Mein Vater schluchzt.
Ich kann mich nicht bewegen, sondern bin wie festgefroren, w?hrend ich ihm beim Weinen zusehe. Ich denke an all die Male, in denen er mich zum Weinen gebracht hat. Ich denke an die Schl?ge und sein Gebrüll, an seine Beleidigungen und die K?lte, mit der er mich immer ansieht. Ich denke an den Tag der Beerdigung, an dem er uns Anweisungen dazu gegeben hat, wie wir uns verhalten sollen. An sein Schweigen nach Mums Tod.
Und ich merke, dass ich nicht die Genugtuung empfinde, die ich eigentlich empfinden will. Im Gegenteil – mein Dad leidet. Zu was für einen Menschen würde es mich machen, wenn ich mich jetzt umdrehen und in meinem Zimmer verschwinden würde?
Es f?llt mir nicht leicht, den ersten Schritt zu machen, aber ich tue es. Ich gehe ins Esszimmer, wobei ich aufpassen muss, nicht in die Scherben seines Wutausbruchs zu treten, und bleibe hinter ihm stehen. Ganz instinktiv lege ich Dad eine Hand auf die Schulter und drücke kurz zu. Das Schluchzen endet abrupt, und er h?lt den Atem an.
Gerade als ich meine Hand wieder wegziehen will, greift er danach. Er klammert sich beinahe verzweifelt daran, und ich lasse ihn. Ein merkwürdiges Gefühl überkommt mich. Etwas, was ich schon seit einer Ewigkeit nicht mehr für meinen Vater empfunden habe.
Ich sehe hoch zu unserem Bild. Darauf hat Dad beide H?nde auf Lydias Schultern, w?hrend ich vor Mum stehe und sie mich mit beiden Armen umschlungen h?lt. Zwar sind die Farben gr??tenteils verschwommen, aber ich wei? noch genau, wie es damals gewesen ist. Ich wei? noch genau, wie es sich angefühlt hat, Teil einer Familie zu sein.
Das Gefühl, das jetzt gerade in mir aufkeimt, ist zwar nur ein Schatten davon, aber ich halte daran fest.
26
Lydia
Ich muss zum ersten Mal in meinem Leben ein Kleid im Internet bestellen. Statt die Bond Street in London entlangzuspazieren und in jeden der L?den mindestens einmal hineinzuschnuppern, sitze ich nun auf Rubys Bett und klicke mich durch einen Onlineshop nach dem anderen. Es macht Spa?, vor allem weil ich es nicht allein machen muss, aber ich freue mich jetzt schon darauf, wenn ich wieder in meine Lieblingsl?den gehen und die Kleider anfassen und aus der N?he betrachten kann.
Die n?chsten paar Monate wird das allerdings keine Option für mich sein. Die meisten der Ladenbesitzer dort kennen mich, und die Wahrscheinlichkeit, dass sie einen Blick auf meinen Bauch werfen und eins und eins zusammenz?hlen, ist mir viel zu hoch. Denn dann w?re es nur eine Frage der Zeit, bis Dad davon erf?hrt.
Der Gedanke schickt einen eiskalten Schauer durch meinen K?rper.
Nein, Onlineshopping wird es vorerst tun müssen.
?Wie findest du das??, fragt Ruby und dreht den Laptop zu mir.
Ich rümpfe nur die Nase. ?Das sieht aus, als w?re jemand mit der Schere ausgerutscht?, sage ich und fahre mit dem Zeigefinger den Saum des Kleids nach, das hinten ein ganzes Stück l?nger ist als vorn. ?Meine Mum h?tte sich tierisch über diesen Schnitt aufgeregt. Und über die Farbe. Und den unmotivierten Spitzenbesatz am Dekolleté.?
?Okay, okay?, sagt Ruby lachend und schlie?t die Seite. ?Dann gucken wir noch mal hier. Da sind wir eben nur bis Seite zw?lf von siebenundzwanzig gekommen.?
Sie beginnt, nach unten zu scrollen, und gemeinsam beobachten wir, wie Kleider in den verschiedensten Farben und Schnitten auf dem Display erscheinen.
?Vielleicht sollte ich mich einfach vor dem Frühjahrsball drücken?, schlage ich nach einer Weile vor.
Ruby schüttelt augenblicklich den Kopf. ?Es ist dein letzter Frühjahrsball, Lydia. Du musst kommen.?
?Ich glaube nur langsam, dass es unm?glich ist, ein Kleid zu finden, in dem ich diesen Bauch hier verstecken kann. Was, wenn bei jemandem der Groschen f?llt??, frage ich und deute auf die kleine Kugel, die sich unter meinem übergro?en Sweatshirt verbirgt.
?Wir finden schon noch ein Kleid. Mach dir keine Sorgen.? Ruby klingt deutlich zuversichtlicher, als ich mich fühle.
Obwohl Dr. Hearst mir gesagt hat, dass mein Bauch im Vergleich zu anderen Frauen, die Zwillinge erwarten, eher langsam w?chst, fühle ich mich bereits riesig. In den letzten Wochen habe ich mir angew?hnt, meine Tasche in der Schule vor mich zu halten, au?erdem trage ich alle Blusen zwei Nummern gr??er. James hat sie nach einem seiner Meetings bei Beaufort unbemerkt aus der N?herei mitgehen lassen. Zum ersten Mal bin ich froh über die Tatsache, dass unsere Schuluniformen von Mum designt wurden und in unserer N?herei produziert werden.
Ich wünschte, so k?nnte ich es auch mit dem Kleid für den Frühjahrsball machen. Ich bereue es schon jetzt, dass ich mich von Ruby und James habe überreden lassen hinzugehen. Dabei ist das Kleid nicht mal mein gr??tes Problem bei der Sache. In erster Linie m?chte ich es vermeiden, Graham auch noch au?erhalb des Unterrichts sehen zu müssen.
Doch das kann ich Ruby nicht sagen – und schon gar nicht James. Ich würde es nicht ertragen, wenn er mich noch ein einziges Mal mitleidig ansieht. Nicht nach letztem Mittwoch, als ich mir einen Nerv im Rücken eingeklemmt und hilflos wie ein K?fer im Bett gelegen habe. Der Schmerz war so heftig, dass ich mich nicht bewegen konnte und warten musste, bis James meine Hilferufe geh?rt hat. Und dann musste er mir beim Anziehen helfen.
Es war demütigend, und am liebsten würde ich den gesamten Vormittag aus meinem Kopf l?schen. Für immer. Wenn ich ihm jetzt auch noch sage, dass ich es nicht ertrage, Graham auf einer Party zu begegnen, h?lt er mich mit Sicherheit für v?llig labil. Und das m?chte ich nicht.
?Wie sieht es hiermit aus??, fragt Ruby.
Auch dieses Kleid gef?llt mir nicht. Es ist zu jung, zu wenig glamour?s und erinnert mich an eine Uniform. ?Ich h?tte eigentlich schon ganz gerne ein Kleid, mit dem ich nicht v?llig heraussteche.?
?Ich h?tte nie gedacht, dass es so schwer wird, ein Kleid passend zu Ein Sommernachtstraum zu finden. Ich bereue es jetzt schon, das Motto vorgeschlagen zu haben.?