach Schuhen«, flötete sie zum zehnten Mal und segelte hinaus. Natürlich kam mir ihr Verhalten komisch vor, und einige Male war ich knapp davor, sie zu fragen, ob sie nur deswegen so nett zu mir gewesen war, um hinterher in den Schuhen graben zu können. Doch ich brachte es nicht übers Herz, unsere Freundschaft – so sie denn eine war – durch mein Misstrauen aufs Spiel zu setzen.
Ich sah auf die Uhr, achtzehn Uhr fünfunddreißig. In fünfundzwanzig Minuten würde der Zahnarzt hier erscheinen, mit meinem neuen Peugeot. In zwanzig Minuten würde ich mich vor das Schuh-Bi stellen und auf ihn warten. Konnte ja nichts schaden, wenn der Pirat mich zufällig sah. Mich und den Zahnarzt. Mich neben einem anderen begehrenswerten Mann.
Bis dahin verbrachte ich die Zeit mit Stolzieren und – nach einem kritischen Blick in den Spiegel – mit dem Schlucken dreier weiterer Abführdragees. Ich ließ die Rollos herunter, um ungestört einen sexy Gang üben zu können. Was nicht leicht war in flachen Sandalen, doch was sonst hätte ich zur Fahrstunde anziehen sollen? Ich stellte mich vor die Tür und marschierte auf den Spiegel zu.
Kopf hoch, Brüstchen raus, Hintern rein und Hüften schwingen, Hüften schwingen, cha cha cha, sexy, sexy, sexy. Dann versuchte ich die ganze Nummer mit dem neuen Dreh, den Po zur Abwechslung mal nicht wegzuklemmen, sondern ihn, ganz im Gegenteil, zu präsentieren. Ich war Jennifer Lopez, naja, oder vielleicht Jennifer Lopez nach der Geburt ihrer Zwillinge, nur ohne Busen. Okay, ich war nicht Jennifer Lopez.
Das Problem mit diesen ganzen kurvigen Prominenten war doch, dass die trotzdem perfekt aussahen. Wen störten Kate Winslets Hüften, wo doch ihr Busen alles ins Gleichgewicht rückte? Und ihr Gesicht so wunderschön war, dass die Figur ohnehin nur Nebensache war? Steht zu euren Kurven, Frauen, haha, nur mussten die Kurven auch an den richtigen Stellen sitzen. Ich war frustriert. Be-De hatte recht, ich hatte einen fetten Hintern.
Aber verdammt noch mal, scheiß drauf, dann war es eben so! Dann war ich eben nicht perfekt. Dann passte ich eben nicht in das gängige Schönheitsklischee. Ich könnte ja Vorreiterin für ein völlig neues Frauenbild werden. Ich, Teddy Kis, ha! Ab jetzt würde ich meinen Hintern immer zeigen, extra zeigen, posieren, wo ich nur konnte, vorne brüsteln, hinten posieren, egal, was du hast, sei stolz drauf und zeig es. Carpe diem und kill mit deinem smile! Heute Abend würde ich alle Tricks und Kniffe am Zahnarzt ausprobieren, heute Abend würde ich mir selbst beibringen, wie man einen Mann verführt. Und am Samstag würde ich meine neuerworbenen Künste beim Piraten einsetzen und ihn im Sturm erobern. Veni, vidi, vici!
Es klopfte. Scheiße, viel zu früh!
Ich huschte zur Tür, drehte den Schlüssel im Schloss und öffnete sie. Der Zahnarzt zeigte sein schönstes Lächeln.
»Guten Abend, Herr Doktor, kommen Sie doch herein, ich hol nur noch meine Tasse, äh … Tasse, äh –« Ich hastete hinter den Vorhang, nichts mit Schreiten. Absolut kopflos riss ich die verdammte Tasche an mich und hängte sie mir um. Wer hätte gedacht, dass ich genauso einen S-Fehler wie die kleine Melli hatte, nur dass es bei einer Dreijährigen irgendwie niedlicher war als bei einer Dreißigjährigen. Zweiunddreißig, Teddy, du bist verdammt noch mal zweiunddreißig, denk dran, wenn du da jetzt raus gehst, denk dran, dass du es mit zwei-und-drei-ßig nicht mehr nötig hast, dich wie eine Pubertierende aufzuführen.
Schreiten, schwingen, brüsteln, posieren – schwungvoll riss ich den Vorhang zur Seite und schritt zurück zum Zahnarzt, meine Augen waren auf sein Lächeln gerichtet, und ich konnte spüren, wie verrucht mein Blick war. In genau diesem Moment knackste mein linker Knöchel um. Wie unwahrscheinlich ungeschickt musste frau sein, um in flachen Sandalen umzuknöcheln? Ich jaulte auf und riss die Arme zur Seite, um das Gleichgewicht zu halten. Wenigstens ein gelungener Telemark.
Strohmann sah sehr besorgt drein. »Haben Sie sich was getan, Teddy? Lassen Sie mal sehen.«
Und ehe ich es verhindern konnte, kniete er schon vor mir, das Gesicht auf Höhe meiner Lenden, und ich schickte innerliche Stoßgebete zum Himmel, dass die Hitze mich nicht in irgendeiner Form stinken ließ. Er tastete an meinem Knöchel herum, der eigentlich gar nicht wehtat.
»Kommen Sie, Teddy, wir müssen ihn kühlen.« Er richtete sich auf. »Sie haben doch wohl fließendes Wasser da hinten?«
Ich hatte das Gefühl, ihm für seine Mühe zumindest ein Humpeln zu schulden, und so hüpfte ich an seinem Arm zum Klo.
Im Stillen dankte ich Be-De dafür, dass sie auf einem WC-Erfrischer bestanden hatte, so stank es einfach nur penetrant nach Zitrone in dem engen Raum, und das war sehr gut so. Der Zahnarzt klappte den Klodeckel runter und setzte sich drauf. Mir bedeutete er, mich ans Waschbecken zu lehnen.
In der nächsten Sekunde lag mein linkes Bein auf seinem Schoß und Strohmann begann – meine Wade zu massieren. Danke, lieber Gott, dass ich einmal nicht zu faul gewesen war, mir die Beine zu rasieren. Strohmann war sehr vertieft in seine Arbeit, und mir fiel auf, wie männlich seine Hände aussahen, lange schlanke Finger, unter deren Haut die Adern durchschimmerten und auf deren Knöcheln kleine Härchen saßen.
Ich schluckte, viel zu laut und viel zu trocken. »Sollten wir nicht Wasser auf … auf den Knöchel tun?«, fragte ich und hatte sofort meine Mutter im Ohr: Tun tut man nicht.
»Wasser … jaaa«, gurrte der Zahnarzt. Es klang wie: »Zieh dich aus und lass es uns tun.« Ruhig bleiben. Das bildete ich mir alles nur ein, das bildete ich mir alles nur ein. Er benetzte meinen Knöchel mit kaltem Wasser. Seine Hose wurde etwas nass dabei, und ich musste ihn mir plötzlich nackt vorstellen. Was war bloß los mit mir? Nur weil der Mann so verdammt gut aussah, dass man sich ihm einfach an den Hals werfen musste? Ich wollte doch den Piraten! Als der Zahnarzt meinen Fuß losließ und sanft zurück auf den Boden stellte, war mir komplett schwarz vor Augen. Wie sollte ich heute Abend noch Auto fahren lernen?
Ich lernte es auch nicht an diesem Abend.