chapter 3
Ich rannte, als ginge es um mein Leben. Zumindest die ersten zweihundert Meter. Bei der Trafik, in deren Hinterzimmer ich vor elf Jahren meinen ersten Kuss bekommen hatte, musste ich eine Pause einlegen. Die Zunge hing mir bereits aus dem Hals. Danach ließ ich es ruhiger angehen.
Verrückte Welt. Nach meinen nächtlichen Überlegungen hätte ich mich in aller Herrgottsfrühe mit Sachertorte vollstopfen, danach meinen Job kündigen und anschließend nach Paris abdüsen können. Doch was sollte ich in Paris, wo doch der Pirat hier war? Was sollte ich mit Sachertorte, wo ich doch nichts lieber wollte, als dem Piraten zu gefallen? Also hatte ich mich entschlossen, das erste Mal in meinem Leben Sport zu machen, danach brav arbeiten zu gehen und mein Leben in geordnete Bahnen zu bringen. Wenn Mama mir am Sonntag wirklich den Kopf abriss, konnte ich immer noch in Richtung Flughafen flüchten.
Morgen war Sonntag und plötzlich war mir speiübel. Meine Laufhose namens Damen Running Dreiviertel Tights, die ich mir vor Jahren gekauft und bisher noch nie getragen hatte, schnitt in meinen Bauch. Außerdem war sie viel zu heiß und brachte absolut nicht das, was ich erhofft hatte. Der Stoff war fest, und genau diese Festigkeit hatte ich mir für meine Schenkel gewünscht. Doch bei jedem harten Laufschritt auf dem Asphalt spürte ich ein eigenartiges Wabbeln vom Bauch bis zu den Knien und zurück. Und die Weste, die ich mir um die Hüften gezurrt hatte, reichte links und rechts nicht weit genug nach vorne, um irgendwas zu kaschieren.
Ich blieb stehen. Mein Atem rasselte. Nicht mal was zu trinken hatte ich dabei. Es war halb zehn, und es hatte bereits 28 Grad. Ich würde vollkommen verschwitzt im Geschäft ankommen. Okay Teddy, nicht unterkriegen lassen. Du hast frische Kleidung im Rucksack und ein Waschbecken im Schuh-Bi. Der Rest ist egal. Nein, nicht nur egal, sondern wurscht. Mama mochte es gar nicht, wenn ich »wurscht« sagte. Sie nannte mich dann Proletin. Ich grinste und lief weiter. Jetzt war alles wurscht. Das war ja ein wahres Zauberwort. Problem da? Ein kurzes Schulterzucken, ein saloppes Wurscht – Problem wieder weg.
Gut, wir reden hier nicht von Leukämie oder abgetrennten Körperteilen. Aber immerhin von Schweiß. Und ich hatte schon durchaus tragische Momente durch ebensolchen erlebt. Ich sage nur zwei Worte: »Tanzstunde« und »Kunstfasershirt« (Mamas Idee, beides).
Ein lautes Hupen riss mich unsanft aus meinen Gedanken. Ich machte einen Satz zur Seite. Erst als der LKW vorbeigetost war, fühlte ich den Körperkontakt.
»Da hat wohl jemand ein bisschen geträumt …«
Ich fuhr herum. Die Arme, die mich auf den Gehsteig gezerrt hatten, gehörten zu Dr. Strohmann. Ich hatte ihn noch nie aus nächster Nähe gesehen, trotzdem erkannte ich ihn sofort. Wenn er auf dem Weg zu seiner Praxis am Schuh-Bi vorbeischritt, klebte die gesamte weibliche Kundschaft an der Fensterfront. Dr. Strohmann wusste, was sich gehörte, und winkte jedes Mal durchs Fenster. Er war der Superstar der Sieveringer Straße. Und jetzt stand er vor mir, ganz nah.
Hätte ich einen Busen, dann hätte er seine Rippen gestreift. Mir war entsetzlich schwindlig. Meine Lippen waren ausgetrocknet, ich hatte den Geschmack von abgestandenem Kaffee im Mund und wünschte, ich hätte meinen Kaugummi nicht ein paar Laufmeter zuvor verschluckt.
»Endlich habe ich mal ein Leben retten können. Dafür haben sich die sieben Jahre Medizinstudium gelohnt.« Die weißen Zähne blitzten im gebräunten Gesicht, und mir wurde klar, dass er meine verschwitzten Oberarme noch immer nicht losgelassen hatte.
»Danke, Herr Strohmann«, brachte ich hervor, »ich meine Doktor –«
»Sie arbeiten doch in dem kleinen Laden neben mir?«
Ich nickte und merkte, dass mir der Mund offen stand.
»Und? Sind Sie auf dem Weg dahin? Dann können wir ja gemeinsam gehen.« Seine Hände glitten an meinen Armen herab. Ich spürte, dass mein Gesicht knallrot war, und hoffte, Dr. Strohmann würde diesen Umstand auf meine Sportlichkeit zurückführen. Gemeinsam überquerten wir die Straße. Meine Knie fühlten sich an wie Wackelpudding. Ich neben dem schönen Zahnarzt, das war doch verkehrt. Das fühlte sich an, als wäre ich … ja, tatsächlich fühlte es sich an, als wäre ich eine richtige Frau.
Dr. Strohmann war groß, sicher über eins neunzig. Ich ging ihm gerade mal bis zur Schulter. Und diese Schulter war so nah neben meinem Kopf, dass seine Hand immer wieder an meinen Unterarm streifte. Goooott …
»Laufen Sie regelmäßig?«, fragte er plötzlich.
»Gott, nein«, entfuhr es mir voller Überzeugung. Verdammt! »Also früher schon, natürlich, ja, ja, aber jetzt … so viele andere Verpflichtungen, Hobbys, naja …«
»Segen und Fluch unserer Zeit«, meinte mein Begleiter kryptisch, und ich erwiderte: »Genau das. Sie sagen es.« Als wäre ich eine richtige Frau und als würde ich ein richtiges Gespräch führen.
Wir bogen in die Sieveringer Straße ein.
»Wissen Sie, dass ich Sie heute das erste Mal aus der Nähe sehe?«, sagte Strohmann plötzlich.
»Ja«, platzte ich heraus. »Ich meine – ich meine, ich Sie auch …«
Ich starrte ihn an, und er zwinkerte mir zu. Am liebsten hätte ich laut losgekichert.
Das Geschäft des Piraten lag dunkel und verlassen da. Trotzdem beschleunigte sich mein Herzschlag. Strohmann sah mich prüfend an. Schnell senkte ich den Kopf. Vor dem Schuh-Bi blieben wir beide stehen, und Strohmann nahm meine rechte Hand in beide Hände.
»Es hat mich sehr gefreut, ein Stück des heutigen Weges mit Ihnen gemeinsam zu gehen«, sagte er und sah mir dabei in die Augen.
War das versteckte Kamera oder so was? Noch nie hatte ein Mann so mit mir geredet. Und einer wie Dr. Strohmann redete sonst gar nicht mit mir.
»Mich auch«, piepste ich. Und dann, in einem plötzlichen Anfall von Wagemut: »Vielleicht trifft man sich ja wieder …« Meine eigene Courage war mir so peinlich, dass ich ein schnelles »Hihihi« dranfügte, wie um das Gleichgewicht der Natur wiederherzustellen. Teddy Kis war ein wandelndes Fettnäpfchen, und das durfte sich auch nicht ändern.
Doch der Zahnarzt blieb gelassen. »Wer weiß …«, entgegnete er mit samtweicher Stimme. Ich presste die Lippen zusammen, um ein dämliches Teenagergrinsen zu unterdrücken, was leider misslang. »Ciao«, machte Strohmann, hob die Hand und blinzelte mir zum Abschied zu. »Ciao«, machte ich, drehte mich um und knallte mit dem Kopf gegen die Glastür. Ich riss sie auf und stolperte ins Geschäft, noch ehe mir Dr. Strohmann seine ärztliche Hilfe anbieten konnte. Bonnie-Denise, die gerade einer unserer Stammkundinnen, einer pailettenbesetzten Mittsechzigerin, glitzernde Geox-Sportschuhe anprobieren wollte, schnatterte los: »Was hast du denn mit ihm geredet? Warum hat er deine Hand gehalten? Teddy, ich hab ja gar nicht gewusst, dass du ihn kennst! Bist du Patientin bei ihm? Was macht er überhaupt am Samstag hier, die Praxis ist doch geschlossen. Und warum hat er dich so angelächelt?«
Die letzte Frage klang nicht sehr schmeichelhaft, trotzdem fühlte ich etwas völlig Unbekanntes in mir aufkeimen. Stolz. Ein unerwarteter, kindischer Stolz. Und wieder das Teenagergrinsen.
»Wir haben uns unterwegs getroffen, und er hat vorgeschlagen, dass wir ein Stück gemeinsam gehen.« Es klang nicht ganz so selbstverständlich, wie ich gern gewollt hätte. Als ich die skeptischen Blicke der beiden sah, hielt ich einen Themenwechsel für angebracht. Ich legte die Hand hinter die Ohrmuschel und fixierte Bonnie-Denise mit einem, wie ich hoffte, strengen Blick. Das Dominante lag mir nicht so.
»Kann es sein, dass ich nichts höre?«, fragte ich sie.
Sie stöhnte genervt auf. »Ich hab die Chose heute schon zweimal rauf und runter gespielt. Eine Sekunde, bevor du gekommen bist, war sie aus. Ich wollte gerade wieder auf ›Play‹ drücken.«
»Schalte doch einfach auf Repeat, dann macht das Gerät alles von alleine«, antwortete ich und startete die CD neu.
»Ich sollte eine Gefahrenzulage für den Job verlangen. Irgendwann kriege ich noch Ohrenkrebs«, knurrte Bonnie-Denise.
»Aber singen tut er schon schön, der Frank Sinatra«, schlug sich die Kundin ausnahmsweise auf meine Seite. »Und der Hans hat ihn halt so gerne gehabt. Richtig vernarrt war er in ihn.«
»Und wir müssen das jetzt büßen«, stellte Bonnie-Denise düster fest, worauf die Kundin kicherte.
»Der Hans war großartig«, sagte ich mit fester Stimme. »Und ich würde alles tun, was in seinem Sinne gewesen wäre.«
Bevor Bonnie-Denise weitere despektierliche Bemerkungen über zwei der wichtigsten Männer in meinem Leben machen konnte, trat ich die Flucht an.
»Bin gleich wieder da«, versprach ich, stieß die Ladentür auf, vergewisserte mich, dass kein Zahnarzt in der Nähe war, und lief auf die andere Straßenseite. Keuchend ließ ich mich vor Batman nieder. »Hallo, mein braver, süßer Großer. Geht’s dir gut? Heiß ist es, gell.« Ich streichelte ihn mit beiden Händen, kraulte das raue Fell auf seiner Stirn, seine spitzen Ohren und flüsterte weiter: »Das war nicht nett von mir, dass ich einfach so reingegangen bin, ohne dich zu begrüßen, gell. Gar nicht nett von mir. Aber jetzt bin ich ja da.«
Batman brummte zufrieden und legte dann seinen Kopf auf meine Knie. Aus dem Inneren des Ladens, den er bewachen sollte, hörte ich das Schaben von Stuhlbeinen über Fliesen.
»Ich muss gehen«, hauchte ich Batman zu, strich ihm ein letztes Mal über den Kopf und huschte über die Straße zurück in den Schuhladen.
Sehr zum Amüsement von Bonnie-Denise und ihrer Kundin.
»Ach«, zwitscherte diese verzückt, »mit wem hat denn das Fräulein Teddy nun die Romanze? Der Zahnarzt hat nur gelächelt, aber dem da drüben ist sogar der Speichel übers Kinn gelaufen.« Sie stupste Bonnie-Denise mit dem Ellenbogen an und beide stießen ein kreischendes Lachen aus.
Dämliche, dämliche Weiber. Ich ging an ihnen vorbei und verschwand hinter dem Vorhang. Am Waschbecken zog ich mir BH und T-Shirt aus und begann, mir die Achseln zu waschen. Aus dem Spiegel sah mir ein schmales Gesicht entgegen. Ich dachte daran, wie Strohmann mich angeschaut hatte, betrachtete meine Augen und überlegte, ob es nicht vielleicht doch Augen waren, in denen ein Mann versinken konnte. So wie bei den Frauen in meinen Büchern. Wohl kaum. Mein Blick wanderte tiefer. Schmale Lippen und zu kleine Zähne dahinter. Mäusezähne, wie Tissi schon als Kind gespottet hatte. Passend zu den Mäusefäustchen, die an meinem Oberkörper hingen und wohl als Busen gedacht waren. Das ganze Fett, das ich in mich hineinfutterte, landete in meinen Oberschenkeln und im Hintern. Nur nie, nie, nie in den Mäusefäustchen.
Ich lehnte mich gegen die geflieste Wand. Wurscht, Teddy, ist doch alles wurscht …
»Teddy!« Bonnie-Denises Stimme gellte durch den Laden, und ich hoffte, dass ihre Kundin schon gegangen war, sonst würde sie jetzt taub sein.
»Ja!«, rief ich zurück. Wurscht, Teddy, immer mit der Ruhe, ganz ausgeglichen, ganz wurscht … verdammt nochmal scheißscheißscheißwurscht! Konnte ich nicht wieder nach Hause gehen? Einfach krank sein?
Normalerweise hatte ich nichts gegen Bonnie-Denise. Als sie vor zwei Jahren bei uns angefangen hatte, war ich zwar anfangs von ihrem ständigen Gequake genervt gewesen – meine Kinder hier, mein Mann dort, unser Haus hier, unser Garten dort. Doch ich hatte mich damit abgefunden, dass mir eine damals Dreiundzwanzigjährige an die Seite gestellt wurde, die nicht nur liebende Zwillingsmutter, sondern auch glückliche Ehefrau, Hobbygärtnerin, Hundebesitzerin und Esoterikerin war.
Ich glaube, was mich von Anfang an mit ihr verbunden hatte, war die Sache mit den unsäglichen Vornamen gewesen. Sie war Mitte der achtziger Jahre geboren worden, als Kind zweier jugendlicher Knight-Rider-Fans, die ihre Tochter nach Michael Knights Freundin Bonnie benannt und aus Familienstolz auch noch den mütterlichen Namen drangehängt hatten.
Ich zog mir denselben BH wieder an, aber immerhin ein frisches T-Shirt darüber. »Ich will leben«, flüsterte ich meinem Spiegelbild zu.
»Teddy!«
»Ja, verdammt! Gleich!« Warum kam sie nicht zu mir, wenn sie etwas wollte! »Scheiße«, zischte ich. Allein schon wegen ihrer Schreierei würde ich meinen nächtlichen Vorsatz in die Tat umsetzen und sie ab jetzt nur noch Be-De nennen. Ich schloss die Augen, atmete kräftig aus und flüsterte: »Wurscht. Alles wurscht. Wurscht.«
»Teddy?«
Ich fuhr herum. »Ich hab nur … Atemübungen gemacht«, stammelte ich. Be-Des missbilligender Gesichtsausdruck hätte jeder bigotten Nonne zur Ehre gereicht.
Gereizt sagte ich: »Schau mich nicht so an, Be-Deeee … nise … Bonnie … Denise. Ich hab gesportelt, danach muss man Atemübungen machen.«
Ich drehte den Wasserhahn auf und entdeckte eine beschlagene Stelle auf dem Spiegel, genau in der Größe meines Mundes. Darüber spiegelte sich Be-Des Gesicht. Sie starrte den Fleck an. Bestimmt dachte sie, ich hätte Küssen geübt. Ach, hätte ich mich nur gestern aus dem Fenster gestürzt.
»Was wolltest du denn?«, fragte ich erschöpft.
»Du hast einen Kunden, der auf dich wartet«, antwortete sie geziert und schob schnippisch die Lippen vor.
»Ich habe wirklich Atemübungen gemacht«, wiederholte ich.
»Natüüürlich«, sagte Bonnie-Denise und wandte sich zum Gehen. Am liebsten hätte ich ihr einen Fußtritt in ihren knochigen Hintern verpasst.
»Einen Kunden«, äffte ich Be-Des gezierten Ton nach und wackelte dabei mit dem Kopf. »Der kann mich mal am Arsch lecken, der Kunde.« Irgendwie ging es mir danach besser.
Ich warf die Klotür hinter mir zu und stolperte zurück in den Verkaufsraum. Diese vermaledeite Be-De! Der Kunde war der Pirat! Und ich sah absolut scheiße aus.
»Pir-, ähm, hallo, Grüß Gott, hallo …«
»Guten Tag, Frau Kis.«
»Guten Tag, Herr Nemeth.«
Ich hatte immer noch die Knackwursthose an. Und keine Weste mehr über Hintern und Hüften. Es fiel mir schwer, meine Hände unter Kontrolle zu halten. Ich wollte nichts dringender als mein T-Shirt zu packen und bis runter zu den Zehenspitzen zu ziehen.
Der Pirat sah mich an. Nicht meine Hüften, nicht meine Waden, nur mein Gesicht. Ich starrte zurück. Rechts von mir nahm ich eine Bewegung wahr, das musste Bonnie-Denise sein, die wahrscheinlich ebenfalls glotzte.
»Ähm, möchten Sie Schuhe kaufen?«, fragte ich vorsichtig und fügte dann schnell hinzu: »Sicher … oder?« Natürlich, du Idiotin, was denn sonst, er wird wohl kaum gekommen sein, um dich zu besuchen. Doch dass der anbetungswürdige Pirat so etwas Gewöhnliches tun sollte wie Schuhe kaufen, konnte ich mir einfach nicht vorstellen.
Trotz der ausgebeulten Hose und des ungebügelten Hemds – ach, könnte ich nur für ihn bügeln – sah er überirdisch aus. Die Augenklappe schien frisch geputzt zu sein und glänzte mit seinem sichtbaren grünen Auge um die Wette. Was hielt er denn da in der Hand? Blaue Fransen lugten aus seiner Faust hervor – ich war plötzlich in höchster Alarmbereitschaft – und als er die Worte sagte: »Das haben Sie gestern bei mir vergessen …«, machte ich einen Satz auf ihn zu und riss ihm das unglückselige Fransending aus der Hand. Doch ich war nicht schnell genug.
»Das ist ja einer von unseren Schals! Mit Preisschild! Teddy«, Be-De sah mich empört an, »hast du ihn gestohlen?«
»Gestohlen? Nein! Mir war gestern Abend so kalt und da hab ich –«
»Kalt? Du hast den ganzen Nachmittag geschwitzt wie ein Schwein, also bitte!«
»Schweiß ist nass und da wird einem kalt«, war das Einzige, was mir dazu einfiel. Könnte nicht bitte ein Ufo kommen und mich zu irgendwelchen Aliens bringen, die mich bei lebendigem Leib ausweiden und danach verspeisen würden? Nur bitte, bitte weg von hier! Und dass Bonnie-Denise jetzt auch noch demonstrativ an dem beschissenen Schal schnüffelte und dabei das Gesicht verzog, als hätte sie in eine Zitrone gebissen, machte die Sache nicht unbedingt besser.
»Na dann …«, begann der Pirat zögerlich und sah interessanterweise so aus, als hielte er nach demselben Ufo Ausschau. Das gab mir Mut. »Danke, dass Sie extra vorbeigekommen sind. Noch dazu an Ihrem freien Tag …«
»Ja genau«, mischte Be-De sich ein. »Das wollte ich eh schon immer wissen: Wieso haben Sie am Samstag nicht geöffnet? Kann sich das ein kleiner Laden wie der Ihre in diesen Zeiten überhaupt noch leisten?« Und dabei sah sie den Piraten an, als wäre er der faulste Mensch, der ihr je untergekommen war.
»Wenn ich auf die Einnahmen aus meinem Geschäft angewiesen wäre, dann könnte ich mir das Leben auch bei dreihundertfünfundsechzig offenen Tagen im Jahr nicht leisten«, erwiderte der Pirat. »Ich habe eigentlich nur eine wirkliche Kundin. Und das ist Frau Kis. Auf Wiedersehen.«
Er war so schnell fort, dass ich kaum Zeit hatte, rechtzeitig zu erröten. Ich drehte mich zu Bonnie-Denise und spürte, dass mir Tränen in die Augen traten. Mein Herz klopfte, und wären in diesem Moment Geige spielende Engel vom Himmel geschwebt, ich hätte mich nicht gewundert. Ich war seine einzige wirkliche Kundin. Ich war etwas Besonderes. Für ihn. Und ich Wahnsinnige hätte gestern beinahe dieses besondere Leben weggeworfen.
»Der hat doch einen Klamsch«, sagte Be-De. »Dem möchte ich nicht im Dunkeln begegnen. Außerdem merke«, fuhr sie mit erhobenem Zeigefinger fort, »wer eine Maske trägt, der hat was zu verbergen.« Daraufhin verschwand sie gewichtig hinter dem Vorhang. Mir hingegen schwappte das Glück aus den Augen und rann in Tropfen meine Wangen hinunter. Plötzlich fühlte ich eine tiefe innere Gewissheit, dass nun alles gut werden würde.
Das war, bevor der Nachmittag kam. Und der Abend.