Das Spinoza-Problem

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BERLIN, 1922


Berlin am ersten Frühlingstag war ungefähr so, wie Alfred es von seinem kurzen Aufenthalt im Winter 1919 in Erinnerung hatte. Unter einem granitgrauen Himmel mit beißend kaltem Wind und einem ständigen, leichten Regen, der nie den Boden zu erreichen schien, hockten griesgrämige, in mehrere Kleiderschichten eingemummte Ladenbesitzer in ihren ungeheizten Läden. Die Straße Unter den Linden war menschenleer, aber an jeder Kreuzung von Soldaten bewacht. In Berlin war es gefährlich: Gewalttätige, politische Demonstrationen und Attentate auf Kommunisten und Sozialdemokraten waren an der Tagesordnung.

Am Schluss ihres letzten Treffens vor vier Jahren hatte Friedrich »Krankenhaus Charité, Berlin« auf den Zettel geschrieben, den Alfred zerrissen und weggeworfen hatte, nur um ein paar Minuten später zurückzukehren und die verstreuten Papierfetzen einzusammeln. Alfred trat an einen Wachmann heran und erkundigte sich nach dem Weg zum Krankenhaus. Der Soldat musterte Alfred von Kopf bis Fuß und brummte: »Wo haben Sie Ihr Kreuz gemacht?«

Alfred war verwirrt: »Wie bitte?«

»Wen haben Sie gewählt?«

»Ach so.« Alfred richtete sich zu voller Größe auf. »Ich kann Ihnen sagen, wen ich in Zukunft wählen werde: Adolf Hitler und die komplette antijüdische-antibolschewistische Plattform der NSDAP.«

»Ich kenne keinen Hitler«, antwortete der Soldat, »und von der NSDAP habe ich noch nie gehört. Aber die Plattform gefällt mir. Also, die Charité, warten Sie – die können Sie gar nicht verfehlen –, das ist das größte Krankenhaus in Berlin.« Er deutete auf eine Straße zu seiner Linken. »Die Straße da hinunter, immer geradeaus.«

»Vielen Dank auch. Und merken Sie sich den Namen Hitler. Bald werden Sie nämlich Adolf Hitler wählen.«

Der Pförtner im Empfangsgebäude wusste sofort, wer Friedrich Pfister war. »Ja, natürlich, der Herr Doktor Pfister ist Facharzt für nervöse und seelische Störungen in der Ambulanz. Den Gang rechts hinunter, zur Tür hinaus und geradeaus zum nächsten Gebäude hinüber.«

Im Wartebereich im nächsten Gebäude drängten sich so viele junge und nicht mehr ganz so junge Männer, die noch immer ihre grauen Militärmäntel trugen, dass Alfred eine Viertelstunde brauchte, um sich zum Anmeldeschalter durchzuarbeiten, wo er schließlich die gestresste Sprechstundenhilfe auf sich aufmerksam machen konnte. Er lächelte höflich und rief: »Bitte, bitte, ich bin ein guter Freund von Doktor Pfister. Ich kann Ihnen versichern, dass er mich empfangen wird.«

Sie sah ihm direkt in die Augen. Alfred war ein gutaussehender, junger Mann. »Ihr Name?«

»Alfred Rosenberg.«

»Sobald er aus dem Sprechzimmer kommt, werde ich ihm sagen, dass Sie da sind.« Zwanzig Minuten später schenkte sie Alfred ein freundliches Lächeln und bedeutete ihm, ihr in ein großes Büro zu folgen. Friedrich, der ein Band mit Spiegel um den Kopf und einen weißen Mantel trug, aus dessen Taschen eine Taschenlampe, ein Stift, ein Ophthalmoskop, diverse hölzerne Zungenspatel und ein Stethoskop lugten, erwartete ihn bereits.

»Alfred! Was für eine Überraschung! Und eine angenehme noch dazu. Ich dachte schon, ich würde dich nie mehr wiedersehen. Wie geht es dir? Was hast du seit unserem Treffen in Estland getrieben? Was führt dich nach Berlin? Oder lebst du hier? An meinen dummen Fragen, mit denen ich dich bombardiere, merkst du schon, dass ich ein bisschen angespannt bin und eigentlich gar keine Zeit habe, mir die Antworten anzuhören. Das Wartezimmer ist wie immer gerammelt voll, aber ich bin hier um halb acht fertig – hättest du dann Zeit?«

»So viel du willst. Ich, also, ich bin eigentlich nur auf der Durchreise und wollte einfach mal mein Glück versuchen«, sagte Alfred und rügte sich insgeheim: Warum nennst du ihm nicht den wahren Grund, weshalb du hier bist?

»Gut, gut. Was hältst du davon, wenn wir uns beim Abendessen ein bisschen unterhalten? Ich würde mich freuen.«

»Ich auch.«

»Dann bin ich um halb acht an der Rezeption.«

Den ganzen Nachmittag bummelte Alfred durch die Stadt und verglich die eintönigen, spießigen Straßen Berlins mit den prächtigen Pariser Boulevards. Als es ihm draußen zu kalt wurde, zog er sich in die wärmeren Räume der ungeheizten Museen zurück. Um sieben Uhr stand er wieder im Warteraum des Krankenhauses, der sich inzwischen fast geleert hatte. Friedrich tauchte genau um halb acht Uhr auf und begleitete Alfred in den für die Ärzte reservierten Speisesaal, einen großen, fensterlosen Raum, in dem es nach Sauerkraut roch und wo viele Kellner hin und her flitzten, die die weißbemäntelten Herrschaften bedienten. »Wie du siehst, Alfred, ist es hier wie überall in Deutschland: viele Tische, viel Personal, aber wenig zu essen.«

Das Abendessen im Krankenhaus, ausnahmslos kalte Gerichte, bestand aus dünnen Scheiben Bierwurst, Leberwurst, Limburger Käse, kalten, gekochten Kartoffeln sowie Sauerkraut und Essiggurken. Friedrich entschuldigte sich. »Tut mir leid. Mehr kann ich dir nicht bieten. Hoffentlich hast du heute schon warm gegessen.«

Alfred nickte: »Eine Wurst im Zug. Hat nicht einmal schlecht geschmeckt.«

»Dafür dürfen wir uns auf den Nachtisch freuen. Ich habe den Koch gebeten, uns etwas Besonderes zu servieren – sein Sohn ist einer meiner Patienten, und nun backt er mir oft irgendwelche Leckereien. Aber nun«, Friedrich lehnte sich zurück und atmete erschöpft aus, »können wir uns endlich entspannen und plaudern. Zuerst muss ich dir von deinem Bruder erzählen. Gerade bekam ich einen Brief von Eugen, in dem er fragt, ob ich von dir gehört hätte. Wir haben uns in Berlin recht oft getroffen, aber vor ungefähr einem halben Jahr ist er nach Brüssel umgezogen. Er hat eine gute Stelle bei einer belgischen Bank. Seine Schwindsucht ist allmählich auf dem Rückzug.«

»O nein«, stöhnte Alfred.

»Wie? Dass sie sich zurückbildet, ist doch gut.«

»Ja, natürlich. Ich meinte aber ›Brüssel‹. Hätte ich gewusst, dass er dort lebt, wäre ich einen Tag geblieben.«

»Aber wie hättest du das wissen sollen? In Deutschland geht alles drunter und drüber. Eugen schrieb mir, dass er keine Ahnung hat, wo du lebst. Und auch nicht, wie. Alles, was ich ihm von unserem Treffen in Reval sagen konnte, war, dass du gehofft hattest, irgendwie nach Deutschland zu kommen. Wenn du willst, könnte ich vermitteln und eure Adressen austauschen.«

»Ja, ich würde ihm gern schreiben.«

»Gleich nach dem Abendessen hole ich seine Adresse. Sie ist in meinem Zimmer. Aber was hast du in Brüssel gemacht?«

»Willst du die ganze Geschichte hören oder eine Kurzfassung?«

»Die ganze Geschichte bitte. Ich habe viel Zeit.«

»Aber du bist bestimmt müde. Du musstest dir bestimmt den ganzen Tag die Probleme der Leute anhören? Wann hast du heute Morgen begonnen?«

»Ich arbeite seit sieben Uhr früh. Aber mit den Patienten zu sprechen ist etwas anderes, als mit dir zu sprechen. Du und Eugen, ihr seid alles, was mir von meinem Leben in Estland geblieben ist – ich war ein Einzelkind, und wie du dich vielleicht erinnerst, starb mein Vater, kurz bevor wir uns trafen. Meine Mutter ist vor zwei Jahren gestorben. Ich lege großen Wert auf meine Wurzeln – vielleicht sogar in einem irrationalen Maß. Und ich bedaure wirklich, dass wir uns das letzte Mal im Unfrieden getrennt haben – nur weil ich so gedankenlos war. Deshalb möchte ich die ganze Geschichte hören.«

Alfred erzählte bereitwillig über sein Leben in den vergangenen drei Jahren. Nein, er war mehr als bereitwillig: Während er erzählte, sickerte eine Wärme in seine Knochen, eine Wärme, die daraus entstand, dass er seine Lebensgeschichte jemandem erzählen durfte, der sie wirklich hören wollte. Er erzählte, wie er mit dem letzten Zug aus Reval herausgekommen war, von dem Viehtransporter nach München, von dem glücklichen Zufall, Dietrich Eckart getroffen zu haben, von seiner Tätigkeit als Zeitungsredakteur, davon, dass er der NSDAP beigetreten war, von seiner leidenschaftlichen Beziehung zu Hitler. Er sprach über seine wichtigsten Errungenschaften – über sein Werk Die Spur der Juden im Wandel der Zeit und über die Veröffentlichung der Protokolle der Weisen von Zion im vergangenen Jahr.

Die Protokolle der Weisen von Zion ließen Friedrich aufhorchen. Erst wenige Wochen zuvor hatte Friedrich bei einem Vortrag eines bedeutenden Historikers vor der Berliner Psychoanalytischen Vereinigung, in dem es um die Frage gegangen war, weshalb die Menschen immer schon einen Sündenbock brauchten, von diesem Dokument gehört. Er hatte erfahren, dass die Protokolle der Weisen von Zion vorgeblich eine Sammlung von Vorträgen enthielten, welche im Jahre 1897 anlässlich des Ersten Zionistischen Kongresses in Basel gehalten wurden. Anhand dieser Vorträge wurde eine internationale jüdische Verschwörung aufgedeckt, die christliche Institutionen unterminieren, die Russische Revolution einleiten und den Weg zur jüdischen Vorherrschaft in der Welt ebnen sollte. Der Sprecher auf der psychoanalytischen Konferenz sagte, dass die Protokolle kürzlich in ihrer Gesamtheit von einer skrupellosen Münchner Zeitung neu aufgelegt worden waren, und zwar ungeachtet der Tatsache, dass mehrere bedeutende wissenschaftliche Institutionen überzeugend dargelegt hatten, dass es sich bei den Protokollen von Zion um einen Schwindel handelte. Wusste Alfred, dass sie ein Schwindel waren?, fragte sich Friedrich. Hätte er sie in diesem Fall trotzdem veröffentlicht? Aber darüber verlor er kein Wort. Im Lauf seiner intensiven persönlichen Psychoanalyse während der letzten drei Jahre hatte Friedrich zuhören gelernt, und er hatte auch gelernt, zuerst zu denken und dann erst zu sprechen.

»Eckarts Gesundheit lässt zu wünschen übrig«, fuhr Alfred fort und kam sogleich auf seine Ambitionen zu sprechen. »Das betrübt mich, weil er ein wunderbarer Mentor ist, aber gleichzeitig weiß ich, dass seine bevorstehende Pensionierung mir den Weg zum Herausgeber des Völkischen Beobachters eröffnen wird, der ja die nationalsozialistische Parteizeitung ist. Hitler selbst hat mir gesagt, dass ich offenbar der beste Kandidat bin. Das Blatt wächst zusehends und wird bald als Tageszeitung erscheinen. Aber noch wichtiger wäre mir, dass ich durch meine Position als Herausgeber und durch meine Nähe zu Hitler irgendwann eine wichtige Rolle in der Partei spielen kann.«

Alfred beendete seinen Bericht mit einem wohlgehüteten Geheimnis: »Ich bereite gerade ein wirklich wichtiges Buch vor, das ich Der Mythus des zwanzigsten Jahrhunderts nennen werde. Ich hoffe, dass dieses Werk jedem denkenden Menschen das Ausmaß der jüdischen Bedrohung der westlichen Zivilisation vor Augen führen wird. Ich werde viele Jahre daran schreiben müssen, aber irgendwann rechne ich damit, dass es die Nachfolge der Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts antreten wird, dieses bedeutenden Werkes von Houston Stewart Chamberlain. Nun, das ist meine Geschichte bis 1923.«

»Alfred, ich bin beeindruckt, was du in so kurzer Zeit erreicht hast. Aber du hast noch nicht zu Ende erzählt. Was machst du im Augenblick? Was ist mit Brüssel?«

»Ja, richtig. Ich habe dir alles erzählt, nur das nicht, was du wissen wolltest!« Dann erzählte Alfred ausführlich von seiner Reise nach Paris, Belgien und Holland. Aus ihm unerfindlichen Gründen unterließ er es allerdings, seinen Besuch im Spinoza-Museum in Rijnsburg zu erwähnen.

»Was für ereignisreiche drei Jahre, Alfred! Du musst stolz auf das sein, was du erreicht hast! Es ist mir eine Ehre, dass du mir so sehr vertraust. Aber ich vermute stark, dass du das alles und ganz besonders deine Ziele bis jetzt noch niemandem erzählt hast. Stimmt’s?«

»Stimmt. Stimmt sogar sehr. Ich habe seit unserem letzten Gespräch kein so persönliches Gespräch mehr geführt. An dir ist etwas, Friedrich, das mir den Mut gibt, mich zu öffnen.« Alfred wollte Friedrich gerade erzählen, dass er einige grundsätzliche Dinge an seiner Persönlichkeit ändern wolle, als der Koch mit zwei großen Stücken noch warmer Linzer Torte auftauchte.

»Frisch aus dem Ofen für Sie und Ihren Gast, Herr Dr. Pfister.«

»Wie nett von Ihnen, Herr Steiner. Wie geht es übrigens Ihrem Sohn Hans? Wie fühlt er sich diese Woche?«

»Tagsüber geht es ihm besser, aber seine Alpträume sind immer noch schrecklich. Fast jede Nacht höre ich ihn schreien. Seine Alpträume sind inzwischen meine eigenen Alpträume geworden.«

»In seinem Zustand sind Alpträume normal. Haben Sie Geduld – sie werden nachlassen, Herr Steiner. Sie lassen immer nach.«

»Woran leidet sein Sohn?«, fragte Alfred, nachdem der Koch wieder verschwunden war.

»Ich kann mit dir nicht über einen bestimmten Patienten sprechen, Alfred. Das fällt unter das Arztgeheimnis. Aber so viel kann ich sagen: Erinnerst du dich noch an die vielen Männer, die du im Wartezimmer gesehen hast? Alle, jeder Einzelne hat das gleiche Leiden: Kriegsneurose. Und genauso sieht es in allen Wartezimmern an allen Krankenhäusern Deutschlands aus, die Nervenleiden behandeln. Und alle leiden sehr stark: Sie sind leicht erregbar, können sich nicht konzentrieren, werden von Panikattacken und Depressionen heimgesucht. Sie erleben ihr Trauma immer und immer wieder neu. Tagsüber gehen ihnen fürchterliche Bilder durch den Kopf. In der Nacht sehen sie in ihren Alpträumen, wie ihre Kameraden in Stücke gerissen werden, und sie sehen ihren eigenen nahenden Tod. Auch wenn sie sich als Glückspilze empfinden, weil sie dem Tod entronnen sind, leiden alle unter dem Überlebenden-Syndrom – dem Schuldbewusstsein, überlebt zu haben, während so viele andere starben. Sie grübeln ständig, was sie hätten tun können, um ihre gefallenen Kameraden zu retten, dass sie an ihrer Stelle hätten sterben sollen. Statt stolz zu sein, halten sich viele für Feiglinge. Das ist ein riesiges Problem, Alfred. Ich spreche von einer ganzen Generation deutscher Männer, die betroffen sind. Und natürlich kommt dazu noch die Trauer in den Familien. Wir haben drei Millionen Menschen im Krieg verloren, fast jede Familie in Deutschland hat einen Sohn oder Vater verloren.«

»Und das alles«, setzte Alfred schnell hinzu, »hat dieser vermaledeite, teuflische Friedensvertrag von Versailles noch viel schlimmer gemacht, weil dadurch ihr ganzes Leiden sinnlos geworden ist.«

Friedrich merkte, wie geschickt Alfred die Unterhaltung auf sein Wissensgebiet, die Politik, lenken wollte, ging aber nicht darauf ein. »Eine interessante Spekulation, Alfred. Bevor wir uns damit auseinandersetzen, müssten wir allerdings wissen, wie es in den Wartezimmern der Militärkrankenhäuser in Paris und London aussieht. Du bist vielleicht in genau der richtigen Position, um dieser Frage für deine Zeitung nachzugehen, und, ehrlich gesagt, würde ich mir wünschen, dass du darüber schreibst. Jede Öffentlichkeit, die wir bekommen können, ist hilfreich. Deutschland muss dieses Problem ernster nehmen. Wir brauchen mehr Ressourcen.«

»Du hast mein Wort. Gleich nach meiner Rückkehr werde ich einen Artikel darüber schreiben.«

Während sich beide mit Genuss ihrer Linzer Torte widmeten, wandte Alfred sich an Friedrich: »Du hast deine Fortbildung jetzt also hinter dir?«

»Meine eigentliche Ausbildung, ja. Aber die Psychiatrie ist ein seltsames Gebiet, denn im Gegensatz zu allen anderen medizinischen Fachrichtungen ist man eigentlich nie fertig. Das wichtigste Instrument bist du selbst, und die Arbeit am eigenen Selbstverständnis ist ein endloser Prozess. Ich lerne noch immer. Wenn dir etwas an mir auffällt, das mir helfen könnte, mehr über mich selbst zu erfahren, zögere bitte nicht, mich darauf hinzuweisen.«

»Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Was könnte mir schon auffallen? Was könnte ich dir sagen?«

»Alles, was du bemerkst. Vielleicht ertappst du mich ja dabei, dass ich dich komisch ansehe, dich unterbreche oder ein unpassendes Wort verwende. Vielleicht missverstehe ich dich oder stelle unbeholfene oder irritierende Fragen … einfach alles. Ich meine es ernst, Alfred. Ich will es hören.«

Alfred war sprachlos, fast aus dem Gleichgewicht gebracht. Es war schon wieder passiert. Er hatte abermals Friedrichs seltsame Welt betreten, in der radikal unterschiedliche Regeln der Gesprächsführung galten – eine Welt, die er sonst nirgendwo fand.

»Nun«, fuhr Friedrich fort, »du sagtest, dass du in Amsterdam warst und von dort aus nach München zurück wolltest. Nun liegt Berlin nicht gerade auf direktem Weg.«

Alfred griff in die Manteltasche und zog Spinozas Theologisch-Politischen Traktat heraus. »Eine lange Zugfahrt war die ideale Gelegenheit, das hier zu lesen.« Er hielt Friedrich das Buch hin. »Ich habe es im Zug ausgelesen. Du hattest so Recht, es mir zu empfehlen.«

»Ich bin beeindruckt, Alfred. Du bist ein wirklich eifriger Schüler. Es gibt nicht viele wie dich. Abgesehen von professionellen Philosophen gibt es kaum jemanden, der nach seinem Studium noch Spinoza liest. Ich dachte eher, dass du unseren alten Bento über deinem neuen Beruf und den Ereignissen, die ganz Europa erschüttern, inzwischen ganz vergessen hättest. Nun, was hältst du von dem Buch?«

»Einleuchtend, mutig, intelligent. Es ist eine vernichtende Kritik des Judentums und des Christentums – oder wie mein Freund Hitler es nennt, dieses ›ganzen religiösen Schwindels‹. Was ich allerdings wirklich in Frage stelle, sind Spinozas politische Ansichten. Er ist zweifellos naiv, wenn er Demokratie und individuelle Freiheit unterstützt. Du brauchst dir nur anzusehen, wohin uns solche Ideen in Deutschland gebracht haben. Mir scheint, als plädierte er geradezu für ein amerikanisches System, und wir wissen doch alle, worauf Amerika gerade zusteuert – auf ein von Mulatten-Mischlingen durchseuchtes Land.«

Alfred schwieg, und die beiden Männer machten sich über die letzten Bissen ihrer Linzer Torte her – eine wahre Delikatesse in jenen mageren Zeiten.

»Aber erzähl mir mehr über die Ethik«, fuhr er fort. »Das war schließlich das Buch, das Goethe so viel Ruhe und Weitblick vermittelt hat und das er ein ganzes Jahr lang mit sich herumgetragen hat. Weißt du noch, dass du mir angeboten hast, mich anzuleiten, mir zu helfen, wie ich es am besten anpacken soll?«

»Ja, das weiß ich noch, und mein Angebot steht. Ich hoffe nur, dass ich noch die nötigen Voraussetzungen mitbringe, denn mein Kopf ist momentan mit den kleinen und großen Gedanken angefüllt, die mein Beruf so mit sich bringt. Seit unserem letzten Treffen habe ich nicht mehr an Spinoza gedacht. Wo fange ich am besten an?« Friedrich schloss die Augen. »Ich versetze mich zurück in meine Studienzeit und höre die Vorlesungen meines Philosophieprofessors. Ich erinnere mich an seine Worte, dass Spinoza eine übermächtige Figur der Geistesgeschichte war. Dass er ein sehr einsamer Mann war, den die Juden exkommuniziert haben, dessen Bücher von den Christen verboten wurden und der die Welt verändert hat. Er behauptete, dass Spinoza die moderne Ära einleitete, dass die Aufklärung und die wachsende Bedeutung der Naturwissenschaften mit ihm begannen. Manche sehen Spinoza als den ersten Menschen des Abendlandes, der ganz offen ohne jede religiöse Zugehörigkeit lebte. Ich erinnere mich, dass dein Vater die Kirche öffentlich verhöhnte. Eugen erzählte mir, dass er sich weigerte, einen Fuß in eine Kirche zu setzen, und zwar nicht einmal zu Ostern oder zu Weihnachten. Stimmt das?«

Er sah Alfred in die Augen, und Alfred nickte: »Stimmt.«

»Also hielt dein Vater es in Wirklichkeit ähnlich wie Spinoza. Vor Spinoza wäre ein so offener Widerstand gegen die Religion undenkbar gewesen. Und du hast gut beobachtet, als du seine Rolle bei der Demokratiebewegung in Amerika erkannt hast. Die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung wurde vom britischen Philosophen John Locke inspiriert, und dieser wiederum ließ sich von Spinoza inspirieren. Mal sehen: Was noch? Ach ja, ich erinnere mich, dass mein Philosophieprofessor ausdrücklich Spinozas Festhalten an Immanenz betonte. Weiß du, was ich damit meine?«

Alfred hob unsicher die Schultern und drehte die Handflächen fragend nach oben.

»Es ist das Gegenteil von ›Transzendenz‹. Es steht für die Vorstellung, dass diese weltliche Existenz alles ist, was es gibt, dass die Gesetze der Natur alles lenken und dass Gott und die Natur identisch sind. Spinozas Leugnen jeglichen Lebens im Jenseits war für die Philosophie nach ihm von monumentaler Bedeutung, denn das bedeutete, dass die ganze Ethik, jeder Kodex über den Sinn des Lebens und das Verhalten in dieser Welt, in diesem Leben beginnen muss.« Friedrich hielt inne. »Das ist ungefähr alles, was mir einfällt … Ach ja, ein Letztes noch: Mein Professor behauptete, Spinoza sei der intelligenteste Mensch gewesen, den es je gegeben hat.«

»Diese Behauptung kann ich unterschreiben. Egal, ob man seine Ansichten teilt oder nicht, er ist auf jeden Fall brillant. Ich bin sicher, dass Goethe, Hegel und alle unsere großen Denker das erkannt haben.«

Aber wie konnten solche Gedanken von einem Juden kommen?, wollte Alfred hinzufügen, ließ es aber sein. Möglich, dass beide Männer das Thema vermeiden wollten, das bei ihrem letzten Treffen zu einer solchen Verbitterung geführt hatte.

»Nun, Alfred, hast du die Ethik noch?«

Der Koch trat an den Tisch und servierte den Tee.

»Halten wir Sie auf?«, erkundigte sich Friedrich, nachdem er sich im Speisesaal umgesehen und festgestellt hatte, dass er und Alfred die einzigen Gäste waren.

»Nein, nein, Herr Dr. Pfister. Ich habe noch zu tun. Ich bin bestimmt noch ein paar Stunden da.«

Nachdem der Koch verschwunden war, sagte Alfred: »Ja, die Ethik habe ich noch, aber seit Jahren nicht mehr in die Hand genommen.«

Friedrich blies auf seinen Tee, trank einen Schluck und wandte sich wieder Alfred zu. »Ich glaube, jetzt ist die Zeit gekommen, sie zu lesen. Es ist eine schwierige Lektüre. Ich habe ein einjähriges Seminar darüber besucht, und wir haben in der Klasse oft eine geschlagene Stunde damit zugebracht, eine einzige Seite zu diskutieren. Ich rate dir, es langsam anzugehen. Das Buch ist unbeschreiblich dicht und berührt fast alle wichtigen Aspekte der Philosophie – Tugend, Freiheit und Determinismus, das Wesen Gottes, Gut und Böse, persönliche Identität, das Verhältnis zwischen Körper und Geist. Vielleicht war nur noch die Politeia Platons so breit gefächert.«

Friedrich warf abermals einen Blick über den leeren Speisesaal. »Auch wenn Herr Steiner aus Höflichkeit das Gegenteil behauptet, denke ich doch, dass wir ihn hier aufhalten. Gehen wir in mein Zimmer. Wenn ich einen Blick in meine Aufzeichnungen werfe, kann ich meine Erinnerung vielleicht auffrischen. Dann kann ich dir auch gleich Eugens Adresse geben.«

Friedrichs Zimmer im Schlafbereich für die Ärzte war mit Bücherschrank, Schreibtisch, Stuhl und akkurat gemachtem Bett ziemlich spartanisch eingerichtet. Friedrich bot Alfred den Stuhl an und gab ihm sein Exemplar der Ethik zum Durchblättern, während er sich auf das Bett setzte und einen alten Aktenordner mit handschriftlichen Aufzeichnungen durchblätterte. Nach zehn Minuten begann er: »Nun, einige allgemeine Anmerkungen. Zuerst – und das ist wichtig – lass dich von dem geometrischen Stil nicht entmutigen. Ich glaube nicht, dass irgendein Leser gut damit zurechtgekommen ist. Mit diesen präzisen Definitionen, Axiomen, Aussagen, Beweisen und Schlussfolgerungen erinnert der Stil an Euklid. Der Text ist teuflisch schwierig zu lesen, und niemand weiß, warum er sich für eine solche Art zu schreiben entschieden hat. Ich erinnere mich, dass du sagtest, du hättest den Versuch aufgegeben, weil der Text dir undurchdringlich erschien, aber ich bitte dich sehr darum durchzuhalten. Mein Professor bezweifelt, dass Spinoza wirklich auf diese Art gedacht hat; er betrachtete es eher als anspruchsvolles pädagogisches Element. Vielleicht war es nur der natürliche Weg, seine fundamentale Idee zu präsentieren, dass nämlich nichts kontingent ist, dass alles in der Natur seine Ordnung hat, verständlich ist und von anderen Ursachen benötigt wird, um genau das zu sein, was es ist. Oder vielleicht wollte er, dass die Logik regiert und dass seine Schlussfolgerungen dadurch, dass er sich selbst vollkommen unsichtbar macht, von Logik untermauert und nicht von vornherein durch Rückgriff auf Rhetorik oder Autoritäten und auch nicht durch Verweis auf seine jüdische Herkunft präjudiziert werden. Er wollte sein Werk wie eine mathematische Aufgabe beurteilt wissen – durch die schiere Logik seiner Methode.«

Friedrich nahm Alfred das Buch wieder aus der Hand und blätterte es durch. ›Es ist in fünf Teile untergliedert‹, erklärte er. ›Über Gott‹, ›Über die Natur und den Ursprung des Geistes‹, ›Über den Ursprung und die Natur der Affekte‹, ›Über die menschliche Unfreiheit, oder die Macht der Affekte‹, ›Über die Macht der Erkenntnis, oder die menschliche Freiheit‹. Der vierte Abschnitt ›Über die menschliche Unfreiheit‹ interessiert mich am meisten, weil er die größte Relevanz für mein Fachgebiet hat. Vorhin sagte ich, dass ich seit unserem letzten Treffen nicht mehr an ihn gedacht hatte, aber jetzt, da wir darüber sprechen, fällt mir auf, dass das nicht stimmt. Wenn ich psychiatrische Abhandlungen lese oder Vorträge höre oder mich mit Patienten unterhalte, geht mir Spinozas weithin verkannter Einfluss auf mein Gebiet der Psychiatrie durch den Kopf. Und der fünfte Teil ›Über die Macht der Erkenntnis oder die menschliche Freiheit‹ ist für meine Arbeit ebenfalls relevant und sollte auch dich interessieren. Das ist der Abschnitt, von dem Goethe wohl am meisten profitiert haben dürfte.

Ein paar Gedanken zu den ersten beiden Teilen …« Friedrich warf einen Blick auf die Uhr. »Diese sind für mich die schwierigsten und abstrusesten Abschnitte, in denen ich bis heute nicht jeden Gedanken nachvollziehen kann. Hauptsächlich geht es darum, dass alles im Universum aus einer einzelnen, ewigen Substanz besteht, nämlich der Natur oder Gott. Und vergiss nicht, dass er diese beiden Begriffe synchron verwendet.«

»Der Name ›Gott‹ müllt wirklich jede Seite zu?«, fragte Alfred. »Ich dachte, er war nicht gläubig.«

»Dazu gibt es viele widersprüchliche Ansichten. Viele bezeichnen ihn als Pantheisten. Mein Professor sah ihn lieber als abweichlerischen Atheisten, der den Begriff ›Gott‹ wiederholt verwendete, um die Leser des siebzehnten Jahrhunderts bei der Stange zu halten. Und um seine Bücher und sich persönlich davor zu schützen, den Flammen übergeben zu werden. Bestimmt verwendet er ›Gott‹ nicht im konventionellen Sinn. Er zieht gegen die naive Behauptung von Menschen zu Felde, nach Gottes Ebenbild geschaffen worden zu sein. Irgendwo, ich glaube, in seinen Briefen, sagt er, dass, wenn Dreiecke denken könnten, sie einen dreieckigen Gott erschaffen würden. Alle anthropomorphischen Darstellungen Gottes sind einfach nur abergläubische Erfindungen. Aberglaube. Für Spinoza sind Natur und Gott Synonyme; man könnte sagen, dass er Gott naturalisiert.«

»Bis jetzt höre ich noch nichts über Ethik.«

»Da musst du auf die Teile vier und fünf warten. Zunächst stellt er fest, dass wir in einer deterministischen Welt leben, die voller Hindernisse für unser Wohlergehen ist. Was immer sich ereignet, ist ein Ergebnis der unveränderlichen Gesetze der Natur, und wir sind ein Teil der Natur und diesen deterministischen Gesetzen unterworfen. Weiterhin ist die Natur unendlich komplex. Wie er es ausdrückt, weist die Natur eine unendliche Anzahl von Modi oder Attributen auf, und wir Menschen können nur zwei davon begreifen, nämlich Gedanken und das Wesen der Dinge.«

Alfred stellte noch einige weitere Fragen zur Ethik, aber Friedrich merkte, dass er anscheinend nur darauf aus war, das Gespräch in Gang zu halten. Friedrich wartete geduldig den rechten Zeitpunkt ab und riskierte dann eine Beobachtung: »Du glaubst nicht, wie sehr ich es genieße, die Erinnerung an Spinoza aufzufrischen und mit dir zu diskutieren. Aber ich möchte sicher sein, dass ich nichts übersehen habe. Als Therapeut habe ich gelernt, auf meine Intuition zu achten. Und nun sagt mir meine Intuition etwas, was mit dir zu tun hat.«

Alfred hob die Augenbrauen und sah ihn erwartungsvoll an.

»Meine Intuition sagt mir, dass du nicht nur über Spinoza, sondern auch über etwas anderes mit mir sprechen wolltest.«

Sag ihm die Wahrheit, sagte Alfred zu sich. Erzähl ihm von deiner Anspannung. Von deiner Schlaflosigkeit. Davon, dass du nicht geliebt wirst. Davon, dass du immer ein Außenseiter bist, immer außen vor statt beteiligt. Aber stattdessen sagte er: »Nein, es war wunderbar, dich zu treffen, mich auf den neuesten Stand zu bringen und mehr über Spinoza zu erfahren – wann hat man schon die Möglichkeit, über einen Spinoza-Kenner zu stolpern? Und obendrein habe ich eine gute Story für die Zeitung. Wenn du mir irgendwelche medizinischen Abhandlungen über Kriegsneurosen geben könntest, würde ich im Zug nach München einen Artikel schreiben und ihn schon in der nächsten Wochenausgabe veröffentlichen. Ich schicke ihn dir dann zu.«

Friedrich ging zu seinem Schreibtisch und blätterte in mehreren Fachzeitschriften. »Hier, im Journal of Nervous Diseases, gibt es eine gute Besprechung. Nimm die Ausgabe mit und schick sie mir zurück, wenn du sie nicht mehr brauchst. Und hier ist auch Eugens Adresse.«

Als Alfred sich langsam, fast widerstrebend erhob, beschloss Friedrich, einen letzten Versuch zu riskieren – ein weiteres Werkzeug, das sein eigener Analytiker ihm gezeigt hatte und das er häufig bei seinen Patienten anwendete. Es wirkte fast immer.

»Bleib noch einen Augenblick, Alfred. Ich habe noch eine letzte Bitte: Ich bitte dich, dir etwas vorzustellen. Schließe die Augen und stelle dir vor, dass du dich jetzt von mir verabschiedest. Stelle dir vor, dass du unsere Unterhaltung beendest, dich dann in den Zug setzest und die lange Fahrt nach München antrittst. Sag mir Bescheid, wenn du glaubst, dass du im Zug sitzest.«

Alfred schloss die Augen und signalisierte kurz darauf, dass er bereit war.

»So. Und nun möchte ich, dass du Folgendes machst: Denke an unser Gespräch von heute Abend zurück und stelle dir folgende Fragen: Gibt es etwas, was ich im Zusammenhang mit dem Gespräch mit Friedrich bedauere? Gab es wichtige Themen, die ich nicht angeschnitten habe?«

Alfred hielt die Augen geschlossen, und nach langem Schweigen nickte er langsam: »Nun, ein Thema gibt es tatsächlich …«





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