Er nickt knapp. Man erkennt die Regung kaum. ?Soso.?
?Ruby leitet das Veranstaltungskomitee?, sagt James, ohne von seiner Suppe aufzusehen.
Sein Vater beachtet ihn nicht. ?Und wollen Sie auch studieren??
?Ich gehe im Herbst nach Oxford.?
Mr Beaufort blickt interessiert auf, und zum ersten Mal an diesem Abend habe ich das Gefühl, dass er mich wirklich wahrnimmt.
Ich halte die Luft an. Alles in mir str?ubt sich, mit diesem Mann über Oxford zu sprechen. Das ist etwas, was mir heilig ist, und ich m?chte es mir nicht von jemandem kaputtmachen lassen, der keine Ahnung hat, was mir die Tatsache, an dieser Universit?t studieren zu k?nnen, wirklich bedeutet.
?Ach, wirklich? Für welchen Studiengang haben Sie sich entschieden??
?PPE?, gebe ich zurück.
?Das ist ein solider Studiengang. Und an welches College verschl?gt es Sie??
?St Hilda’s, Sir.?
Er nickt. ?Also dasselbe College, das auch James angenommen hat. Wie praktisch.?
Ich ignoriere seine Anspielung. ?Es ist ein tolles College. Die Interviews dort …? Ich verstumme. An den Tagen w?hrend der Interviews ist Mrs Beaufort gestorben. Ich sehe zu Lydia, die mit dem L?ffel auf halbem Weg zu ihrem Mund innegehalten hat und jetzt gedankenverloren in ihre Suppe starrt. ?Mir hat dort alles sehr gut gefallen, und ich kann es kaum erwarten, endlich anzufangen?, ende ich schnell. Ich kann mir kaum vorstellen, wie schmerzhaft es für James und Lydia sein muss, an diese Zeit zurückzudenken. Ich riskiere einen Blick zu James, doch dieser l?sst sich nichts anmerken und l?ffelt nur weiter seine Suppe.
Allein die Vorspeise dauert über eine Stunde. W?hrend des Hauptgangs versuchen Lydia und ich, das Beste aus der Situation zu machen, und unterhalten uns über alles M?gliche – von Filmen und Musik über Bücher und Blogs. Als Lydia erz?hlt, dass sie früher Ballett getanzt hat, ringt sich sogar Mr Beaufort zu einem minimalen L?cheln durch. Es verschwindet mindestens so schnell, wie es aufgetaucht ist, und danach bin ich mir nicht sicher, ob ich es mir vielleicht doch nur eingebildet habe.
?Im Nussknacker hatte ich mal die kleinste Nebenrolle der Welt, aber ich war so stolz?, erinnert Lydia sich. Sie schneidet gerade ihr H?hnchen durch, das mit gegrilltem Gemüse fein dekoriert wurde. Der Koch hat sich so viel Mühe beim Anrichten der Teller gegeben, dass ich mich fast nicht traue, sein kleines Kunstwerk zu zerst?ren.
?Ich m?chte bitte Fotos sehen.?
?M?chtest du nicht?, murmelt James neben mir. ?Sie war eine von den kleinen Ratten. Die Bilder sind gruselig.?
?Wieso erz?hlst du Ruby nicht, dass du damals auch Ballettunterricht genommen hast??, stichelt Lydia über den Tisch hinweg. Als James ihr einen vernichtenden Blick zuwirft, steckt sie sich eine gro?e Gabel in den Mund und zuckt mit den Schultern.
?Hast du wirklich??, frage ich überrascht.
Ein Muskel an James’ Kiefer tritt hervor. ?Lydia hat so getan, als w?re es megaschwer. Sie hat jeden Tag gejammert. Ich meinte nur, sie soll sich nicht so anstellen, schlie?lich k?nnte jeder ein bisschen in der Luft rumspringen.?
?Also hat er bei drei Probestunden mitgemacht?, prustet Lydia los. ?Du h?ttest ihn sehen sollen. Er war echt nicht gut.?
?Wie lange hast du durchgehalten??, frage ich grinsend.
?So lange, bis Lydia mir versprochen hat, sich zu Hause nicht mehr über den Unterricht zu beschweren.?
?Du warst ja ein richtig netter Bruder?, bemerke ich.
?Man tut, was man kann?, entgegnet James.
?Zum Glück hat er das nur diese drei Stunden über gemacht. Sonst h?tte ich wahrscheinlich sofort aufgeh?rt und nicht noch zwei Jahre durchgehalten?, sagt Lydia.
?Wieso hast du aufgeh?rt??, frage ich.
?Fehlende Disziplin?, antwortet Mr Beaufort, als h?tte ich ihm die Frage gestellt und nicht Lydia. ?Meine Tochter macht generell nur Dinge, die ihr leichtfallen. Sobald sie vor einer Herausforderung steht, gibt sie auf.?
Eine unangenehme, schwere Stille legt sich über uns wie eine dunkle Wolke, die jeden Moment losdonnert.
Lydias Lippen haben sich in eine bleiche Linie verwandelt. James neben mir umklammert sein Besteck so fest, dass seine Kn?chel deutlich hervortreten. Der Einzige, der in Ruhe weiterisst, ist Mr Beaufort. Er scheint nicht mal zu merken, dass er mit seinem fiesen Kommentar die Stimmung am Tisch zerst?rt hat.
Wie kann man nur so unempf?nglich sein für alles, was um einen herum passiert? So ignorant den eigenen Kindern gegenüber?
Die Lydia, mit der ich mich angefreundet habe, stellt sich jeder Herausforderung. Ich habe das Gefühl, Mr Beaufort kennt seine eigene Tochter nicht, wenn er so von ihr spricht.
?Die Fotos würde ich trotzdem gern sehen?, unterbreche ich die erdrückende Stille schlie?lich in bemüht fr?hlichem Tonfall. ?Ich bin mir sicher, du sahst zauberhaft aus, selbst als kleine Ratte.? Ich musste noch nie als Stimmungsbrücke zwischen mehreren Personen stehen – zumindest nicht so wie jetzt –, und ich habe keine Ahnung, ob es funktioniert oder ich gerade alles nur schlimmer mache. Ich wei? nur, dass ich James und Lydia etwas von ihrer Anspannung nehmen m?chte.
?Ich zeige sie dir nach dem Essen?, erwidert Lydia mit einem gezwungenen L?cheln. Sie hebt den Kopf, und einen Moment lang sieht es so aus, als würde sie ihren Vater anschauen. Doch dann erkenne ich, dass sie an ihm vorbei auf das riesige Familienportrait blickt, das an der Wand über dem alten Kamin h?ngt. Das ?lgem?lde zeigt die ganze Familie Beaufort, auch Mrs Beaufort mit ihren fuchsroten Haaren. Als es gemalt wurde, waren James und Lydia vielleicht sechs, maximal sieben Jahre alt.
?Nun?, sagt Mr Beaufort pl?tzlich, tupft sich den Mund mit der Stoffserviette ab und steht auf. ?Ich habe heute noch eine Telefonkonferenz. Guten Abend.? Er nickt uns zu, dann verl?sst er den Raum.
Fassungslos sehe ich zwischen James und Lydia hin und her, doch die beiden scheint der j?he Abgang ihres Dads nicht sonderlich überrascht zu haben.