chapter 21
Das Gewicht der Badetasche schnitt in meine Schulter und auf den frisch erworbenen Sonnenbrand. Das machte nichts, doch was auf der Heimfahrt vom Schwimmbad hätte überhaupt etwas machen können? Ich war so glücklich, es hätte eigentlich keine Straßenbahn gebraucht, um mich nach Hause zu bringen, genauso gut hätte ich wieder mal fliegen können.
Alles war gut gegangen. Ich war jetzt per »Sigi« mit ihm und beim Abschied hatten wir drei ausgemacht, dass wir nächste Woche zusammen ins Kasperltheater gehen würden.
Als ich nach Hause kam, war es schon fast sechs. Höchste Zeit, um mich für die Verabredung mit dem Zahnarzt fertig zu machen. Zwei Rendezvous an einem Tag, das schrie schon faktisch nach einem Guinness-Rekord.
Was zog Frau an, wenn sie Mann abservieren wollte, ohne Mann damit großartig das Herz zu brechen, aber dennoch unverschämt gut dabei aussehen musste?
Tja, keine Ahnung, was Frau anziehen würde, ich jedenfalls entschied mich – auch aus Mangel an Alternativen – für das olivgrüne Sackkleid. Darin hatte ich immerhin an jenem denkwürdigen Abend vor acht Tagen mein erstes echtes Gespräch mit dem Piraten geführt. Über Gasgemische und so.
Jetzt stellte sich natürlich folgende Frage: Extra duschen und linken Oberschenkel rasieren, falls doch was passieren sollte heute Nacht? Oder aber alle nur erdenklichen Übel bestehen lassen, um sich so vor der eigenen, immerhin denkbaren Schwäche zu schützen? Denn so sehr ich auch den Piraten liebte und wusste, dass er derjenige sein musste, der mich – schrecklich poetisch ausgedrückt – in die Welt der Liebe einführte, konnte mir irgendjemand garantieren, dass ich den Zahnarzt nicht doch zumindest ein bisschen an die Wäsche ließ? Ein unrasierter Oberschenkel konnte das, jawohl.
Als ultimative Sicherheit, dass ich den Zahnarzt nicht unter meinen Rock schauen lassen würde, schlüpfte ich in ein kackbraunes Miederhöschen.
Das Gesicht schminkte ich mir dennoch besonders sorgfältig, was hieß: stark. Wenn ich ihm schon den Todesstoß versetzen musste, dann wollte ich ihm zumindest dabei gefallen. Das hatten wir uns beide verdient, fand ich. Es sollte schließlich ein unvergesslicher Abend werden.
Sobald mir diese Ankündigung wieder eingefallen war, ging sie mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich dachte daran, als ich meine Wimpern tuschte, als ich Rouge auflegte und als ich mir die Lippen nachzog.
»Das wird ein unvergesslicher Abend werden, Teddy.« So hatte er es formuliert, oder? Das konnte vieles heißen. Viel Gutes zum Beispiel. Oder auch was Schlechtes.
Vielleicht Mord?
Ich starrte auf meine knallroten Lippen und schluckte. Hör auf mit dem Blödsinn, Teddy. Das kommt nur von der blöden Jetzt-Leserei. Denk sofort an was anderes. Doch ich konnte nicht. Hatte Gisela nicht auch gesagt, dass ich nicht zu ihm in die Wohnung gehen sollte? Ich sah es schon vor mir:
Der Zahnarzt, der mich erst mit Küssen, die ich natürlich doch über mich ergehen lasse, gefügig macht, bevor er mich schließlich ans Bett fesselt und beginnt, meine Zehen abzuschneiden. Und dann meine Finger. Er näht die Finger an die Füße und die Zehen an die Hände. Ich bin der Ohnmacht nahe, es wäre eine Gnade, endlich das Bewusstsein zu verlieren, doch das Adrenalin hält mich wach. Er weidet meine … Eingeweide aus … oder so ähnlich …
Mir war schlecht. Ich setzte mich auf den Badewannenrand und hätte am liebsten angefangen zu heulen. Nur eine absolut Wahnsinnige ging in der Nacht in die Wohnung eines fremden Mannes. Oder? Denn in Wahrheit war er doch genau das für mich. Ein Fremder. Vielleicht konnte ich ihn anrufen und den Treffpunkt ändern. Alles wäre besser, von mir aus auch ein Stundenhotel, nur bitte, bitte, irgendwas, wo wir zusammen gesehen wurden! Ich rannte ins Wohnzimmer, griff mir das Telefonbuch und blätterte fieberhaft in den Seiten. Da, Dr. Hubertus Strohmann. Ich fingerte an den Tasten herum und schaffte es beim vierten Mal, die richtige Nummer einzutippen.
»Strohmann?«
»Hallo, Hubertus.«
»Teddy! Sie sagen doch wohl nicht ab?«
»Nein, auf keinen Fall. Ich wollte nur fragen, ob wir uns nicht vielleicht in einem Lokal treffen wollen? Dann müssten Sie sich keine Umstände machen in Ihrer Wohnung.«
»Teddy, wo denken Sie hin? Ich habe den ganzen Tag in der Küche gestanden, um Ihnen ein exquisites Mahl zuzubereiten. Sie müssen zu mir kommen!«
»Oh toll, ja dann, bis später.«
»Bis gleich, liebste Teddy.«
Ich klappte mein Handy zu und sank zu Boden. Ein exquisites Mahl. Das könnte auf Gift hindeuten oder auf Menschenfleisch. Fleisch von anderen Frauen, die er umgebracht hatte. Das machten zumindest die Serienmörder in der Jetzt so.
Es gab nur eine Möglichkeit, wie ich mich schützen konnte: ich musste jemandem erzählen, wo ich hinging. Ich wählte Giselas Nummer, doch da meldete sich gleich die Mailbox. Kurz überlegte ich, ob ich Vanessa anrufen sollte oder Be-De oder sogar Tissi, doch die Aussicht, einer von ihnen meine Paranoia zu gestehen, war nicht gerade prickelnd. Und warum sich mit Amateuren abgeben, wo es doch Profis gab? Mit zittrigen Fingern blätterte ich noch einmal im Telefonbuch und wählte schließlich eine Nummer.
»Polizeistation Döbling, Ewald Bauer am Apparat.«
»Grüß Gott, mein Name ist Kis.«
»Sprechen Sie lauter, ich versteh Sie kaum.«
»Mein Name ist Kis. Ich, ich wollte nur sagen, dass es sein kann, dass ich heute Nacht noch Hilfe benötige.«
»Haben Sie Eheprobleme, Frau Kis?«
»Nein, nein. Ich bin heute Abend bei einem Mann eingeladen, der ein, ähm, komisches Interesse an mir hat.«
»Ahaaaa.«
»Ja, also, wenn Sie ihn sehen würden, und dann mich sehen würden, dann würden Sie verstehen, warum sein Interesse komisch sein muss.«
»Ich sehe weder Sie noch ihn, Frau Kis«, Ewald Bauer klang etwas gelangweilt, »also erklären Sie mir bitte in wenigen Worten die Situation.«
»Die Situation ist, dass er sehr erfolgreich und gutaussehend ist.«
»Bedenklich.« Irgendwie hatte Bauers Tonfall auf einmal was Ironisches.
»Ja, und ich bin jetzt nicht so der Typ Frau, dem Männer sonst nachlaufen.«
Bauer hüstelte. »Frau Kis, nur unter uns, und bitte, nicht falsch verstehen, verarschen Sie mich gerade?«
»Nein! Ich weiß ja, es klingt seltsam, aber was soll ich tun? Er kann gar kein Interesse an mir haben, verstehen Sie? Und trotzdem lockt er mich in seine Wohnung.«
»Und was soll ich in dieser Angelegenheit tun?«
»Ich wollte nur fragen, ob es momentan irgendwelche unaufgeklärten Morde in Wien gibt. Gibt es einen Serienmörder, der frei herumläuft?«
»Gnä’ Frau«, sagte Bauer. »Unter uns, dieses Telefonat ist äußerst grotesk, um nicht zu sagen, fast schon verdächtig. Frau Kis, zwei Möglichkeiten: Entweder wir beenden das jetzt und tun so, als wäre nie was gewesen, oder aber Sie kommen hierher auf die Polizeiwache und machen eine Aussage. Und noch mal unter uns: Ich bin müde und um viertel Neun spielt Bayern gegen Liverpool. Ich denke also, dass wir beide kein Interesse daran haben, die Sache zu intensivieren.«
Jetzt heulte ich tatsächlich. »Ich will doch nur – dass Sie – wenn Sie hören, dass ich – tot bin, dass Sie dann – wissen, dass es der – Zahnarzt Dr. Stroh – mann war. Ok – ay?«
»Okay, Frau Kis, ist alles notiert.«
»Daaanke«, schluchzte ich und hörte am Knacken in der Leitung, dass Ewald Bauer beschlossen hatte, das Gespräch zu beenden.
Ich sah in den Spiegel. Wimperntusche bis zum Kinn. Ich sah jetzt schon aus wie eine Leiche.
Um acht stand ich vor Strohmanns Haus und drückte auf die Klingel. Ich musste das heute durchziehen, um vor mir selbst nicht bis in alle Ewigkeit als kleines Mädchen dazustehen. Verdammt, ich war eine erwachsene Frau, die sich wehren konnte! Und außerdem hatte ich für alle Fälle eine Nagelfeile in mein braunes Miederhöschen gesteckt. Eine ganz spitze.
»Jaaa?«, kam seine Stimme aus der Gegensprechanlage.
Ich rief: »Teddy ist da«, und kam mir schrecklich blöd vor.
Ein lautes Summen ertönte, und ich konnte die Tür öffnen. Beklommen stieg ich die Treppe hoch. Er stand in der Wohnungstür und lächelte mich an.
»Hallo«, sagte ich. Rhetorisch eine Eins, wie immer.
Er sagte gar nichts, nahm nur meine Hand und zog mich in die Wohnung hinein. Dann schloss er die Tür und sicherte sie mit einem Riegel.
Ich saß in der Falle.
Gut, das war wahrscheinlich etwas übertrieben, schließlich war ich in der Lage, einen Riegel zu lösen und eine Tür zu öffnen. Außerdem lag der Duft von Knoblauch und Rosmarin in der Luft, was meine Laune erheblich hob. Wobei gewürztes Menschenfleisch womöglich auch ganz gut roch.
Der Zahnarzt sah besser aus denn je. Ganz in schwarz gekleidet, so wie Patrick Swayze in dieser einen Szene. Wo er tanzt.
Ich fühlte den kratzigen Stoff meines Sackkleids am Rücken und wünschte, ich hätte die Sache mit der Kleidung nicht so auf die leichte Schulter genommen. Aber echt, es hatte ja keiner wissen können, dass der Zahnarzt heute Abend so gut aussehen würde. Verlegen schlüpfte ich aus den Schuhen.
Der Zahnarzt betrachtete meine nackten Füße. Ich stellte die Zehen auf.
»Was ist denn?«, fragte ich unsicher.
»Ihre Füße, sie sind perfekt. Alles an Ihnen ist einfach so perfekt.« Sein Blick brannte auf meiner Haut. Brannte im positiven Sinn. Viel zu positiv. Ich liebte doch den Piraten. Trotzdem ließ ich es zu, dass der Zahnarzt die Hand auf meinen Hintern legte und mich an sich zog.
Im nächsten Moment küssten wir uns. Innig, wie man so schön sagt. Und bevor man mich deswegen verurteilt, ich hatte gute Gründe dafür – von Patrick Swayze einmal ganz abgesehen.
Wenn der Zahnarzt wirklich ein Mörder war, dann musste ich natürlich alles tun, um ihm so gut zu gefallen, dass er mich am Leben lassen wollte. Und wenn das hieß, dass ich mich von ihm begehrlich küssen lassen musste, so absolut schrecklich das auch war, dann hieß es das eben. Es war eine schauspielerische Höchstleistung, die da verlangt war, und ich meisterte sie so gekonnt, dass mein Körper von kleinen Elektroblitzen durchzuckt wurde, ganz so, als würde mir das Knutschen wirklich gefallen.
Mann, war ich gut. Und Mann, war er gut.
Plötzlich hob Strohmann mich hoch. Seine Wangen zitterten unter der Anstrengung, doch er schaffte es, mich bis ins Wohnzimmer zu tragen. Und mit »Wohnzimmer« meine ich einen mittelgroßen Kontinent. Die hintere Wand war so weit weg, dass ich sie mit bloßem Auge nicht erkennen konnte.
Der Zahnarzt legte mich auf einem walfischgroßen Sofa ab und säuselte: »Machen Sie es sich gemütlich, meine Liebe. Ich sehe nur kurz nach dem Essen.«
Ich nickte artig. In der Tür drehte er sich noch einmal um. »Was darf ich Ihnen zum Trinken bringen?«
»Alkohol«, antwortete ich.
Als er draußen war, stand ich auf und begann auf Zehenspitzen herumzuschleichen. Das alles sah doch ganz normal aus, oder? Vielleicht in seiner Größe und Wucht nicht allzu unbescheiden, aber übertrieben psychopathisch nun auch wieder nicht.
Der Zahnarzt schmetterte eine Melodie in der Küche, und ich merkte, dass meine Anspannung langsam nachließ. Ein Sprichwort fiel mir ein: »Wo man singt, da lass dich ruhig nieder, böse Menschen haben keine Lieder.« Ich ahnte, was Gisela dazu sagen würde, doch ich für meinen Teil wollte das in diesem Moment unbedingt glauben.
Wir aßen auf der Terrasse. Der Zahnarzt hatte an die fünfzehn verschiedene Platten aufgetragen, bei deren Anblick es mir die Sprache verschlug. Ich beging gleich mal den ersten Fauxpas, indem ich in eine Hummerzange biss. Die hatte so lecker knusprig ausgesehen.
Strohmann bangte sofort um meine Zähne.
Ich stopfte abwechselnd Spargel, Filetsteak und Käse in mich hinein und spülte mit Champagner nach. Ich konnte mich immer mehr mit dem Gedanken anfreunden, Zahnarztgattin zu werden.
Bis der Zahnarzt schließlich sagte: »Und jetzt, Teddy, möchte ich Ihnen jemand ganz Besonderen vorstellen.«
Ich hustete und sprühte eine Champagnerwolke aus dem Mund. Nur äußerst widerwillig ließ ich mich in die Wohnung ziehen, schließlich war ich noch nicht mal beim Dessert angelangt. Und genug Alkohol hatte ich auch noch nicht intus, um jetzt schon Sex haben zu können.
Strohmann führte mich in den Flur und öffnete dort eine Tür.
Das Schlafzimmer. Ich schnappte nach Luft. Nicht weil es das Schlafzimmer war, darum war es ja die ganzen letzten Tage gegangen, wenn ich seine Andeutungen richtig verstanden hatte, sondern weil dieser Raum so vollkommen anders war, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Dominiert wurde er von einem gewaltigen Himmelbett. Dem Bett gegenüber stand eine zierliche Schminkkommode. Ja, Schminkkommode. Doch der Zahnarzt entpuppte sich nicht etwa als Frau.
Sondern lediglich als Sohn.
»Das sind Mutters Möbel, liebste Teddy. Nach ihrem Tod bin ich hierhergezogen und habe ihre Sachen mitgenommen. Ich vermisse sie schrecklich.«
»Oje, das tut mir leid.«
Er nahm ein Foto von der Schminkkommode. »Das ist Mutter als junge Frau.«
Die Frau auf dem Foto war dick und hatte ein unglaublich verbissenes Gesicht.
»Hübsch«, meinte ich vage und gab dem Zahnarzt das Foto zurück.
Voller Zärtlichkeit blickte er mich an. »Ich weiß«, antwortete er. »Sie sehen genauso aus wie sie.«
Das Schöne war, dass dieser Schock gleich von einem viel größeren abgelöst wurde. Der Zahnarzt zog mich zum Bett und sagte feierlich:
»Wenn ich Ihnen jetzt, liebste Teddy, Mutter vorstellen dürfte.«
Ich schluckte und erwartete eine ausgestopfte Tote unter der Bettdecke. Doch Strohmann deutete auf das Nachtschränkchen und sagte: »Da ist Mutter.«
O Gott sei Dank, o Gott sei Dank! Nur eine Schatulle, in der bestimmt ihre Asche war. Es kostete mich einige Anstrengung, mir die Erleichterung nicht allzu sehr anmerken zu lassen.
»Kommen Sie, Teddy. Sie dürfen sie ansehen.«
Na gut, ich war zwar nicht unbedingt scharf drauf, in Totenasche rumzuwühlen, aber wenn ihm so viel daran lag, dann wollte ich nicht so sein.
Wir setzten uns auf Mutters gutes Bett. Der Zahnarzt klappte die Schatulle auf, ich blickte hinein.
Mutter – blickte zurück.
Ganz ehrlich, die eingelegten Litschis beim Chinesen um die Ecke sehen auch nicht anders aus.
Insofern eigentlich recht unverständlich, dass ich so ein Spektakel veranstaltete. Aber aufgrund irgend so einer komischen Abwehrreaktion rutschte mir die Hand aus und die Schatulle samt Mutters Augen flog in hohem Bogen zu Boden.
Der Zahnarzt kreischte, ich kreischte und Mutters Litschis rollten auf dem Parkett herum.
»Mutter! Mutter!« Strohmann hechtete hinunter, rutschte auf dem Boden herum und stieß eine Wehklage nach der anderen aus. Ich sprang ihm hinterher, robbte auf Knien durch den Raum und flehte um Hilfe von oben.
In dem Moment hörte ich ein schmatzendes Geräusch unter mir. Nein, bitte nicht! Bitte, bitte, nicht das!
Panisch hob ich mein Kleid. O mein Gott. Mein rechtes Knie hatte eines von Mutters Augen erlegt.
Das war mein Tod. Der Zahnarzt würde mich erwürgen. Mindestens. Mit spitzen Fingern nahm ich das arme Ding und besah es von allen Seiten. Vorne sah es tadellos aus, nur hinten fehlte die Hälfte.
Die Hälfte, die jetzt vermutlich auf mir pickte. Ich fand die Schatulle unter dem Bett und drückte das Auge mit der Iris nach oben hinein.
»Ich hab eins«, rief in dem Moment der Zahnarzt. »O Mutter! O liebste Mutter!«
»Und ich hab das andere gefunden«, sagte ich so natürlich wie möglich und brachte ihm die Schachtel.
»Es tut mir so leid«, flüsterte ich.
Der Zahnarzt schüttelte mit zitternden Lippen den Kopf und murmelte: »Jetzt noch frische Flüssigkeit.«
Er nahm eine Flasche aus der Kommode und träufelte deren Inhalt in die Schatulle. Mutters Augen fingen erst zu schwimmen, dann zu tanzen an. Bevor der Zahnarzt womöglich noch den Schaden entdeckte, legte ich die Hand auf den Deckel und schloss die Schatulle.
»Ich finde, sie hat heute schon genug durchgemacht«, sagte ich.
Strohmann sah mich an. Eine Träne lief über seine Wange.
»Es tut mir so leid«, wiederholte ich hilflos.
Er schüttelte wieder bloß den Kopf.
Ich räusperte mich. »Wie lange ist Ihre Mutter denn schon …«
»Vier Jahre.«
»Wow! Ich meine, schrecklich. Aber wow, dass sie noch so gut erhalten ist, äh, sind.«
»Formaldehyd. Ein befreundeter Pathologe, der auch so lieb war, mir Mutters Augen zu überlassen, versorgt mich damit.«
Ich versuchte zu lächeln. »Das ist wirklich großartig.«
Dem Zahnarzt lief wieder eine Träne über die Wange – und seine Unterlippe zitterte.
»Es tut mir so leid«, wiederholte ich flüsternd.
»Aber nein, liebste Teddy, es war ein Versehen. Mutter hat bestimmt Nachsicht. Doch während wir uns jetzt vereinen, möchte ich, dass Mutter zusieht. Ich möchte, dass sie sieht, wen ich mir ausgesucht habe.«
»Mmhm«, machte ich und sah, wie er den Deckel öffnete und einen liebevollen Blick hineinwarf.
Mir war schon alles egal, sollte er doch sehen, dass ich die eine Kugel beinahe zerquetscht hatte, dann würde er mich erwürgen oder aus dem Fenster schmeißen, jedenfalls war dann alles vorbei, und ich hatte endlich Ruhe.
Im nächsten Moment presste er meinen Kopf auf das Kissen und seine Zunge in meinen Mund. Okay, anscheinend hatte Mutter ihrem kleinen Schatz nicht gezeigt, was für einen Trampel er sich da ins Bett geholt hatte.
Hmm, so war das jetzt also. Mein erstes Mal.
Mit einem Mann, den ich für einen möglichen Serienmörder hielt, der in mir die Reinkarnation seiner Mutter sah, die wiederum als strenge Beobachterin beide Augen auf uns gerichtet hatte. Das waren die Schwachpunkte an der Situation.
Als positiv könnte man hingegen festhalten, dass der Zahnarzt mir gegenüber äußerst aufmerksam war, seine Mutter tot war und er halt noch immer so wahnsinnig gut aussah.
»O Teddy, ich liebe Sie, ich liebe Sie!«
Oh, na bitte, noch ein Bonus. Der erste Mann, der mir sagte, dass er mich liebte.
»Ich liebe Sie, Teddy.«
»Ja, ja«, sagte ich und überlegte weiter.
Mittlerweile fingerte Strohmann an meinem Miederhöschen herum. Natürlich, ein Mann, der seiner Mutter verfallen war, hatte kein Problem mit Altweiberwäsche.
»O Teddy, was ist denn das?«
Oder doch? Ich hob den Kopf und blickte nach unten. Der Zahnarzt hielt die Nagelfeile in der Hand. Plötzlich sah er wehleidig aus. Ich rappelte mich auf und zog mein Kleid bis über die Zehenspitzen.
»Hubertus«, begann ich.
»Ich mag keine Schmerzen. Können wir bitte die Feile weglassen?«
Jemanden abzuservieren war bei weitem nicht so aufregend, wie ich es mir vorgestellt hatte. Hubertus Strohmann verwandelte sich in Sekundenschnelle in das reinste Häufchen Elend und warf mir vor, ihn genauso verlassen zu wollen, wie Mutter es getan hatte.
Als ich ihm erklärte, dass ich das sicher nicht vorhatte, dass ich sicher nicht sterben und meine Augen in einer Schachtel haben wollte, wurde er fast böse.
Am Schluss fand ich eine Notlösung, wobei ich bescheiden feststellen muss, dass diese Notlösung fast schon ein Geniestreich war. Ich erzählte ihm von Tissi. Schwärmte ihm vor, wie schön herrisch sie sein konnte. Erzählte ihm von ihrem Beruf und davon, dass wir Schwestern uns durchaus ähnlich sahen. Wobei sie seiner Mutter sogar noch ein bisschen mehr glich als ich.
»Sie passt perfekt zu Ihnen«, sagte ich »Sie müssen sich nur an ein paar Regeln halten. Nennen Sie sie unbedingt ›Tira‹, nie irgendetwas anderes. Gehorchen Sie ihr unbedingt, seien Sie freundlich, und vor allem unterwürfig. Bewundern Sie sie für ihren beruflichen Erfolg, aber geben Sie sich furchtlos. Und zeigen Sie ihr nicht gleich zu Beginn … Mutter. Und sagen Sie nicht, dass wir, ähm, engen Kontakt hatten. Okay? Ich verspreche Ihnen, dass Sie Ihnen gefallen wird und Sie beide sehr glücklich miteinander sein werden.«
Und falls nicht, ist es mir auch egal, dachte ich, als ich die Stiegen hinunterhetzte, nachdem ich dem Zahnarzt noch einen Tipp gegeben hatte, wo er sie am besten »zufällig« treffen könnte. Alles Weitere überließ ich ihm. Beim Leben des Piraten schwor ich, nie, nie wieder in diese Wohnung zurückzukehren.