Das Spinoza-Problem

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MÜNCHEN, MÄRZ 1922


In den folgenden Wochen änderte Alfred seine Einstellung zu der ihm zugeteilten Aufgabe. Sie war ihm keine Last mehr, sondern eine hervorragende Gelegenheit, die maßgeschneiderte Rolle für ihn, einen enormen Einfluss auf das Schicksal des Vaterlandes auszuüben. Die Partei war noch immer klein, aber Alfred wusste, dass es die Partei der Zukunft war.

Hitler wohnte in einer kleinen Wohnung in der Nähe des Büros und besuchte Dietrich fast täglich. Dietrich, der sich als Hitlers Mentor betrachtete, betreute seinen Protégé, wenn es darum ging, seinen Antisemitismus zu schärfen und seine politischen Visionen auszubauen, und er machte ihn mit prominenten Deutschen des rechten Flügels bekannt. Drei Jahre später sollte Hitler Dietrich Eckart den zweiten Band von Mein Kampf mit folgenden Worten widmen: »Und unter sie will ich auch jenen Mann rechnen, der als der Besten einer sein Leben dem Erwachen seines, unseres Volkes gewidmet hat im Dichten und im Denken und am Ende in der Tat: Dietrich Eckart.« Auch Alfred sah Hitler häufig, immer am späten Nachmittag oder am Abend, denn Hitler blieb gern lange auf und schlief dann bis Mittag. Sie unternahmen gemeinsame Spaziergänge und besuchten Galerien und Museen.

Es gab zwei Hitler: der eine war Hitler, der mitreißende Redner, der jedes Publikum, vor dem er sprach, elektrisierte und in seinen Bann zog. So etwas hatte Alfred noch nie erlebt, und Anton Drexler und Dietrich Eckart waren überglücklich, am Ende doch noch den Mann gefunden zu haben, der ihre Partei in die Zukunft führen sollte. Alfred war bei vielen der Gespräche anwesend, und derer gab es reichlich. Mit grenzenloser Energie sprach Hitler überall dort, wo es Zuhörer gab: an belebten Straßenecken, in vollen Straßenbahnen und vor allem in Bierkellern. Sein Ruhm als Redner sprach sich schnell herum, und seine Zuhörerschaft wuchs – zeitweise auf über tausend. Darüber hinaus schlug Hitler vor, die Deutsche Arbeiterpartei in Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) umzubenennen, um ihr eine breitere Basis zu geben.

Gelegentlich hielt auch Alfred Reden vor Parteimitgliedern, denen Hitler normalerweise ebenfalls zuhörte und über die er sich danach immer lobend äußerte: »Die Gedanken waren wunderbar«, lobte Hitler ihn dann. »Aber mehr Feuer, mehr Feuer!«

Und dann gab es den anderen Hitler – den liebenswürdigen Hitler, den entspannten, höflichen Hitler, der Alfreds Betrachtungen zur Geschichte, zur Ästhetik, zur deutschen Literatur lauschte. »Wir denken genau gleich«, rief Hitler oft, ohne sich der Tatsache bewusst zu sein, dass es Alfred gewesen war, der viele der Saatkörner gesetzt hatte, die nun in seinem Kopf sprossen.

Eines Tages besuchte Hitler ihn in seinem neuen Büro beim Völkischen Beobachter und gab ihm einen Artikel über Alkoholismus, den er veröffentlicht haben wollte. Ein paar Monate zuvor hatte die Nazipartei den Münchener Beobachter, die Zeitung der Thule-Gesellschaft, erworben, sie sogleich umgetauft und an Dietrich Eckart übergeben, der sein altes Blatt einstellte und mit seiner bisherigen Belegschaft nun die neue Zeitung herausgab. Hitler wartete, bis Alfred den Artikel durchgelesen hatte, und war überrascht, als Alfred die Schublade seines Schreibtisches aufzog und den Entwurf eines Artikels herausnahm, den er zufällig selbst gerade über Alkoholismus schrieb.

Hitler überflog Alfreds Artikel, hob den Kopf und erklärte: »Sie sind identisch.«

»Ja, sie stimmen so genau überein, dass ich meinen Artikel zurückziehen werde«, antwortete Alfred.

»Nein, auf keinen Fall. Veröffentlichen Sie alle beide. Die Wirkung wird viel größer sein, wenn beide in derselben Ausgabe erscheinen.«

Als Hitler mehr Macht in der Partei übernahm, verfügte er, dass alle Parteiredner ihm vorab ihre Reden vorzulegen hatten. Später nahm er Alfred von dieser Pflicht aus – es sei unnötig, wie er sagte, da sich ihre Reden so sehr glichen. Aber Alfred stellte doch einige Unterschiede fest. Zum einen hatte Hitler trotz der unübersehbaren Wissenslücken aufgrund seiner begrenzten Schulbildung ein außerordentliches Selbstbewusstsein. Immer wieder verwendete Hitler Begriffe wie »unverrückbar«, womit er implizierte, dass er sich seiner Überzeugungen vollkommen sicher war und fest zu seinem Prinzip stand, niemals, unter gar keinen Umständen auch nur einen Aspekt seiner Überzeugungen zu ändern. Alfred kam aus dem Staunen nicht heraus, wenn er Hitler zuhörte. Woher nahm er bloß diese Sicherheit? Er, Alfred, würde für ein solches Selbstvertrauen seine Seele verkaufen, und es schauderte ihn, wenn er sich selbst beobachtete, wie er ständig nach der leisesten Anerkennung, der leisesten Zustimmung lechzte.

Und es gab noch einen Unterschied. Während Alfred oft von der Notwendigkeit sprach, Juden aus Europa »zu entfernen« oder »umzusiedeln« oder »zu verlagern«, verwandte Hitler eine andere Sprache. Er sprach vom »Ausrotten« oder »Ausmerzen« der Juden, ja sogar davon, sie allesamt an Laternenpfählen aufzuhängen. Aber das war bestimmt Rhetorik, das Wissen darum, wie man Zuhörer wachrüttelt.

In den folgenden Monaten erkannte Alfred, dass er Hitler unterschätzt hatte. Dies war ein Mann von beachtlicher Intelligenz, ein Autodidakt, der unersättlich Bücher las, sich alle Informationen merkte und eine große Schwäche für Kunst und Wagners Musik hatte. Dessen ungeachtet war die Basis seines Wissens angesichts der fehlenden systematischen akademischen Ausbildung brüchig und wies klaffende Lücken auf. Alfred tat sein Bestes, diese anzusprechen, aber es war eine Herausforderung. Hitlers Stolz war so ausgeprägt, dass Alfred ihm nie direkt sagen konnte, welche Bücher er lesen sollte. Stattdessen lernte er, ihn indirekt weiterzubilden. Denn Alfred hatte festgestellt, dass immer, wenn er ein Thema ansprach, Schiller beispielsweise, Hitler sich wenige Tage später in aller Ausführlichkeit und mit unerschütterlicher Sicherheit über Schillers Dramen unterhalten konnte.

An einem Frühlingsmorgen in jenem Jahr kam Dietrich Eckart an Alfreds Büro vorbei und schaute einige Augenblicke lang durch die Glasfüllung der Tür, hinter der sein Schützling eifrig einen Artikel redigierte. Er schüttelte den Kopf, klopfte an die Scheibe und bedeutete Alfred, ihm in sein Büro zu folgen. Dort zeigte er auf einen Stuhl.

»Ich muss dir etwas sagen – um Himmels willen, Alfred, schau doch nicht so besorgt. Du bewährst dich bestens. Ich bin mit deinem Einsatz voll und ganz zufrieden. Wenn ich dir überhaupt etwas raten könnte, dann höchstens ein bisschen weniger Einsatz, ein paar Bierchen mehr und öfters ein lockeres Gespräch mit anderen. Zu viel Arbeit ist nicht immer eine Tugend. Aber darüber reden wir ein andermal. Hör zu, du wirst für unsere Partei immer wertvoller, und ich möchte deine Karriere vorantreiben. Würdest du mir zustimmen, dass Redakteure, die etwas veröffentlichen, über das sie Bescheid wissen, im Vorteil sind?«

»Natürlich.« Alfred bemühte sich, weiterhin ein freundliches Gesicht zu machen, wusste aber nicht so recht, worauf Eckart hinauswollte. Er war überhaupt nicht einzuschätzen.

»Bist du schon viel in Europa herumgekommen?«

»Sehr wenig.«

»Wie kannst du über unsere Feinde schreiben, wenn du sie nicht mit eigenen Augen gesehen hast? Ein guter Krieger muss manchmal innehalten und seine Waffen schärfen. Hab ich Recht?«

»Ohne Frage«, bestätigte Alfred misstrauisch.

»Dann geh nach Hause und pack deinen Koffer. Dein Flug nach Paris geht in drei Stunden.«

»Paris? Flug? Drei Stunden?«

»Ja. Dimitri Popoff, ein Russe und zugleich einer der Hauptsponsoren der Partei, hat dort ein wichtiges geschäftliches Treffen. Er fliegt heute mit zwei Kollegen hin und hat sich bereit erklärt, bei der weißrussischen Gemeinde in Paris Gelder aufzutreiben. Er fliegt mit einer neuen Junkers F13, in der für vier Passagiere Platz ist. Ich wollte ihn eigentlich selbst begleiten, aber ein paar unangenehme Schmerzen gestern in der Brust haben das leider unmöglich gemacht. Mein Arzt und meine Frau verbieten mir die Reise. Ich möchte, dass du an meiner Stelle fliegst.«

»Es tut mir leid, dass Sie krank sind, Herr Eckart. Aber wenn Ihr Arzt Ihnen Ruhe verschrieben hat, möchte ich Sie nicht mit den nächsten beiden Ausgaben allein …«

»Von Ruhe hat der Arzt nichts gesagt. Er ist nur vorsichtig, weil er nur wenig über die Auswirkungen einer Flugreise auf diese Art von Beschwerden weiß. Die Ausgaben sind so gut wie fertig. Ich werde mich darum kümmern. Und du fliegst nach Paris.«

»Und was möchten Sie, dass ich dort mache?«

»Ich möchte, dass du Herrn Popoff begleitest, wenn er mit potentiellen Spendern zusammenkommt. Wenn er will, wirst du selbst uns bei den Spendern präsentieren. Es ist an der Zeit, dass du lernst, mit reichen Leuten zu sprechen. Danach wirst du gemächlich mit dem Zug nach Hause fahren. Nimm dir eine ganze Woche oder auch zehn Tage Zeit. Sei ein freier Mann. Fahre, wohin du willst, und beobachte nur. Schau dir an, wie unsere Feinde den Versailler Frieden auskosten. Mach Notizen. Alle deine Beobachtungen werden für die Zeitung von Nutzen sein. Übrigens war Herr Popoff auch damit einverstanden, dir genügend französische Francs zur Verfügung zu stellen. Du wirst sie brauchen. Die Deutsche Mark ist im Ausland dank der Inflation fast wertlos. Hier ist sie auch fast wertlos!«

»Ja, ein Laib Brot wird jeden Tag teurer«, bestätigte Alfred.

»Genau. Und ich schreibe gerade einen Artikel für die nächste Ausgabe, warum wir den Preis für die Zeitung schon wieder heraufsetzen müssen.«

Beim Start klammerte Alfred sich an die Armlehnen seines Sitzes und starrte aus dem Fenster, unter dem München von Sekunde zu Sekunde kleiner wurde. Amüsiert von Alfreds Angst, versuchte Herr Popoff, mit blitzenden Goldzähnen den Motorenlärm zu übertönen: »Fliegen Sie zum ersten Mal?« Alfred nickte und schaute aus dem Fenster, dankbar dafür, dass der Krach eine Unterhaltung mit Herrn Popoff und den anderen beiden Passagieren unmöglich machte. Er dachte an Eckarts Bemerkung über ein lockeres Gespräch … Warum fiel es ihm so schwer, eine unverbindliche Unterhaltung zu führen? … Warum war er so verschlossen? … Warum erzählte er Eckart nicht, dass er einmal mit seiner Tante in die Schweiz gereist war und dass er und seine damalige Verlobte Hilda vor wenigen Jahren kurz vor Kriegsausbruch in Paris gewesen waren? Vielleicht wollte er nur seine baltische Vergangenheit vergessen und als deutscher Bürger im Vaterland wiedergeboren werden. Nein, nein, nein – er wusste, dass es tiefer ging. Sich jemandem zu öffnen war für ihn schon immer bedrohlich gewesen. Genau deshalb waren seine beiden Gespräche mit Friedrich im Bierkeller ja so außergewöhnlich und so befreiend gewesen. Er versuchte, tiefer in sich hinein zu hören, verlor aber wie immer den Faden. Ich muss mich ändern … Ich werde Friedrich wieder besuchen.

Am nächsten Tag überließ Herr Popoff es Alfred, die Diskussion über das Parteiprogramm zu führen und zu erläutern, aus welchen Gründen diese Partei die einzige war, die den Judäo-Bolschewiken das Handwerk legen konnte. Ein Bankier mit funkelndem Diamantring am kleinen Finger fragte Alfred: »Wenn ich nicht irre, ist der offizielle Name Ihrer Partei jetzt Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei?«

»Ja.«

»Warum ein so sperriger und verwirrender Name? ›National‹ impliziert rechts, ›sozialistisch‹ links, ›Deutschland‹ rechts und ›Arbeiter‹ links! Das ist unmöglich. Wie kann Ihre Partei alles zugleich sein?«

»Das ist genau das, was Hitler will, alles für alle Menschen sein – außer natürlich für die Juden und die Bolschewisten. Wir haben einen langfristigen Plan. Unser erstes Ziel ist es, in den nächsten Jahren in großer Zahl ins Parlament zu kommen.«

»Parlament? Sie glauben, dass die unwissenden Massen regieren können?«

»Nein. Aber zuerst einmal müssen wir an die Macht. Unsere parlamentarische Demokratie ist durch den Einfall der Bolschewisten geschwächt, und ich verspreche Ihnen, dass wir am Ende mit diesem ganzen parlamentarischen System aufräumen werden. Hitler hat in meiner Gegenwart viele Male genau diese Worte gewählt. Und mit seiner neuen Plattform hat er die Ziele der Partei sehr klar formuliert. Ich habe Ihnen Abschriften des neuen Fünfundzwanzigpunkteprogramms mitgebracht.«

Nach Abschluss ihrer Besuche reichte Herr Popoff Alfred einen dicken Umschlag mit Französischen Francs. »Gute Arbeit, Herr Rosenberg. Diese Francs sollten für Ihre Reisen durch Europa reichen. Ihre Präsentationen waren exzellent, genau wie Herr Eckart es mir prophezeit hat. Und in einem so ausgezeichneten Russisch. Ein wunderbares Russisch. Alle waren ausgesprochen beeindruckt.«

Eine freie Woche lag vor ihm! Was für ein Vergnügen, einfach loszugehen, wohin er wollte. Eckart hatte Recht – er hatte zu viel gearbeitet. Als er durch die Straßen von Paris schlenderte, verglich Alfred die Lebensfreude und den allgegenwärtigen Überfluss mit dem drögen Berlin und der Armut und der Hektik in München. In Paris waren nur wenige Kriegsnarben zu sehen, seine Bürger schienen wohlgenährt, die Restaurants waren voll, und trotzdem saugte Frankreich zusammen mit England und Belgien den Deutschen mit drakonischen Reparationsforderungen das Blut aus. Alfred beschloss, zwei Tage in Paris zu bleiben – die Galerien und Kunsthändler lockten – und anschließend mit dem Zug Richtung Norden nach Belgien und schließlich nach Holland zu fahren. Spinoza-Land. Von dort würde er den großen Umweg mit dem Zug über Berlin nach Hause auf sich nehmen und sich bei Friedrich melden.

In Belgien war Brüssel nicht nach Alfreds Geschmack, und der Anblick des belgischen Parlamentsgebäudes widerte ihn an, wo Deutschlands Feinde unermüdlich neue Methoden ausbaldowerten, um das Vaterland auszuplündern. Am folgenden Tag besuchte er den deutschen Militärfriedhof in Ypern, wo die Deutschen im Weltkrieg so horrende Verluste erlitten hatten und wo Hitler so heldenhaft gedient hatte. Und dann ging es Richtung Norden nach Amsterdam.

Alfred hatte keine Vorstellung, was er suchte. Er wusste nur, dass er das Spinoza-Problem ständig im Hinterkopf hatte. Der Jude Spinoza faszinierte ihn noch immer. Nein, sagte er zu sich, er fasziniert dich nicht, sei ehrlich – du bewunderst ihn, genauso, wie Goethe ihn bewundert hat. Alfred hatte das Bibliotheksexemplar des Theologisch-Politischen Traktats von Spinoza nie zurückgegeben und las oft ein paar Absätze nachts im Bett. Er litt unter Schlafstörungen: Sobald er zu Bett ging, befiel ihn eine unerklärliche Unruhe, anscheinend kämpfte er ständig gegen den Schlaf an. Das war ein weiteres Thema, über das er mit Friedrich sprechen wollte.

Im Zug schlug er den Traktat an der Stelle auf, an der er vergangene Nacht eingeschlafen war. Und abermals beeindruckte ihn die Unerschrockenheit Spinozas, der es im siebzehnten Jahrhundert gewagt hatte, die religiösen Autoritäten herauszufordern. Beeindruckend, wie er auf die Ungereimtheiten in der Heiligen Schrift und auf die Absurdität hinwies, einem Dokument einen göttlichen Ursprung zuzuschreiben, das vor menschlichen Fehlern nur so wimmelte. Besonders diejenigen Passagen hatten es ihm angetan, in denen Spinoza die Priester und Rabbiner verhöhnte, die meinten, eine privilegierte Vision der Bedeutung von Gottes Wort zu besitzen.

»Glauben sie aber, daß derjenige ein Gotteslästerer sei, welcher die Bibel an irgendeiner Stelle für fehlerhaft erklärt, so frage ich, mit welchem Namen soll man sie selber nennen, welche der Bibel andichten, was ihnen beliebt? Welche die Verfasser der heiligen Geschichten dermaßen herabwürdigen, daß man glauben muß, sie scherzen nach Kinderart ins Blaue hinein und werfen alles durcheinander? …«

Und ebenfalls beeindruckend, wie Spinoza quasi aus dem Handgelenk heraus jüdische mystische Eiferer abfertigte:

»Ich habe auch einige windige Kabbalisten gelesen und sogar kennen gelernt und konnte mich über ihre Unsinnigkeiten nicht genug wundern.«

Wie paradox! Ein Jude, sowohl mutig als auch weise. Wie würde Houston Stewart Chamberlain auf das Spinoza-Problem reagieren? Was sprach eigentlich dagegen, ihn in Bayreuth zu besuchen und zum Spinoza-Problem zu befragen? Ja, das werde ich tun – und ich werde Hitler bitten, mich zu begleiten. Schließlich sind wir beide seine intellektuellen Erben, oder? Höchstwahrscheinlich wird Chamberlain zu dem Schluss kommen, dass Spinoza kein Jude war. Und er hätte Recht – denn wie konnte Spinoza ein Jude sein? Diese religiöse Indoktrinierung rund um die Uhr, und dennoch lehnte er den jüdischen Gott und das jüdische Volk ab. Spinoza besaß Seelenweisheit – er musste einfach nichtjüdisches Blut in sich tragen.

Doch im Rahmen seiner Ahnenforschung hatte er bislang nur herausgefunden, dass Spinozas Vater, Michael D’Espinoza möglicherweise aus Spanien gekommen war, zuerst nach Portugal und dann im frühen siebzehnten Jahrhundert nach Amsterdam immigrierte. Seine Nachforschungen hatten allerdings auch unerwartete, interessante Ergebnisse erbracht. Erst eine Woche zuvor hatte er entdeckt, dass Königin Isabella im fünfzehnten Jahrhundert Gesetze zur Reinheit des Blutes (limpiezas de sangre) erlassen hatte, wonach es konvertierten Juden untersagt war, einflussreiche Positionen in der Regierung und beim Militär zu bekleiden. Sie war eine weise Frau und hatte erkannt, dass die jüdische Bösartigkeit nicht auf religiösem Gedankengut beruhte – sie lag im Blut selbst. Und sie machte ein Gesetz daraus! Hut ab vor Königin Isabella! Nun änderte er seine bisherige Einstellung zu ihr: Er hatte sie immer mit der Entdeckung Amerikas in Verbindung gebracht – jener Jauchengrube rassischer Vermischung.

Amsterdam war Alfred sympathischer als Brüssel, vielleicht wegen der Neutralität der Niederlande im Weltkrieg. Alfred nahm an einer halbtägigen Besichtigungstour für Touristen teil, sonderte sich aber von den anderen ab; mit dem Boot ging es durch die Amsterdamer Kanäle; hin und wieder wurde ein Stopp an interessanten Sehenswürdigkeiten eingelegt. Die letzte Zwischenstation war an der Jodenbreestraat. Dort besuchten sie die Große Sephardische Synagoge, die ebenso scheußlich wie gewaltig war, zweitausend Menschen Platz bot und die jüdische Bastardisierung aufs Übelste präsentierte – ein schlimmes Durcheinander von griechischen Säulen, christlichen Bogenfenstern und maurischen Holzschnitzereien. Alfred stellte sich vor, wie Spinoza vor der zentralen Plattform stand, als ignorante Rabbiner ihn verfluchten und verdammten, und wie er dann beim Hinausgehen angesichts seiner Befreiung wahrscheinlich klammheimlich jubilierte. Doch diese Vorstellung musste er schon ein paar Minuten später verwerfen, als er in seinem Reiseführer las, dass Spinoza niemals einen Fuß in diese Synagoge gesetzt hatte. Sie war 1675 erbaut worden, ungefähr zwanzig Jahre nach Spinozas Exkommunikation, die ihm, wie Alfred wusste, den Zutritt zu allen Synagogen und auch jedes Gespräch mit einem Juden verwehrt hatte.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite gab es eine große Aschkenaser Synagoge, düsterer, gedrungener und weniger prätentiös. Ungefähr eine Straße weiter hatte Spinozas Geburtshaus gestanden. Das Haus selbst war vor langer Zeit abgerissen und durch die wuchtige, katholische Moses-und-Aaron-Kirche ersetzt worden. Alfred konnte es kaum erwarten, Hitler darüber zu berichten. Sie war ein Beispiel dessen, was beide so stark vermuteten – dass das Judentum und das Christentum zwei Seiten derselben Medaille waren. Alfred lächelte, als ihm Hitlers treffender Kommentar einfiel: »Judentum, Katholizismus, Protestantismus – was macht das schon für einen Unterschied? Ist alles derselbe religiöse Schwindel.«

Am folgenden Morgen stieg er in eine Dampftram nach Rijnsburg, wo das Spinoza-Museum lag. Obwohl es nur eine zweistündige Fahrt war, kam sie ihm wegen der harten Holzbänke mit sechs Sitzplätzen viel länger vor. Die dem kleinen Dorf Rijnsburg nächstgelegene Haltestelle war noch immer drei Kilometer von seinem Ziel entfernt, das er schließlich mit einem Pferdefuhrwerk erreichte. Das Museum selbst war ein kleines Backsteingebäude mit der Hausnummer neunundzwanzig und mit zwei Schildern an der Außenwand.

HET SPINOZAHUIS

CHIRURGIJNSWONING UIT 1660; DE WIJSGEER

B. DE SPINOZA VERBLEEF HIER VAN 1660–1663.*

Auf dem zweiten Schild stand:

ACH! WAREN ALLE MENSCHEN

WIJS

EN WILDEN DAARBIJ WEL!

DE AARD WAAR HAAR EEN

PARADIJS,

NU ISSE MEEST EEN HEL.

Wie trivial, dachte Alfred bei sich. Spinoza war von Idioten umgeben. Als er um das Haus herumging, sah Alfred, dass die Hälfte des Hauses ein Museum war und die andere Hälfte von einer Familie aus dem Dorf bewohnt wurde, die einen separaten Eingang an der Seite benutzte. Ein alter Pflug in der Einfahrt ließ darauf schließen, dass es sich vermutlich um Bauern handelte. Die Tür zum Museum war so niedrig, dass Alfred beim Eintreten den Kopf einziehen musste. Dann musste er bei einem schäbig gekleideten, jüdischen Aufseher eine Eintrittskarte kaufen, den er anscheinend bei einem Nickerchen gestört hatte. Der Aufseher war wirklich ein denkwürdiger Anblick! Er hatte sich offensichtlich seit Tagen nicht rasiert, und unter seinen verschlafenen Augen hingen dicke Tränensäcke.

Alfred war der einzige Besucher, und er sah sich enttäuscht um. Das ganze Museum bestand aus zwei kleinen, drei mal dreieinhalb Meter großen Räumen mit je einem kleinen Fenster, das nach hinten hinaus zu einem kleinen Obstgarten mit Apfelbäumen ging. Das eine Zimmer war von geringem Interesse: darin gab es gewöhnliches Schleifwerkzeug aus dem siebzehnten Jahrhundert; aber das andere, dasjenige, das Alfred in helle Begeisterung versetzte, beherbergte an einer Seitenwand Spinozas persönliche Bibliothek in einem etwa zwei Meter langen Bücherschrank mit Glastüren, die dringend geputzt werden sollten. Eine dicke, rote, von vier Stützen gehaltene Quastenkordel versperrte den Zugang zum Bücherregal. Auf den Regalbrettern standen voluminöse Bände dicht an dicht, die meisten aufrecht, nur die größeren waren waagerecht übereinander gestapelt. Alle waren mit strapazierfähigen Einbänden versehen und datierten aus dem siebzehnten Jahrhundert und noch davor. Hier lag ein wahrer Schatz. Alfred versuchte, die Bände zu zählen: weit über hundert. Der Aufseher, der auf einem Stuhl in der Ecke saß, spähte über seine Zeitung und rief: »Hondered een en vijftig.«

»Ich verstehe kein Holländisch. Ich spreche nur Deutsch und Russisch«, antwortete Alfred, woraufhin der Aufseher augenblicklich auf ein ausgezeichnetes Deutsch umschaltete – »hunderteinundfünfzig« – und sich wieder seiner Lektüre zuwandte.

An der angrenzenden Wand stand eine kleine Glasvitrine mit den ersten fünf Auflagen des Theologisch-Politischen Traktats – genau des Werks, das Alfred in seiner kleinen Tasche bei sich trug. Jede Ausgabe war auf der Titelseite aufgeschlagen, und wie die Legende auf Holländisch, Französisch, Englisch und Deutsch verriet, hatten die Verleger dieses Buch für so aufwieglerisch befunden, dass weder der Verfasser noch der Verlag erwähnt wurde. Darüberhinaus stand in jeder Ausgabe eine andere Stadt als Veröffentlichungsort.

Der Aufseher winkte Alfred an den Tisch und bat ihn, sich ins Gästebuch einzutragen. Nachdem Alfred unterschrieben hatte, blätterte er das Gästebuch durch und überflog die Namen der anderen Besucher. Der Aufseher streckte den Arm aus, blätterte ein paar Seiten zurück, deutete auf die Unterschrift Albert Einsteins (datiert vom zweiten November 1920) und bemerkte mit Stolz in der Stimme: »Nobelpreis für Physik. Ein berühmter Wissenschaftler. Er war fast einen ganzen Tag lang hier und hat in dieser Bibliothek gelesen. Und er verfasste auch ein Gedicht an Spinoza. Sehen Sie, dort drüben.« Er zeigte auf ein kleines, gerahmtes Blatt Papier, das hinter ihm an der Wand hing. »Es ist seine Handschrift – er hat es für uns kopiert. Das ist die erste Strophe seines Gedichts.«

»Wie lieb ich diesen edlen Mann

Mehr, als ich mit Worten sagen kann.

Doch fürcht’ ich, dass er bleibt allein

Mit seinem strahlenden Heiligenschein.«

Alfred kam die Galle hoch. Noch trivialer. Ein jüdischer Pseudowissenschaftler, der einen Mann, der selbst alles Jüdische von sich wies, mit einem jüdischen Heiligenschein versah. »Wer betreibt dieses Museum?«, fragte Alfred. »Die holländische Regierung?«

»Nein, es ist ein privates Museum.«

»Von wem gesponsert? Wer bezahlt das?«

»Die Spinoza-Gesellschaft. Freimaurer. Private jüdische Spender. Dieser Mann hier hat das Haus und das meiste in der Bibliothek bezahlt« – der Aufseher blätterte in dem dicken Gästebuch an den Anfang zurück und zeigte auf die erste Unterschrift aus dem Jahr 1899: George Rosenthal.

»Aber Spinoza war kein Jude. Die Juden haben ihn exkommuniziert.«

»Einmal Jude, immer Jude. Warum stellen Sie eigentlich so viele Fragen?«

»Ich bin Schriftsteller und Hauptschriftleiter einer Zeitung in Deutschland.«

Der Aufseher beugte sich über das Buch und studierte die Unterschrift. »Aha, Rosenberg also? Bist an undzeriker?«

»Was ist das für eine Sprache? Ich verstehe das nicht.«

»Jiddisch. Ich fragte, ob Sie Jude sind.«

Alfred streckte sich. »Sehen Sie mich genau an. Sehe ich jüdisch aus?«

Der Aufseher musterte ihn von oben bis unten. »Nicht unbedingt«, murmelte er und schlurfte zu seinem Stuhl zurück.

Alfred stieß geflüsterte Verwünschungen aus, wandte sich wieder dem Bücherschrank zu und beugte sich, so weit er konnte, über die Absperrkordel, um die Titel von Spinozas Büchern zu entziffern. Ein wenig zu weit. Er verlor das Gleichgewicht und fiel schwer gegen den Bücherschrank. Der Aufseher, der auf seinem Stuhl in der Ecke saß, warf die Zeitung zur Seite und rannte herbei, um nachzusehen, ob die Bücher Schaden genommen hatten. Er schimpfte: »Was machen Sie denn da? Sind Sie verrückt? Die Bücher sind unbezahlbar!«

»Ich wollte nur die Titel lesen.«

»Warum wollen Sie die wissen?«

»Ich bin Philosoph. Ich möchte wissen, woher er seine Ideen genommen hat.«

»Zuerst sind Sie ein Zeitungsfritze, und jetzt sind Sie auf einmal ein Philosoph?«

»Sowohl als auch. Ich bin sowohl Philosoph als auch Hauptschriftleiter einer Zeitung. Kapiert?«

Der Aufseher starrte ihn feindselig an.

Alfred starrte zurück, starrte auf seine hängenden Lippen, die dicke, missgebildete Nase, die Haare, die aus seinen unsauberen, fleischigen Ohren sprossen. »Ist das so schwer zu verstehen?«

»Ich verstehe eine ganze Menge.«

»Verstehen Sie, dass Spinoza ein wichtiger Philosoph ist? Warum haben Sie die Bücher so weit hinten? Warum gibt es keinen Katalog der ausgestellten Bücher? Richtige Museen sollten die Exponate ausstellen und sie nicht verstecken.«

»Sie sind nicht hier, um mehr über Spinoza zu erfahren. Sie sind hier, um ihn zu vernichten. Um zu beweisen, dass er seine Ideen gestohlen hat.«

»Wenn Sie auch nur die geringste Allgemeinbildung hätten, wüssten Sie, dass jeder Philosoph von anderen Philosophen, die vor ihm lebten, beeinflusst und inspiriert wird. Kant hat Hegel beeinflusst; Schopenhauer hat Nietzsche beeinflusst; Platon hat alle beeinflusst. Es gehört zum Allgemeinwissen, dass …«

»Beeinflusst, inspiriert. Genau darum geht es, genau darum: Sie haben eben nicht ›beeinflusst‹ gesagt. Und Sie haben auch nicht ›inspiriert‹ gesagt. Sie haben genau gesagt: ›woher er seine Ideen genommen hat.‹ Das ist ein Unterschied.«

»Ach was. Soll das vielleicht ein talmudischer Disput werden? Das gefällt euch Leuten. Sie wissen verdammt gut, was ich meinte …«

»Ich weiß genau, was Sie meinten.«

»Was ist das hier eigentlich für ein Museum? Sie erlauben Einstein, einem von euch, den ganzen Tag hier herumzulungern, damit er sich die Bibliothek ansehen kann, und die anderen halten Sie auf einen Meter Abstand.«

»Ich verspreche Ihnen, Herr Philosoph-Verleger Rosenberg – sollten Sie einmal einen Nobelpreis gewinnen, können Sie jedes Buch in dieser Bibliothek gern an Ihre Brust drücken. Und jetzt schließt das Museum. Verschwinden Sie.«

Alfred hatte das Gesicht der Hölle gesehen: einen jüdischen Aufseher mit Amtsgewalt über einen Arier. Juden versperrten Nichtjuden den Zugang, Juden sperrten einen großen Philosophen ein, der Juden verachtete. Diesen Tag würde er niemals vergessen.



** Das Spinozahaus/Chirurgenwohnung von 1660; der Philosoph B. de Spinoza wohnte hier von 1660–1663.





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