Aschenpummel (German Edition)

chapter 15

Mittwochmorgen. Meine Hochzeit mit dem Zahnarzt stellte ich mir so vor:

Er in einem weißen Anzug, mit Augen, in denen die Leidenschaft glüht. Ich selbst – wundersam erschlankt – in einem dunkelblauen Seidenkleid und Veilchen im Haar. Tissi und Vanessa, beide tiefstdekolletiert und höchstgeschürzt, kämpfen um den Brautstrauß und wälzen sich schließlich im Schlamm. Die Menge jubelt. Bis auf einen. Er steht ganz hinten, einsam und traurig, mit seiner Klappe über einem Auge und den Händen in den Taschen.

Hubertus drückt mir einen sanften Kuss auf die Wange und flüstert: »Verzeih, du schönste aller Frauen, Liebe meines Lebens. Ich bin gleich wieder bei dir, ich will mir nur kurz mit den anderen das Schlammcatchen ansehen.«

Ich nicke verständnisvoll und blicke ihm nach. Wie ein großer Junge steht er zwischen den anderen Männern und erfreut sich an den vier wogenden Brüsten. Ich drehe mich um, erhasche gerade noch einen Blick auf den Rücken des Piraten. Er geht. Ich laufe ihm nach. »Pirat«, sage ich. Er schluchzt auf. Die einzige Frau in seinem Leben, die einzige, die ihm je etwas bedeutet hat, hat einen anderen geheiratet.

»Ich liebe dich trotzdem«, stoße ich hervor.

Er dreht sich um, stürzt auf mich zu. »Oh, Teddy, Teddy, ich liebe dich. Ich liebe dich so unendlich, dass ich auf der Stelle mein Leben für dich geben würde. Oh komm mit mir, ich brauche dich –«

Wir küssen uns, wir drücken uns aneinander, unsere Hände sind überall, während der Zahnarzt sich im Schlamm von Tissi und Vanessa trösten lässt. Die Menge jubelt erneut.

Sechs Uhr dreißig. Der Wecker läutete. »Verdammt«, schnauzte ich. »Brüll nicht so, ich bin eh wach.«

Es kostete mich einige Überwindung, mein Trainingsprogramm zu starten. Der Abführmittelverschleiß vom Vortag machte mir zu schaffen – was Gisela wohl dazu sagen würde? Das wollte ich lieber nicht rausfinden.

Missmutig stand ich unter der Dusche, wo ich mir, wie am Morgen zuvor, beinahe den Tod holte. Dieses Heiß – Kalt kann doch für das Herz nicht gesund sein, oder? Meins jedenfalls fühlte sich an, als stünde es kurz vor dem Kollaps.

Ich muss gestehen, dass ich am zweiten Intensivtag generell deutlich unmotivierter war. Der Lauf zum Hallenbad war eher ein Spaziergang, was den entschiedenen Vorteil hatte, dass ich zwanzig Minuten später ankam als geplant und dementsprechend leider, leider Gottes das Wassertreten sausen lassen musste. Und nachdem ich davon ausging, dass ich in dieser konditionell schlechteren Verfassung auch länger zur Arbeit brauchen würde, verkürzte ich meine Schwimmzeit vorausschauend gleich mal um zwei Drittel. Den Multivitaminsaft trank ich trotzdem. Außerdem einen Cappuccino vom Automaten in der Eingangshalle. Ich musste mich ja irgendwie fit bekommen.

Keine Ahnung, warum, aber irgendwie klappte es auch an diesem Tag nicht mit der Sauna.

Auf dem Weg zur Arbeit, den ich brav zu Fuß bestritt, wälzte ich ein schwerwiegendes Problem. Der Zahnarzt und Vanessa.

Sie nannte ihn »sehr vertrauenswürdig«, war angeblich aber nicht an ihm als Mann interessiert. Er wiederum machte mir Avancen, mehr als je ein Mann zuvor. Wunderbar glatt, wie das alles lief, und schrecklich nett, wie beide zu mir waren. Sollten meine Alarmglocken schrillen?

Sie hatte im Schuh-Bi rumgeschnüffelt, er hatte sich nach Hans’ Schatz erkundigt. Bonnie und Clyde. Oh ja, meine Alarmglocken sollten schrillen. Sie taten es auch, doch ich gebot ihnen Einhalt.

Du darfst nicht allen Menschen gleich das Schlechteste unterstellen, Teddy. Vielleicht bist du diejenige, die spinnt und die böse veranlagt ist, schließlich bist du es ja auch, die auf diese ganzen dummen Gedanken kommt. Lebe endlich, Teddy! Lebe und genieße!

Du metamorphierst gerade, das ist es. Und von einer Pfingstrose Duft naschen nun mal alle gern. Wow, von allen schlechten Sprüchen, die ich je gemacht hatte, war das wohl der schlechteste.

Ich bog in die Sieveringer Straße ein und schlich lustlos die Häuser entlang, bis mir einfiel, dass ich einen Abstecher in den Drogeriemarkt machen könnte. Um mir eine verwöhnende Bodylotion zuzulegen.

Ich hatte mir immer schon gerne die ganzen Kosmetikartikel angesehen, aber um ehrlich zu sein, gönnte ich mir nie was davon. Auf die Idee wäre ich bisher gar nicht gekommen.

Ich roch mich durch sämtliche Lotionen. Arbeitete mich von den billigen hoch bis zu den teuren und weiter zu den unerschwinglichen.

»Kaufen Sie auch eine?«, fragte eine Regalbetreuerin leicht genervt.

»Natürlich«, rief ich ertappt, behielt die teuerste Flasche von allen in der Hand und trat die Flucht an. Bei den Duschbädern angekommen, ärgerte ich mich über meine Eilfertigkeit. Ich machte kehrt und marschierte die drei Schritte zurück zu den Bodylotions. Die Verkäuferin hob die Augenbrauen.

»Ich muss doch wissen, wie die riecht, bevor ich sie kaufe, oder?«, fragte ich aufmüpfig. Sie fand das keiner Antwort wert und ging in den nächsten Gang. Unbefriedigend, ich hätte gerne noch ein bisschen mehr gestänkert. So unbefriedigend, dass ich mir ein paar weitere Produkte gönnen musste. Ich suchte das Regal ab. Gegen Cellulite stand groß auf einer goldenen Packung. Sichtbares Ergebnis bereits nach vierzehn Tagen. Ich schnaubte und begann mich durch sämtliche Anti-Cellulite-Produkte zu wühlen. Ergebnis nach zehn Tagen. Ergebnis nach drei Wochen. Ergebnis nach fünf Tagen. Was Schnelleres gab es nicht. Ich schnappte mir die Flasche und las mir die Beschreibung an der Seite durch.

»Nein, so was, liebe Teddy!«

Mr. Rochester. Der Zahnarzt. Der mich für schön hielt und mich nun mit einer Packung sündhaft teurer, absolut entwürdigender Orangenhautcreme vor sich fand. Ich lächelte gequält.

»Was kaufen Sie denn Schönes?«

»Für m – meine Mutter«, stammelte ich. »Sie hat –«

»Eine sehr fürsorgliche Tochter. Ich verstehe das.« Er lächelte, drückte dabei sanft die Augen zu, so lange, bis ich vollends geschmolzen war.

»Bis heute Abend, Teddy. Ich freue mich.«

Ich sah ihm nach. Seine blonden Haare wippten bei jedem Schritt, den er machte. Ich merkte, dass ich mir auf die Unterlippe biss. Und mein Atem viel zu schnell ging. Doch ich wusste, dass ich das verklärte Lächeln auf meinen Lippen nicht nur dem Zahnarzt, sondern auch mir selbst zu verdanken hatte. Ich war stolz. Oh ja. Denn ich hatte die Situation mit der Cellulitecreme wunderbar gemeistert. Ich war nicht im Erdboden versunken und ich hatte keine Aliens gerufen. Als wäre ich plötzlich erwachsen geworden. Es war wunderbar, erwachsen zu sein.

An der Kassa musste ich warten. Die Dame vor mir stapelte geschätzte vierhundertzweiundneunzig Schälchen Katzenfutter auf das Förderband, in unterschiedlich hohen Türmen, so dass die Kassiererin erst recht alle zählen musste. Bei Turm Nummer acht hatte sie allerdings vergessen, wie viele sie bisher gezählt hatte, und fing von neuem an. Ich schloss die Augen. Als ich sie wieder öffnete, fiel mein Blick auf das Wort Orgasmus. Auf einer Schachtel in einem Regal direkt neben der Kassa. Verjüngen Sie Ihren Beckenboden mit der Reizstrom-Vaginalsonde, stand da. Daneben war eine Abbildung der Sonde, die ein bisschen wie eine silberne Glühbirne aussah, aus deren Sockel zwei Kabel hingen. Ich schob mir die Brille näher an die Augen und las weiter: Die Femaline-Vaginalsonde dient der Behandlung von Inkontinenz und zur Stärkung des Beckenbodens vor und nach der Geburt. Ein trainierter Beckenboden steigert nicht nur die Orgasmusfähigkeit der Frau, sondern kann auch zur stärkeren Lustempfindung des Mannes eingesetzt werden.

Die letzten Worte klangen phantastisch. Vielleicht war das die Lösung für eine meiner Urängste.

Ich sah die Szene schon vor mir:

Der Pirat und ich bei der Erfüllung unserer Träume, unserem ersten gemeinsamen Mal. Ich, wundersam erschlankt, in einem weißen Negligee. Der Pirat komplett nackt, schier von Sinnen aus lauter Leidenschaft. Er reißt mir das sündige Negligee vom Körper, staunt über meine perfekten Formen, wirft sich auf mich, liebt mich. So sehr und so wild und so innig, wie noch nie ein Mann eine Frau geliebt hat. Ich lasse ihn meinen trainierten Beckenboden spüren. Er jault auf vor Lust, bricht erschöpft über mir zusammen, flüstert: »Du unglaublich erfahrene Liebhaberin, Frau meiner Träume. Noch nie hatte ich eine Partnerin, die so genau wusste, was ich brauche. Ich möchte immer bei dir sein. Immer. Immer.«

Ich griff nach der Vaginalsonde. Die Katzenfrau hatte zwar soeben bezahlt, es dauerte aber, bis sie die Futterschälchen auf ihre sieben Einkaufstaschen aufgeteilt hatte.

Die Vaginalsonde lag in ihrer riesigen weißen Schachtel neben der Bodylotion und der Cellulitecreme auf dem Förderband und wartete. Ich biss mir auf die Lippen und wartete auch. Es ist nichts dabei, redete ich mir gut zu. Du bist erwachsen. Du hast das Recht, alles in dem Laden zu kaufen, was sie anbieten. Es ist nichts dabei. Die Katzenfrau zog ab. Die Kassiererin schob erst die beiden Lotionen über den Scanner, dann die Vaginalsonde. Es ist nichts dabei, sagte ich mir noch mal, rein gar nichts. Die Kassiererin sah mich an.

»Ich habe ein Kind bekommen«, erklärte ich.

»Schon klar. Das macht hundertzweiundvierzig Euro und dreißig Cent.«

Ich wühlte das Geld hervor und murmelte: »Drei Wochen alt ist er. Mein Sohn.«

»Mmhm.« Gelangweilt drückte sie mir das Wechselgeld in die Hand.

Ich steckte es ein, schnappte mir meine Schätze und – starb.


»Frau Kis!«

Ich starb, war aber leider nicht tot. Ich starrte den Piraten an. Der Pirat starrte die Femaline-Reizstrom-Vaginalsonde an.

Ich starb noch einmal.

Und war leider immer noch nicht tot.

Mein Blick senkte sich auf die Schachtel. Ganz langsam. Aliens, bitte … Dir wird etwas einfallen, Teddy. Es gibt ein Leben nach dem Tod. Dir wird etwas –

»He«, rief ich aus. Im empörtesten Ton, den ich mir von meinen Kundinnen nur hatte abhören können, »he, das ist ja gar keine Energiesparlampe! Das ist … Strom!« In Richtung Kassa rief ich: »Sie haben mir das Falsche verkauft. Ich wollte eine Energiesparglühbirne für meine Küchenlampe, keine … mit Strom. Da hängt ein Kabel dran, zwei Kabel sogar, das brauch ich nicht. Das brauch ich nicht«, wiederholte ich, zum Piraten gewandt.

Die nette Dame von der Kassa erwiderte: »Lampe? Das ist eine Schei-den-son-de. Für’n Orgasmus. Aber Sie haben mir ja g’sagt, Sie brauchens, weil’s ein Kind ’kriegt haben.«

»Was?«, rief ich. Dann wieder zum Piraten gewandt, im Flüsterton: »Ich glaube, die Frau ist komplett … Sie wissen schon. Naja, ich will ihr keine Umstände machen.« Ich ging zur Kassa und sagte laut: »Ich will Ihnen keine Umstände machen, aber die Glühbirne brauche ich nicht.« Etwas leiser fügte ich hinzu: »Ich bekomme doch mein Geld zurück, oder?« Ich legte die Schachtel ins Regal zurück, wartete, bis die genervte Kassiererin mir die neunundneunzig Euro zurückgegeben hatte, und marschierte dann zum Piraten zurück. Hocherhobenen Hauptes. Knallrot, das spürte ich, aber zumindest hocherhobenen Hauptes.

»Geht’s Ihnen gut?«, fragte ich ihn. »Schöner Tag heute, nicht wahr? So heiß. Ein langer Sommer. Ich mag den Sommer. Schön heiß. Wie geht es Ihnen?«

Er nickte, streifte mich dabei kurz mit dem Blick und sah dann schnell weg. Seltsamer Mann. Schweigend gingen wir die paar Meter bis zum Libri Liberi. Er machte den Mund auf, doch dann schloss er ihn wieder und nickte mir nur zum Abschied zu. Das war zu wenig.

»Herr Nemeth«, krächzte ich und hörte mich an wie ein sterbender Rabe, »Herr Nemeth, es bleibt doch bei Samstag, oder?«

Er nickte ein letztes Mal, dann verschwand er in seinem Laden.

Am liebsten hätte ich meine Nase an seine Fensterscheibe gedrückt und wäre den ganzen Tag so geblieben, bei ihm. Aber das ging natürlich nicht. Ich drehte mich zur anderen Straßenseite, wollte zu Batman hinüber, doch neben ihm stand Herr Wagenleithner und rauchte. Ich hob die Hand und winkte Batman zu. Herr Wagenleithner hob die Hand und zeigte mir den Mittelfinger. Mir blieb der Mund offen stehen. Das war heute echt nicht mein Tag.

»Deine Freundin war schon wieder da.«

Immerhin sprach Be-De wieder mit mir. Ich freute mich so sehr darüber, dass ich großmütig sagte: »Tut mir leid wegen gestern. Das war alles nicht so gemeint.«

Be-De seufzte großmütig. »Entschuldigung angenommen.«

Zufrieden verzog mich nach hinten, um mich umzuziehen. Be-De kam hinter mir her. »Was will die eigentlich von dir?«

Ich drehte das Wasser auf und zuckte mit den Schultern.

»Na komm, heute ist schon der dritte Tag, an dem die sich hier herumtreibt.«

»Bonnie-Denise, könntest du mich kurz alleine lassen, damit ich mich umziehen kann?«

Diesmal war der Seufzer noch lauter. »Aber beeil dich, Nancy kommt um elf vorbei.«

Ooooh, das war gut, das war sogar sehr gut.

Normalerweise war es natürlich schlecht, wenn Nancy kam. Nancy war frustriert, unfreundlich und zog das einzige bisschen Befriedigung in ihrem Leben aus der Meckerei. Wobei, wahrscheinlich nicht mal daraus.

Sie war Ende dreißig und so dünn, dass ich an ihrer Stelle immer glücklich gewesen wäre. Sie hatte zwei Ex-Männer und einen zukünftigen Ex, und drei Kinder aus der allerersten Ehe, die jedoch nicht bei ihr wohnten, sondern bei ihrem ersten Ex-Mann. Gott sei Dank, sagte Nancy, Gott sei Dank wohnten sie nicht bei ihr, und Gott sei Dank Ex.

»Wieso wird hier nicht verkauft?«, war ihre erste Frage, als sie um Punkt elf hereinkam. »Was ist das überhaupt für ein Laden, in dem die Chefin und zwei Angestellte stehen, aber kein einziger Kunde? Was seid ihr für Verkäuferinnen?«

Das Schöne war, Be-De und ich konnten reagieren, wie wir wollten. Uns rechtfertigen, Däumchen drehen oder auch Nancy die Zunge herausstrecken. Sie würde uns sowieso nicht feuern. Das ist der Vorteil, wenn man für zu wenig Geld arbeitet. Nancy wusste, dass unsere Nachfolger um nichts besser sein würden als wir.

Interessanterweise hatten sowohl Be-De als auch ich dennoch immer das Bedürfnis, uns zu rechtfertigen. Wir machten keine schlechte Arbeit. Wenn ein Kunde hereinkam, wurde er freundlich und gut bedient, mehr konnte man von uns nicht verlangen.

»Es ist der lange Sommer«, sagte Be-De und wackelte mit ihrem Pferdeschwanz. »Sommerschuhe kaufen die Leute Anfang September nicht mehr, da wären sie ja verrückt. Und für Herbstschuhe ist es zu heiß. Bei achtundzwanzig Grad haben die Leute anderes zu tun, als an die kalte Jahreszeit zu denken.«

»Und was ist Ihre Ausrede, Teddy?« Nancy zog die Mundwinkel bis runter auf die Schultern, und ich dachte bei mir, was sie doch für einen wunderbaren traurigen Clown abgeben würde.

»Heute mal nichts«, antwortete ich. »Ich habe aber eine Frage an Sie.«

Nancy zog die Augenbrauen bis zum Scheitel, also einen knappen Meter über die Mundwinkel.

»Hat Hans Ihnen die Sachen von Frank Sinatra vererbt?«

»Erstens, welcher Frank Sinatra, zweitens, welche Sachen, und drittens, was geht Sie das an?«

»Okay, also erstens, der Frank Sinatra, zweitens, die Sachen von ihm, und drittens, Nancy, entschuldigen Sie, aber ich würde einfach gerne wissen, wo die Sachen hingekommen sind. Ich habe Sie vor drei Jahren schon mal danach gefragt, erinnern Sie sich?«

»Woher soll ich wissen, wo das Zeug ist? Nichts hat er mir vererbt. Nichts.«

»Das Schuh-Bi-Dubi-Du aber schon«, warf Bonnie-Denise ein.

»Dafür werd ich ihm im Jenseits danken. Darauf könnt ihr euch verlassen«, knurrte Nancy.

Danach schob sie die Kassa von der linken Seite in die Mitte der Theke und verließ das Etablissement.

»Die nervt«, gab Be-De zu Protokoll.

»Und wie«, stimmte ich zu.

»Und was sollte das mit Hans?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. In letzter Zeit haben mich einige Leute auf die Geschichte angesprochen. Ich hab gar nicht mehr daran gedacht, dass wir früher echte Sinatra-Originale hier gehabt haben. Auch eine Ukulele. Und ein Foto, auf dem Sinatra und Hans gemeinsam drauf waren. Aber eines Tages hat er die Sachen heruntergenommen.«

Be-De schob die Kassa zurück auf die linke Seite und meinte: »Er wird sie einfach mit nach Hause genommen haben, oder?«

Wie langweilig. Und wie unwahrscheinlich. Ich zweifelte das an: »Erstens hat Hans mir damals gesagt, er würde die Sachen bald wieder aufhängen, und zweitens müsste Nancy sie dann doch haben. Sie hat seine Wohnung aufgelöst.«

»Hmm, vielleicht in einem Bankschließfach?«

»Samt Ukulele? Glaub ich nicht. Außerdem hätte Nancy nach seinem Tod ja auch das Bankschließfach räumen müssen.« Ich schob den Vorhang beiseite. »Ich glaube eher, dass er die Sachen irgendwo vergraben hat oder so. Und nachdem es seine Wohnung nicht mehr gibt, müssten sie eigentlich hier sein.«

»Hier?«

»Ja. Vielleicht im Lager unter all den Kartons. Oder im Klo unter einer abnehmbaren Fliese. Oder im Spülkasten.«

»Samt Ukulele?«, fragte Be-De mit hochgezogener Augenbraue und völlig zu Recht.

Ich sah trotzdem nach.

Eine Minute später hatte ich den Deckel des Spülkastens ruiniert und zwei angeknackste Fliesen an den Wänden entdeckt, von denen ich zumindest eine mit ein bisschen Brutalität rausbrechen konnte. Drunter war grauer Verputz, der sich bröckchenweise von der Wand löste.

Be-De schüttelte zwar den Kopf, wirkte aber recht heiter dabei.

»Und was hast du jetzt vor?«, fragte sie. »Die ganzen Schuhkartons durchsuchen?«

Da war er wieder, dieser ungute Gedanke an Vanessa und ihre gestrige Aktion. Wenn ich Be-De jetzt davon erzählte, würde sie sich schieflachen und höhnen, dass sie sich ja gleich gedacht hat, dass die aufgetakelte Schönheit nicht meine Freundin war.

»Hilfst du mir, die Schuhkartons zu durchsuchen?«, fragte ich sie stattdessen.

Be-De schwang ihren Pferdeschwanz. »Logo«, sagte sie.

Die Unbekümmertheit der Jugend hatte manchmal doch auch ihren Vorteil.


Als Be-De um eins ging, hatten wir etwa ein Fünftel der Kartons durchsucht. Wäre die kleine Melli nicht mit ihrem tropfenden Schokoladeneis in den Laden gekommen und hätte uns beide über eine Stunde auf Trab gehalten, dann hätten wir vermutlich sogar noch mehr geschafft.

Um halb drei schneite Vanessa rein. Ich bediente gerade die Frau unseres Fleischers, die sich ihre monatliche Ration an weißen Pantoffeln holte. Für sich, für ihren Mann und für den Lehrling, der zwar neu war, aber sicher die gleiche Schuhgröße hatte wie der alte Lehrling. Na klar, dachte ich, Schuhgröße 43 haben Lehrlinge so an sich.

Als Vanessa erschien, fiel mir auf, dass Be-De und ich vor lauter Schatzsuchen vergessen hatten, die Sinatra-CD auf Repeat zu stellen. Kein Girl from Ipanema für Vanessa heute. Das tat mir fast ein bisschen leid, doch dann sagte Vanessa: »Wunderschönen guten Tag, liebste Freundin, ich gehe gleich nach hinten, gell?«

»Nein!«, rief ich und ließ die weißen Pantoffeln fallen. »Neineinein, ähm, Frau … gnä’ Frau, das macht dann 42 Euro 80. Vanessa, warte bitte!«

Die Frau vom Fleischer drückte mir einen Fünfziger in die Hand, ich öffnete die Kassa, schleuderte den Fünfziger hinein und warf der Dame irgendwelches Restgeld entgegen.

»Auf Wiedersehen«, verabschiedete ich die Kundin und stürzte mich auf Vanessa, die gerade hinter dem Vorhang verschwinden wollte.

»Halt, was machst du denn da? Bleib hier, um Gottes willen, da – da drin ist meine Chefin«, verfiel ich in den Flüsterton. »Du kannst da jetzt nicht rein.«

»Oooch«, Vanessa zog eine Schnute, die ihr das Aussehen einer Ente bescherte. Natürlich von so einer süßen, hübschen von Walt Disney oder so.

»Es tut mir leid, Vanessa.«

Die Ente schmollte. »Wann kann ich mir die Schuhe endlich fertig ansehen?«

»Warum ist das überhaupt so wichtig?«, fragte ich misstrauisch und betete inbrünstig, dass sie mir einen glaubwürdigen und vor allem stinknormalen Grund nennen konnte. Ich wollte doch bitte, bitte einfach nur, dass sie mich wirklich mochte und dass sie wirklich meine Freundin sein wollte, bitte, bitte, alles andere würde ich nicht ertragen.

Vanessa sank auf meinen Hocker. Verdammt, ich hatte ihn nach dem Besuch der kleinen Melli vorhin noch nicht abgewischt und Vanessa trug heute so schöne helltürkise Shorts. Außerdem gab sie wieder ihre Weltschmerznummer. Wahnsinn, die Tränen perlten von ihrem Gesicht ab wie Wasser von einem Entenpopo.

»Vanessa, was ist denn? Ich wollte dich nicht traurig machen.« Ich streichelte ihren Rücken, doch die Bewegung war mir so fremd, dass ich mir sicher war, alles falsch zu machen. Und die Worte hatten geklungen, als würde ich meinen ersten Auftritt bei der Laienbühnengruppe von Sankt Hintermond geben. Im Trösten hatte ich nicht viel Übung.

Vanessas Vorstellung hingegen war oscarreif. Es regnete wahre Sturzbäche aus ihren Augen, ja, es stand fast zu befürchten, dass die schöne blaue Farbe ein Opfer dieser Niagarafälle werden würde. Ente mit weißgewaschenen Augen.

Konzentrier dich, Teddy, mach was!

»Bitte, Vanessa, bitte sag mir doch, was du hast –«

»Ich bin krank, Teddy, verstehst du das nicht? Krank!«

Ich hockte mich neben sie, mein Herz klopfte plötzlich sehr schnell. »Was … was hast du denn?«

»Ich bin süchtig. Ich bin süchtig nach Schuhen. Von früh bis spät kann ich an nichts anderes denken. Mein ganzes Leben dreht sich nur darum. Und Geld hab ich auch keines mehr, weil ich – oh Gott!« Vanessa schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte laut auf. »Es ist so schwer, so wahnsinnig schwer, sich das selbst einzugestehen. Mir das selbst einzugestehen, verstehst du? Verstehst du?«

Ich nickte. Dass Dinge schwer waren, verstand ich. In der Tat.

»Teddy«, Vanessa griff nach meiner Hand und sah mich flehend an. »Teddy, bitte, lass mich nur noch ein einziges Mal da nach hinten!«

»Nein«, sagte ich fest. »Dann wäre ich keine gute Freundin.«

»Oh Teddy, willst du überhaupt noch meine Freundin sein?«

»Ja, natürlich. Es … es gibt doch keinen Grund, warum ich das nicht sein wollte. Außer dass … naja, du … du kommst wahrscheinlich nur wegen der Schuhe her …«

»Nein!«, rief Vanessa. »Nein, das stimmt so nicht. Hauptsächlich natürlich schon wegen der Schuhe, ja. Aber ein bisschen auch, weil ich dich mag. Du bist einfach so anders als die anderen Frauen, die ich kenne … du bist einfach so schön normal.«

Ich musste lachen. »Warum? Weil ich nicht auf Schuhe stehe?«

Vanessa lachte nicht mit. Sie nickte heftig und ernst. »Ja, genau deswegen.«

Und ich hatte immer gedacht, dass ich genau deswegen eben keine normale Frau war.

Ich räusperte mich. »Was hältst du davon, wenn wir uns das nächste Mal woanders treffen, nicht hier?«, fragte ich zaghaft. »Falls du mich wirklich treffen willst?«

»Sehr gern, Teddy.« Sie schniefte ein letztes Mal, dann erhob sie sich und strich ihre Shorts glatt. »Rufst du mich an?«

Ich nickte. Wir küssten uns zum Abschied auf beide Wangen, und ich hatte ein warmes Gefühl in der Herzgegend, als Vanessa zur Tür ging, mit einem braunen Eisfleck auf ihrem türkisenen Popo.


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