Aschenpummel (German Edition)

chapter 2


Ich flog. Aus der Sieveringer Straße hinaus, die ganze Billrothstraße entlang und schließlich hinunter in die Liechtensteinstraße. Ich flog fast bis zum Franz-Josefs-Bahnhof. Ein paar Häuser davor setzte ich zur Landung an. Ich lehnte mich mit dem Rücken an die Haustür und spürte das Lächeln auf meinem Gesicht. Ein dummes, verklärtes Lächeln, das meine Nasenflügel beben, meine Wangen zittern und mich wahrscheinlich insgesamt wie ein aufgeregtes Walross aussehen ließ.

Nicht dass der Pirat und ich uns noch lange unterhalten hätten. Nur darüber, dass er die Rettung rufen wollte und ich das leicht panisch abgelehnt hatte. Aber es hatte sich etwas verändert. Ab jetzt war ich nicht mehr einfach nur die verrückte Schuhverkäuferin von nebenan, die jeden Abend ein Buch kaufte und nicht redete. Ab jetzt war ich Frau Kis, die einen dramatischen Schwächeanfall gehabt und das mysteriöse Wort »Gasgemische« gesagt hatte. Ich war die Frau, deren Namen er kannte, deren Wange er berührt hatte und zu deren Rettung er die Rettung rufen wollte. Das war Wunder genug, um den Sonntag zu überstehen. Verdammt, das war Wunder genug, um ein ganzes Leben zu überstehen!

So leise wie irgend möglich schlich ich die Wendeltreppe hoch. Ganz innen, wo die Stufen am schmalsten waren. So hatte ich es schon als Kind gemacht, vermutlich um den inneren Balanceakt, den »nach Hause kommen« für mich bedeutete, auch äußerlich nachzuvollziehen. Meine Wohnung lag im fünften Stock und der Lift, der uns seit zwanzig Jahren versprochen wurde, war noch immer nicht gebaut worden. Ich hatte es unbemerkt bis in den ersten Stock geschafft, aber das war noch kein Kunststück. Jetzt. Jetzt wurde es kritisch.

»Du bist spät, Thaddäa.«

Ich stieß einen spitzen Schrei aus. Warum erschreckte ich mich eigentlich jedes Mal? Es war doch ohnehin jeden Abend dasselbe Spiel. Ich schaffte es nie, wirklich nie, mich an Tür Nummer drei vorbeizuschleichen. Oh ja, sie war gerissen. Sie liebte es, mich erst in Sicherheit zu wiegen. Nie riss sie die Tür auf, wenn ich direkt davorstand. Manchmal ließ sie mich noch vier Schritte daran vorbeigehen, dann wieder nur einen.

»Ja, Mama«, sagte ich.

»Ja, Mama«, äffte sie mich nach. »Als ob sie dir in diesem Schuhladen das Sprechen verbieten würden. Das ist doch kein vollständiger Satz. ›Ja, Mama‹. Herrgott, und das bei meinem schwachen Herzen. Wozu die ganze Erziehung?«

»Das ist auch kein vollständiger Satz«, platzte es aus mir heraus.

Meine Mutter griff sich an die Brust. So wie ich zuvor im Libri Liberi, ich hatte eben von der Besten gelernt. Diese Geste war Mamas Paradenummer. Sie signalisierte einerseits einen drohenden Infarkt und andererseits ein durch die versagende Tochter gebrochenes Herz.

Hätte ich es nicht schon so oft gesehen, ich hätte Szenenapplaus gegeben.

»Brauchst du noch irgendwas?«, fragte ich stattdessen.

»Gesellschaft«, krächzte der sterbende Schwan. Auch das war kein vollständiger Satz.

»Mama … ich bin müde.«

Sie hatte dunkelblauen Lidschatten bis hinauf zu den Augenbrauen aufgelegt. Die Haare, die nach dem Versuch sie blond zu färben, gelb waren, fielen ihr spröde auf die Schultern herab. In ihrem weißen, bodenlangen Nachthemd sah sie aus wie Bette Davis als Baby Jane. Zum Fürchten.

»Hat meine kleine Thaddäa ihre Mama nicht mehr lieb?«

Ich warf einen besorgten Blick auf die angrenzenden Wohnungstüren. Es war acht Uhr abends, meine Mutter stand in ihren Plüschpatschen im Treppenhaus und wollte Grundsatzdiskussionen führen.

»Mama –«

»Komm mir nicht mit Mama. Seit du da oben alleine wohnst, weiß ich gar nicht mehr, was du den ganzen Tag tust.«

»Ich war arbeiten, Mama.«

»Länger als sonst.«

»Ich hab nur ein bisschen länger gebraucht, weil ich zu Fuß nach Hause gegangen bin.«

»Ha! Sie vergnügt sich, während ihre alte Mutter einsam ist und ihr weiß Gott was passieren kann. Was, wenn mich eine rumänische Einbrecherbande überfallen hätte?«

»Mama, ich hab doch gesagt, du sollst nicht immer die Jetzt lesen.«

»Die einzige Zeitung, die es in Wien gratis gibt, und meine Tochter verbietet sie mir. Und das, nachdem ich meine beiden Mädchen alleine großgezogen, keinen Schilling Unterstützung von eurem Vater erhalten habe und noch jetzt jeden Groschen, den ich besitze, in euch stecke. Da gestatte deiner Mutter doch bitte die Lektüre einer Gratiszeitung.« Gekonnter Griff an die Brust. »Mama wird noch sterben aus Gram über dich.«

»Mama –«

»Scht!«, befahl meine Mutter. »Geh! Lass mich doch allein. Ich will dich nicht mehr sehen.«

»Ja, Mama.« Ich huschte zur Wendeltreppe.

Tür Nummer drei knallte zu. Von innen hörte ich meine Mutter: »Und wehe, du bist am Sonntag nicht pünktlich!«

Mein eigenes Reich. Vier Stockwerke über meiner Mutter. Zwei Zimmer ganz für mich allein.

Ich hatte die Wohnung vor vier Jahren gemietet. Trotz des Versprechens, das ich Mama gegeben hatte. Sie nie, nie, niemals alleine zu lassen.

Einen Tag bevor ich achtzehn wurde, zog meine Schwester Tissi aus. Mama weinte vierundzwanzig Stunden durch. Ich begriff sehr wohl, dass sie daher keinen Nerv hatte, an meinen Geburtstag zu denken, doch ich wollte sie aufheitern, wollte ihr zeigen, dass das Leben weiterging und kaufte trotz allem einen Kuchen und ein paar Kerzen.

Als ich die Kerzen anzündete, schluckte Mama Schlaftabletten. Vier Stück auf einmal. Zum Glück direkt vor meinen Augen. Niemand weiß, ob sie sonst überlebt hätte. Im Krankenhaus meinten sie zwar, in der Regel bräuchte es schon mehr als vier Stück, um jemanden von Mamas Konstitution umzuhauen, aber ich war trotzdem fürchterlich geschockt. Und natürlich versprach ich ihr, sie nie, nie, niemals im Stich zu lassen. Solange ich lebte. Tissi mochte gehen und kommen und wieder gehen wie sie wollte, aber auf mich durfte Mama sich verlassen.

Und das durfte sie tatsächlich. Die nächsten zehn Jahre lang. Bis ich die Enge in Hals, Brust und Wohnung nicht mehr aushalten konnte. Da hatte ich dann die Wohnung im fünften Stock gemietet. Heimlich. Ohne dass Mama je davon erfahren sollte.

Was sie auch nicht tat. Die nächsten dreieinhalb Jahre lang. Ich erzählte ihr, dass Hans beschlossen hatte, den Schuhladen bis halb acht geöffnet zu lassen – und genoss die tägliche halbe Stunde Freiheit in meiner Wohnung im fünften Stock. Damals konnte ich mich noch an Tür Nummer drei vorbei schleichen, ohne bemerkt zu werden.

Natürlich war es ein Riesenspektakel gewesen, als sie mir auf die Schliche gekommen war.

»Thaddäa! Was hat Frau Zenz aus dem fünften Stock mir wohl berichtet?«

»Ich … ich weiß nicht, Mama.«

»Ich kann es nicht glauben, dass mein eigenes Kind mich derart hintergeht! Mein Herz! Es fühlt sich plötzlich ganz schwach an. Wahrscheinlich brauche ich ein künstliches. Du bist schuld, Thaddäa, wenn sie mir ein Schweineherz einsetzen. Ich will kein Schweineherz in der Brust! Hast du jemals daran gedacht, was die Leute sagen werden, wenn sie erfahren, dass ich ein Schweineherz – oh Gott, hast du auch nur einmal an mich gedacht, Thaddäa?«

»Mama –«

Viermal war die Rettung mit Blaulicht und Sirene gekommen und hatte eine Halbtote ins Krankenhaus gebracht. Viermal hatte ich am Krankenbett gesessen und mich »Mörderin« schimpfen lassen.

Ich habe als Kind oft darüber nachgedacht, ob mein Vater uns verlassen hat, weil meine Mutter so erstickend klammerig war, oder aber, ob sie so geworden war, eben weil er sie mit zwei kleinen Kindern sitzen gelassen hatte.

Tissi war naturgemäß anders mit dem Verrat des Vaters und der Reaktion unserer Mutter umgegangen. Die kleine Prinzessin, von Geburt an hübsch und begabt, hatte mir die Schuld an der ganzen Misere gegeben: Weil Thaddäa so ungeschickt ist, hat Papi sich ärgern müssen. Er wollte sie nie wieder sehen, drum ist er weg. Mami ist Thaddäa böse deswegen.

Und die ungeschickte, bebrillte Thaddäa hatte die Rolle der Schuldigen akzeptiert. Ich könnte nicht sagen, welche ihrer Töchter Mama mehr Kummer bereitete. Die eine, die es im Leben zu nichts gebracht hatte und ihrer Mutter stets vor Augen führte, dass sie in der Erziehung versagt haben musste. Oder aber die andere, deren Attraktivität und beruflicher Erfolg ein Mahnmal waren für all das, was ihrer Erzeugerin niemals gegönnt war.

Was hatte sie uns nicht alles mit diesen unsinnigen Vornamen mitgeben wollen. Thaddäa, das sollte für Stolz stehen. Für Eleganz und Überlegenheit. Hatte ja super geklappt. Und meine Schwester Tirza sollte Schönheit und Phantasie mit auf den Lebensweg bekommen. Gut, schön war sie ohne jeden Zweifel. Aber so phantasievoll wie Fräulein Rottenmeier. Dafür hatte sie einen Doktortitel. Und dokterte tatsächlich an den Seelen anderer Menschen herum.

Und ich wusste, ich musste sie heute Abend noch anrufen. 3 verpasste Anrufe stand anklagend auf dem Display meines Handys. Und darunter Tissi. Die ersten beiden waren von 19:10. Der letzte von 19:11. Typisch Tissi.

»Hallo, du«, begrüßte sie mich.

»Hallo, Tissi«, grüßte ich zurück.

»Du warst ja unerreichbar heute Abend. Und dein Rückruf kommt auch reichlich spät.«

»Tut mir leid, ich hatte das Handy auf lautlos.« Mist. Wann würde ich endlich aufhören, mich automatisch für alles zu entschuldigen? »Was wolltest du denn, Tissi?«

»Wäre es ein Notfall gewesen, wäre ich jetzt bestimmt schon tot. So spät, wie du zurückrufst.«

Sie wurde immer mehr wie Mama. Und genau das hätte ich ihr sagen sollen. Sicher, sie hätte sich den nächsten Besen geschnappt und wäre zu mir geflogen, um mich zu vierteilen, denn nichts, aber auch gar nichts fürchtete Tissi so sehr, wie irgendwann zu werden wie Mama. Doch sie wurde es. O Gott, hoffentlich werde ich nicht auch noch so, durchfuhr es mich.

»… nennen. Okay?«

»Okay«, wiederholte ich mechanisch.

»Also, wie sollst du mich nennen?«

»Ähhh …«

»Hast du mir nicht zugehört?«

»Doch!«

»Na, dann sag!«

Ich hielt die Luft an. Ach, es half ja doch nichts. »Kannst du mir bitte nochmal sagen, was ich sagen soll?«

Sie explodierte. »Als Strafe sollte ich einfach das Gespräch beenden und dir nie sagen, was ich vorhin gerade gesagt habe!«

Und was genau wäre daran die Strafe?

»Bitte Tissi …«

»Exakt darum geht es«, zeterte sie. »Tira heiße ich ab heute! Tira! Das habe ich dir vorhin gesagt. Tissi ist gestorben. Tira ist geboren!«

Sie beendete das Gespräch und machte damit den angenehmsten Teil ihrer Drohung wahr. »Tira«, murmelte ich. Ob ich mich beim nächsten Telefonat wohl trauen würde, nach dem Grund der Namensänderung zu fragen?

Ich schlüpfte aus dem Leinenkleid und warf es auf mein Bett. Ich schälte mich aus den Miederhöschen, aus dem unbequemen Bügel-BH und zog mir ein übergroßes T-Shirt an, das mir fast bis zu den Knien reichte. Es war so heiß, dass ich ohne weiteres nackt hätte herumlaufen können, doch hatte ich Angst, dass Greenpeace sofort die Wohnung stürmen würde: »Ein Wunder! Moby Dick lebt! Los, zurück ins Meer mit ihm!«

Das Schlafzimmer sah ähnlich farblos aus wie ich. Noch. Irgendwann würde ich es ozeanblau streichen. Und über das Bett käme ein rotes Boot mit weißem Segel. Ich liebte das Meer. Jedes Meer auf der Welt. Und irgendwann würde ich ein echtes Meer sehen, es war mir ganz egal, welches.

Das Wohnzimmer war jetzt schon sonnengelb gestrichen. Mama fand, dass es aussah, als hätte ein Drogensüchtiger meine Wände vollgepinkelt. Und mein Sofa nannte sie Kommunistencouch, weil es rot war. Sie setzte sich nie darauf.

Umso genüsslicher ließ ich mich jetzt drauffallen. Im Fallen griff ich nach der Fernbedienung, und noch bevor mein Körper die Kommunistencouch berührte, hatte ich schon den Fernseher eingeschaltet. Das waren so die kleinen Tricks, die ich beherrschte.

Mein Zeigefinger zappte durch die Kanäle. Doku, Wirtschaftsjournal, zwanzigste Wiederholung von Scrubs, zweihundertste Wiederholung von den Simpsons, die gleiche Southpark-Folge wie gestern Nacht und vorgestern Nacht, Discovery Channel – mein Finger stoppte, als ich die beiden Löwen sah. Mein Gott, das war … okay, die war jetzt eindeutig keine Jungfrau mehr … das musste echt wehtun … Ich kniff die Augen zusammen, zappte weiter.

Neue Protagonisten, neue Kulisse, gleiche Tätigkeit. Eigentlich brauchte ich nicht mehr hinzusehen. Ich wusste genau, was da ablief. Jahrelange Fernseherfahrung. Ich wusste, wie man sich bewegen musste, was es für Positionen gab und dass es jedes Mal mit einem doppelten und gleichzeitigen Hurra endete.

Und mittlerweile wartete ich die Hälfte meines Lebens darauf, dass es mir passierte. Was war ich anfangs stolz gewesen, dass ich mich für den Richtigen aufhob, während Tissi sich »an jeden x-beliebigen Dahergelaufenen verschenkte«, wie Mama es nannte. Und was war Mama froh gewesen, dass wenigstens ihr kleines Mädchen brav und sittsam zu Hause blieb, während die Große »sämtliche Rückbänke sämtlicher Automarken durchwetzte«. Ja, Mama konnte manchmal ganz schön derb sein.

Doch es half, um mir einzutrichtern, dass der Verlust der Jungfräulichkeit nichts Erstrebenswertes war. Und so gingen die Jahre ins Land. Und irgendwann war ich keine sechzehn mehr, sondern zwanzig. Und irgendwann war ich keine zwanzig mehr, sondern fünfundzwanzig. Und hätte einen Mord begangen, um irgendeine Rückbank irgendeiner Automarke durchwetzen zu können. Und in vier Wochen war mein dreiunddreißigster Geburtstag und es war noch immer nicht passiert. Nicht es und auch nicht das ganze andere, was man zu zweit tun konnte.

Wenn mir vor fünfzehn Jahren irgendjemand gesagt hätte, dass mir all das Zeug, von dem ich heimlich in der Bravo las, nie geschehen würde, dann … ja, was dann? Ich hätte es vermutlich nicht geglaubt. Ich hätte nicht glauben können, dass etwas, das alle Welt tat, mir nie vergönnt sein würde. Warum ich? Warum ausgerechnet ich?

Und was würde sein, wenn es mir doch endlich vergönnt war, womöglich sogar mit dem Piraten vergönnt war, und ich kläglich versagte? Der Mensch hat bekanntermaßen ein paar Urängste. Ich hatte ziemlich viele. Und seit vier Monaten war das eine davon. Was, wenn ich den Piraten tatsächlich rumkriegte und dann nicht gut genug war? Ich wusste ja nicht wirklich, wie das ging.

Ich strich mir über die Wange, die er berührt hatte. Ganz sanft nur, damit ich die Berührung ja nicht abwischte. Heute war der erste Abend seit vier Monaten, an dem ich kein Buch gekauft hatte.

Ein Abend, der in die Geschichte eingehen würde, ein Abend, der für einen Neubeginn stand, ein Abend, an dem ich endlich einmal nicht mein Handy nehmen würde und – ich holte mein Handy.

Ich starrte es an, biss die Zähne zusammen, und tippte schließlich doch die Zahlenkombination ein, die ich längst im Schlaf kannte. Fluchend, weil ich so wütend war auf meinen absoluten Mangel an Selbstbeherrschung. Ich hielt das Handy ans Ohr und lauschte mit angehaltenem Atem dem Freizeichen.

Es war ein Ritual. Vor vier Monaten eingeführt und nicht einen Abend ausgelassen. Unbegreiflich, aber ich konnte mir tatsächlich immer noch einreden, dass er nicht wusste, dass ich es war.

»Hallo?« Die Stimme des Piraten klang heiser.

Ich schwieg. Natürlich schwieg ich.

»Haaaallo«, das klang jetzt schon etwas ungeduldig.

Ich presste das Handy fester an mein Ohr und schwieg weiter.

Da – was war das? Ich hörte eine Stimme im Hintergrund. Eine Frauenstimme! Er legte auf. Ich starrte auf das Display. Die Worte: »Verbindung beendet« verschwammen vor meinen Augen. Er hatte eine Frau bei sich! Und ich Idiotin, ich hirnverbrannte Idiotin, glaubte tatsächlich jeden Tag aufs Neue, dass er sich in mich verlieben könnte.

»Wie kann man nur so beschissen dämlich sein!«, brüllte ich den Fernseher an.

Die nächsten vierzig Minuten heulte ich in mein gelbes Sofakissen. Ich konnte gar nicht sagen, was genau mich dermaßen aus der Fassung brachte. Ich hätte mir doch denken können, dass er eine Freundin hatte. Oder sogar eine Frau. Aber nie, nie hatte ich es derart hautnah mitbekommen.

Was für eine Vorstellung, dass ich den ganzen Heimweg lang »beflügelt« war wegen der popeligen paar Worte, die er mit mir gewechselt hatte, während er jetzt mit irgendeiner Schönheit zugange war und sich womöglich noch lustig machte über die dicke, ungeschickte Frau Kis, die in seinem Geschäft wahrscheinlich wegen akuter Unterzuckerung umgefallen war, weil sie sich zur Abwechslung mal keinen Schokoriegel reingezogen hatte! Denn so wie die aussah, war es ja wohl klar, dass sie den ganzen langen Tag nichts anderes tat, als sich Schokoriegel reinzuziehen! Aaaaarrrrrrrr! Ich riss an meinen Haaren, ich biss ins Kissen. Ich hasste mich! Ich hasste mich so sehr, dass ich mich am liebsten auf der Stelle in Dr. Tissis Behandlungsstuhl geschmissen und anschließend freiwillig in die Klapsmühle begeben hätte.

Den Mund weit aufgerissen, schleppte ich mich zum Fenster. Ich stieß es auf. Ein warmer Schwall Luft strömte mir entgegen. Ich lehnte mich weit hinaus und versuchte mir vorzustellen, was der Pirat empfinden würde, wenn er von meinem zerschmetterten Körper erfuhr.

Ich hoffte bei Gott, dass es ihn für immer verfolgen würde. Er hatte Frau Kis an jenem Abend gehen lassen und sie hat sich aus dem Fenster gestürzt. Ja, das tat gut. Wie schuldig sie sich alle fühlen würden. Der Pirat, Mama, Tissi. Alle, alle wären sie schockiert, dass ich es tatsächlich getan hatte. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und streckte mich noch weiter hinaus.

Und dann noch einen Zentimeter mehr. Und noch einen. Ich schloss die Augen. Ein Stückchen noch, dann würde die Schwerkraft den Sieg davontragen. Einen Sieg auf meinem zertrümmerten Rücken.

Von unten hallten Schritte herauf. Ich blinzelte. Ein alter Mann ging mit seinem Dackel Gassi. Der Hund blieb stehen und hob das Bein. Er pinkelte an die Laterne unter meinem Fenster und trippelte dann weiter.

Ich starrte ihm nach. Wenn ich jetzt hinuntersprang, würde ich mitten in der Dackelpfütze landen. Was für ein ungeheuer ironisches Ende für ein verpisstes Leben. Ich sank auf die Knie und stützte die Arme auf die Fensterbank.

In meinen Ohren rauschte es. Der alte Mann und sein Hund, die würden morgen noch leben. Der Pirat würde noch leben. Die ganze Welt würde sich einfach so weiterdrehen, nur ich wäre nicht mehr da.

Da weinte ich gleich wieder. In Sachen Selbstmitleid war ich schon immer recht talentiert gewesen, und an diesem Abend übertraf ich mich selbst. Aufs Tiefste betrübt, bejammerte ich meinen eigenen Tod. Und als ich mir klarmachte, dass wahrscheinlich niemand so sehr um mich trauern würde wie ich selbst, da jammerte ich gleich umso lauter. Doch als ich mir wiederum klarmachte, was das zu bedeuten hatte, da wurde ich plötzlich stumm.

Hallo! Ich konnte mich doch nicht aus dem Fenster werfen, wenn ich das selbst so schade fand. War ich denn komplett verrückt?

Glaubte ich wirklich, dass ein Sonntag mit Mama und dem kaputten Auto schlimmer war als da hinunterzuspringen? Fand ich tatsächlich, dass ich in einen Sarg unter die Erde gehörte, obwohl es ja noch nicht mal zweifelsfrei erwiesen war, dass der Pirat eine Frau hatte? Vor Empörung über mich selbst blieb mir die Luft weg. Ich hustete und röchelte, war plötzlich voller Panik, dass ich ersticken könnte. Sterben könnte! Ich hängte mich erneut aus dem Fenster und als ich endlich wieder Atem geschöpft hatte, schrie ich in die Nacht hinaus: »Ich will leben!«

Keine halbe Minute später kam die Antwort. Aus einem Fenster vier Stockwerke unter mir: »Thaddäa!! Du bringst mich noch ins Grab!«


Ich lag im Bett, hörte die schönsten Love Songs aller Zeiten im Radio und spürte dermaßen intensiv das Leben in mir, dass ich vor Wonne beinahe sterben musste. Ehrlich.

Ich wollte leben. Auf Teufel komm raus. Welch schönere Entdeckung konnte man für sich selbst eigentlich machen?

Gut, ein bisschen unangenehm war die Vorstellung schon, dass ich jetzt genauso gut da unten auf dem Gehsteig hätte liegen können oder vielleicht sogar schon auf dem Pathologentisch mit meinem viel zu intakten Jungfernhäutchen. Aber mal ganz ehrlich, so knapp war es dann wohl doch nicht gewesen. Wie ich mich kenne, hätte ich vor dem endgültigen Sprung sicher »My Way« eingelegt – als große Abschiedsnummer, final curtain und so – und dann hätte ich mich wieder so stark und mutig gefühlt, dass der Ausweg nach unten auf den Gehsteig undenkbar gewesen wäre.

Ich drehte das Radio lauter. Billie Joel begann gerade zu erklären, warum sie always a woman für ihn war, und ich beschloss, dass ich ganz genauso sein wollte wie dieses woman. She can kill with a smile, she can wound with her eyes, oh ja, das war es, genau das wollte ich.

Eine Frau, neben der alle anderen verblassten, eine Frau, die man nie vergaß, selbst wenn man sie nur ein einziges Mal gesehen hatte, eine Frau, die mit ihrem Lächeln, ähm … ja, eben killen konnte.

In meinen Träumen war ich natürlich immer schon gigantomanisch gewesen: Multimillionärin, Nobelpreisträgerin, Topmodel, Oscargewinnerin, Mutterhureheilige und Ärztin ohne Grenzen in einem. Doch der Riesenunterschied zwischen früher und jetzt war der, dass ich jetzt vollkommen überzeugt davon war, all das tatsächlich erreichen zu können. Okay, wenn man jetzt mal den Nobelpreis, die Ärztin und den Oscar wegließ. Und das Topmodel natürlich auch. Aber der Rest?

Warum nicht mit zweiunddreißig Jahren das Leben ändern? Warum nicht davon ausgehen, dass man alles schaffen konnte? Einfach mal mutig sein. Ja, verdammt! Ich konnte alles, wenn ich wollte.

Alles!

Wenn ich wollte, konnte ich dem Piraten meine Liebe gestehen. Ich konnte ihn küssen und mich nackt vor ihm ausziehen. Und wenn er eine Frau hatte, na, dann konnte ich seine Geliebte werden. Ich konnte Mama endlich die Meinung geigen. Ich konnte Tissi einfach Tissi nennen. Ihr sagen, dass ich sie für die schlechteste Psychologin im gesamten Universum hielt. Ich konnte Bonnie-Denise endlich nur mehr Be-De nennen, konnte meinen Job kündigen, mir von meinem bisschen Ersparten ein Flugticket nach Australien kaufen und dort an einen Busch pinkeln. Ich konnte bungeejumpen, den Ärmelkanal durchschwimmen, nach Hollywood fliegen und Kindermädchen bei Brangelina werden. Ich konnte Politikerin werden und die Jetzt verbieten. Ich konnte zur Fußball-WM fahren und Flitzerin werden, dann würde ich ins Fernsehen kommen. Ich konnte Rauschgift ausprobieren, mir mit Mozartkugeln und Schokobananen zweihundert Kilo anfuttern, mir ein Piratenschiff auf den Rücken tätowieren lassen oder boxen lernen. Ich konnte Geld für eine Brustvergrößerung sparen oder für eine künstliche Befruchtung.

Ich konnte – ich konnte – ich musste eine kleine Verschnaufpause einlegen.

Zwei Uhr vierundvierzig. Sollte ich nochmal beim Piraten anrufen? Nur zweimal läuten lassen oder so, schauen, ob er abhebt, schauen, ob sie abhebt?

Ich griff nach meinem Handy, klappte es auf und begann die Nummer einzutippen. Plötzlich hielt ich inne. Nein, du Wahnsinnige, das wirst du nicht machen, das hast du nicht nötig. Du hast es nicht nötig. Ich drückte sekundenlang auf den roten Knopf, so lange, bis mein Handy sich abgeschaltet hatte, und war maßlos stolz auf mich. Das hier war die vollkommen neue Teddy, eine aufregende, interessante, starke Frau. Eine Frau, die keine anonymen Anrufe machte, eine Frau, die vielleicht anonyme Anrufe bekam. Jawohl, so wollte ich sein. Begehrt, umschwirrt, leidenschaftlich geliebt.

Ich stand auf und tastete mich durch das dunkle Schlafzimmer bis ins Vorzimmer und weiter in die Küche, wo ich mir eine Schachtel Schokobananen aus dem Kühlschrank angelte. Ich mochte sie am liebsten, wenn sie schön kalt waren. Leider hatte ich mir in einem Anflug von Selbstgeißelung nur die kleinen mit Geleefüllung gekauft. Nicht die guten großen mit echtem Bananenmark drin. Nach der Autosache letzten Sonntag war meine Moral die ganze Woche über so tief gewesen, dass ich mich in vielerlei Hinsicht hatte bestrafen müssen. Keine cremigen weißen Kokoskügelchen, sondern die mit Nougat gefüllten. Keine Mousse au Chocolat, nur Pudding – und zwar den ohne Sahnehäubchen.

Ich ging mit meiner Geleebananenschachtel ins Badezimmer, schaltete das Licht ein und setzte mich in Unterhosen auf die Fliesen. Am Ende eines Jahrhundertsommers hat jeder so seine Tricks drauf, wie er sich am besten Kühlung verschafft. Ich lehnte mit dem Rücken an der Badewanne, dachte an den Piraten, malte mir mit geschlossenen Augen aus, wie mich der völlige Wandel meines Lebens mit den süßesten Erfüllungen belohnen würde, und aß alle vierzig Schokobananen auf. Die waren ja so klein. Danach war mir trotzdem schlecht, und mein Bauch sah aus wie eine dreistöckige Raupe.

Zurück im Bett bescherte Modern Talking mir den nächsten Lovesong und ich musste feststellen, dass ich jede Silbe von »You’re my heart, you’re my soul« mitsingen konnte. Das durfte der Pirat nie erfahren.

Miedler, Nora's books