Das Spinoza-Problem

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MÜNCHEN, 1919


Stellen Sie sich diese Szene vor: Ein schäbig gekleideter, arbeitsloser, jugendlicher Immigrant, der noch nichts veröffentlicht hat, den Löffel für die Suppenküche in der Brusttasche seines Hemdes, stürmt in das Büro eines bekannten Journalisten, Dichters und Politikers und platzt heraus: »Können Sie einen Streiter gegen Jerusalem gebrauchen?«

Der Beginn eines Bewerbungsgespräches, das bestimmt unter keinem guten Stern steht! Jeder verantwortungsvolle, wohlerzogene, kultivierte Chefredakteur würde den Eindringling schnell als kindisch, bizarr und vielleicht sogar gefährlich einstufen und vor die Tür setzen. Aber nein – wir schreiben das Jahr 1919, der Ort war München, und Dietrich Eckart war von den schönen Worten des Jugendlichen beeindruckt.

»Nun, junger Krieger, dann zeigen Sie mir Ihre Waffen.«

»Mein Geist ist mein Bogen, und meine Worte sind …« Er holte seinen Stift aus der Tasche, fuchtelte damit über seinem Kopf herum und rief aus: »Meine Worte sind meine Pfeile!«

»Gut gesagt, junger Krieger. Und nun erzählen Sie mir von Ihren Heldentaten, von Ihren Attacken auf Jerusalem.«

Alfred bebte vor Aufregung, als er seine Anti-Jerusalem-Attacken aufzählte: das fast auswendig gelernte Buch Houston Stewart Chamberlains, seine antisemitische Wahlrede als Siebzehnjähriger, seine Konfrontation mit dem Direktor und vermuteten Juden Epstein (allerdings verzichtete er darauf, Spinoza zu erwähnen), seine Ekelgefühle beim Anblick der jüdisch-bolschewistischen Revolution, seine neueste mitreißende antijüdische Rede auf der Bürgerversammlung in Reval, sein Vorhaben, einen Augenzeugenbericht über die revoltierenden jüdischen Bolschewisten zu schreiben, seine Geschichtsforschung über die drohende Gefahr durch jüdisches Blut.

»Ein ausgezeichneter Anfang. Aber nur ein Anfang. Nun müssen wir das Kaliber Ihrer Waffen inspizieren. Liefern Sie mir in vierundzwanzig Stunden tausend Wörter Ihres Augenzeugenberichts über die bolschewistische Revolution. Dann werden wir sehen, ob der Artikel eine Veröffentlichung verdient hat.«

Alfred machte keine Anstalten zu gehen. Er sah Dietrich Eckart an, einen imposanten Mann mit rasiertem Schädel, blauen Augen hinter einer dunkel gerahmten Brille, kurzer, fleischiger Nase und breitem, ziemlich brutalem Kinn.

»Vierundzwanzig Stunden, junger Mann. Höchste Zeit loszulegen.«

Alfred sah sich um; ganz offensichtlich widerstrebte es ihm, Eckarts Büro zu verlassen. Dann ein schüchternes: »Gibt es hier vielleicht einen Schreibtisch, eine ruhige Ecke und ein wenig Schreibpapier, das ich bekommen könnte? Ich habe nur die Bücherei, die momentan mit ungebildeten Flüchtlingen überfüllt ist, die eine warme Stube suchen.«

Dietrich Eckart gab seinem Sekretär ein Zeichen: »Führen Sie diesen Bewerber ins hintere Büro. Und geben Sie ihm Papier und einen Schlüssel.« Zu Alfred sagte er: »Es ist schlecht beheizt, aber ruhig und hat einen separaten Eingang. Sie können also notfalls die Nacht durcharbeiten. Auf Wiedersehen bis morgen früh um genau dieselbe Zeit.«

Dietrich Eckart pflanzte die Füße auf seinen Schreibtisch, klopfte seine Zigarre im Aschenbecher aus und lehnte sich zu einem kleinen Nickerchen in seinem Stuhl zurück. Obwohl erst Anfang fünfzig, zeugten schwabbelige Fleischmassen von einem nachlässigen Umgang mit seinem Körper. Als Sohn eines Rechtsanwalts und königlichen Notars in eine wohlhabende Familie hineingeboren, hatte er seine Mutter schon als Kind verloren und seinen Vater ein paar Jahre später. In seinen späten Teenagerjahren driftete er in ein Leben als Bohémien, verfiel den Drogen, und das Vermögen, das sein Vater ihm hinterlassen hatte, löste sich bald in Luft auf. Nach einer Reihe von Fehlstarts als Künstler, als Mitglied radikaler politischer Bewegungen und einem Jahr als Medizinstudent glitt er in eine schwere Morphiumsucht ab, die eine mehrmonatige Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik erforderte. Danach versuchte er sich als Dramatiker, doch keines seiner Werke schaffte es jemals auf die Bühne. Von seinen literarischen Fähigkeiten überzeugt, schob er die Schuld für sein Versagen den Juden zu, die, wie er glaubte, die deutschen Bühnen kontrollierten und sich von seinen politischen Ansichten angegriffen fühlten. Seinen Rachegelüsten entsprang schließlich eine Karriere als professioneller Antisemit: Als Journalist wiedergeboren, gründete er die Zeitschrift Auf gut Deutsch als letzte einer Reihe von Publikationen mit dem Ziel, gegen die Macht der Juden anzukämpfen. Das Jahr 1919 war glückverheißend, sein journalistischer Stil fesselnd, und bald wurde seine Zeitung Pflichtlektüre für diejenigen, die mehr über ruchlose jüdische Machenschaften erfahren wollten.

Obgleich es um Dietrichs Gesundheit schlecht bestellt war und es ihm an Energie mangelte, verspürte er eine unbändige Sehnsucht nach einem Wechsel. Gierig wartete er auf das Kommen des deutschen Heilands – auf einen Mann mit außerordentlicher Stärke und außergewöhnlichem Charisma, der Deutschland zu seiner rechtmäßigen ruhmvollen Position führen sollte. Er erkannte sofort, dass dieser junge, gutaussehende Rosenberg nicht dieser Mann war: Rosenbergs erbärmliches Trachten nach Anerkennung trat hinter seinem dreisten Auftreten allzu offensichtlich zutage. Aber vielleicht konnte er ja eine Rolle spielen, wenn es galt, für den, der da kommen sollte, den Weg zu ebnen.

Am folgenden Tag saß Alfred in Eckarts Büro, schlug die Beine ständig nervös übereinander und beobachtete den Journalisten, der die von ihm verfassten tausend Wörter las.

Eckart nahm die Brille ab und sah Alfred an: »Für einen, der ein Diplom in Architektur hat und noch nie eine solche Prosa geschrieben hat, würde ich sagen, dass diese Arbeit nicht völlig hoffnungslos ist. Es stimmt zwar, dass diese tausend Wörter nicht einen einzigen grammatikalisch richtigen Satz beinhalten, aber trotz dieser lästigen Tatsache besitzt Ihr Werk eine gewisse Kraft. Es hat Spannung, Intelligenz und Komplexität, und ich finde darin sogar ein paar, wenn auch nicht genügend anschauliche Beschreibungen. Hiermit darf ich Ihnen verkünden, dass Ihre journalistische Jungfräulichkeit ein Ende hat: Ich werde diesen Artikel veröffentlichen. Aber vor Ihnen liegt eine Menge Arbeit: Jeder einzelne Satz schreit geradezu um Hilfe. Schieben Sie Ihren Stuhl zu mir, Alfred. Wir werden Ihren Artikel Zeile für Zeile durchgehen.«

Eifrig rückte Alfred seinen Stuhl neben Eckart.

»Das hier ist Ihre erste Lektion in Journalismus«, fuhr Eckart fort. »Die Aufgabe eines Schreibers ist es zu kommunizieren. Doch ach, viele Ihrer Sätze sind sich dieses einfachen Diktums nicht bewusst und versuchen stattdessen, zu verschleiern oder zu vermitteln, dass der Autor viel mehr weiß, als er sagen will. Auf die Guillotine mit all diesen Sätzen. Sehen Sie, hier, hier und hier.« Dietrich Eckarts roter Stift tanzte mit schwindelerregender Schnelligkeit über den Text, und Alfred Rosenbergs Lehrzeit nahm ihren Anfang.

Alfreds redigiertes Werk wurde innerhalb einer Serie »Das Judentum in und außer uns« veröffentlicht, und bald schon verfasste er mehrere weitere Augenzeugenberichte über das bolschewistische Chaos, die nach und nach stilistische Verbesserungen aufwiesen. Nach ein paar Wochen stand er als Eckarts Assistent auf der Gehaltsliste, und nach wenigen Monaten war Eckart so zufrieden, dass er Alfred bat, das Vorwort zu seinem Buch Totengräber Russlands zu schreiben, das in blutrünstigen Einzelheiten schilderte, wie die Juden die zaristische Regierung in Russland unterminiert hatten.

Dies waren Alfreds glückliche Tage, und bis zu seinem Lebensende sollte er vor Freude strahlen, wenn er an die Zeit zurückdachte, als er Seite an Seite mit Eckart gearbeitet und ihn im Taxi begleitet hatte, wenn sie Eckarts feuriges Flugblatt An alle Werktätigen über ganz München verteilten. Endlich hatte Alfred ein Zuhause, einen Vater, eine Bestimmung.

Von Eckart ermuntert, schloss er seine Geschichtsforschung über die Juden ab und veröffentlichte innerhalb eines Jahres sein erstes Buch Die Spur des Juden im Wandel der Zeiten. Es barg die Saat dessen, was sich später zu den wichtigsten Motiven des nationalsozialistischen Antisemitismus entwickeln sollte: der Jude als Ursprung destruktiven Materialismusses, von Anarchie und Kommunismus, die Gefahren des jüdischen Freimaurertums, die heimtückischen Träume jüdischer Philosophen von Esra und Ezechiel bis Marx und Trotzki und vor allem anderen die Bedrohung höherer Zivilisationen durch eine Verschmutzung mit jüdischem Blut.

Unter Eckarts Führung machte Alfred sich zunehmend klar, dass der deutsche Werktätige, von jüdischen Wucherern schon in die Knie gezwungen, von christlicher Ideologie noch weiter unterjocht und geknebelt wurde. Eckart gewöhnte sich daran, sich bei geschichtlichen Zusammenhängen auf Alfred zu verlassen, nicht nur im Zusammenhang mit dem Antisemitismus, sondern auch wenn es galt, der Entwicklung des Jesuitentums aus dem Judentum des Talmud nachzuspüren, um damit auch mächtige, antichristliche Stimmungen zu schüren.

Eckart nahm seinen jungen Protégé zu radikalen politischen Kundgebungen mit und machte ihn mit einflussreichen Politikern bekannt. Bald stellte er sich für Alfred als Bürgen für eine Mitgliedschaft bei der Thule-Gesellschaft zur Verfügung und begleitete ihn zu dessen erster Versammlung dieses illustren Geheimbundes.

Nachdem Eckart Alfred mit mehreren Mitgliedern bekannt gemacht hatte, ließ er ihn allein, um sich mit mehreren Kollegen zu vertraulichen Gesprächen zurückzuziehen. Alfred schaute sich um. Dies war eine neue Welt – kein Bierkeller, sondern ein nobler Versammlungsraum im prächtigen Münchner Hotel Vier Jahreszeiten. Nie zuvor war er in einem solchen Saal gewesen. Er prüfte die flauschige Dicke des roten Teppichs unter seinen abgewetzten Schuhen und hob den Blick zur reich verzierten Decke, auf der sich Schäfchenwolken und pausbäckige Engel tummelten. Weit und breit war kein Bier in Sicht, also ging er zum Tisch in der Saalmitte und schenkte sich ein Glas süßen, deutschen Wein ein. Als er die anderen Mitglieder beobachtete, es waren vielleicht einhundertfünfzig, allesamt augenscheinlich wohlhabende, gutgekleidete, übergewichtige Männer, schämte er sich plötzlich seiner eigenen Kleidung, die er Stück für Stück in einem Gebrauchtkleiderladen erstanden hatte.

Wohl wissend, dass er offensichtlich der ärmste und schäbigste Mann im Saal war, bemühte er sich redlich, sich möglichst unauffällig unter seine Thule-Mitbrüder zu mischen. Er versuchte sogar, sich von ihnen abzuheben, indem er sich bei jeder passenden Gelegenheit als philosophischen Schriftsteller bezeichnete. Wenn er allein herumstand, übte er eifrig einen neuen Gesichtsausdruck: Er kräuselte leicht die Lippen, nickte kaum wahrnehmbar und schloss die Augen, womit er vermitteln wollte: »Ja, ich weiß genau, was Sie meinen – ich bin nicht nur im Bilde, sondern weiß sogar noch mehr, als Sie glauben.« Am späteren Abend prüfte er diesen Gesichtsausdruck im Spiegel der Herrentoilette und war zufrieden. Diese Miene sollte bald zu seinem Markenzeichen werden.

»Hallo! Sie sind Dietrich Eckarts Gast?«, fragte ein Mann mit durchdringendem Blick, langem Gesicht, Schnurrbart und dunkel gerahmter Brille. »Ich bin Anton Drexler. Ich bin Mitglied des Begrüßungskomitees.«

»Ja, Rosenberg, Alfred Rosenberg. Ich bin Schriftsteller und Philosoph bei Auf gut Deutsch, und ja, ich bin Dietrich Eckarts Gast.«

»Er hat mir schon viel Gutes über Sie erzählt. Sie sind ja heute zum ersten Mal da und haben bestimmt Fragen. Was darf ich Ihnen über unsere Organisation erzählen?«

»Alles Mögliche. Vor allem interessiert mich der Name ›Thule‹.«

»Um das zu beantworten, sollte ich vielleicht damit beginnen, dass unser ursprünglicher Name Studiengruppe für germanisches Altertum war. Thule, so glauben viele, war eine Landmasse, die es nicht mehr gibt – vermutlich in der Nähe von Island oder Grönland –, und die ursprüngliche Heimat der arischen Rasse.«

»Thule … ich kenne meine arische Vergangenheit sehr gut von Houston Stewart Chamberlain, aber ich erinnere mich nicht, dass irgendwo von Thule die Rede war.«

»Ach, Chamberlain ist Historiker und dazu noch einer unserer besten, aber hier geht es um Vor-Chamberlain und um Prähistorie. Um das Reich der Mythen. Unsere Organisation möchte unseren edlen Vorfahren, die wir nur durch mündliche Überlieferung kennen, ihre Reverenz erweisen.«

»Dann kommen alle diese eindrucksvollen Männer heute also zusammen, weil sie an Mythen und an Prähistorie interessiert sind? Nicht, dass ich das in Frage stelle – ich finde es im Gegenteil bewundernswert, eine solche Ruhe und akademische Hingabe zu sehen, und das in einer so unsteten Zeit, in der Deutschland jederzeit auseinanderbrechen kann.«

»Die Versammlung hat ja noch gar nicht begonnen, Herr Rosenberg. Sie werden noch früh genug erfahren, weshalb die Thule-Gesellschaft Ihre Artikel in Auf gut Deutsch so sehr schätzt. Ja, wir sind an der Frühgeschichte sehr interessiert. Aber noch mehr an unserer Nachkriegsgeschichte, einer Geschichte, die gerade jetzt geschrieben wird und über die unsere Kinder und Enkel eines Tages lesen werden.«

Alfred war von den Reden begeistert. Ein Vortragender nach dem anderen warnte vor der ernsten Gefahr, die Deutschland von den Bolschewisten und Juden drohte. Jeder Redner betonte die dringende Notwendigkeit zu handeln. Gegen Ende des Abends legte Eckart, leicht berauscht von einem unablässigen Strom deutschen Weines, Alfred den Arm auf die Schulter und rief: »Eine aufregende Zeit, was, Rosenberg? Und es wird noch aufregender. Nachrichten zu schreiben, Gesinnungen zu verändern, öffentliche Meinungen zu steuern – alles edle Bestrebungen. Wer wollte das leugnen? Aber die Nachrichten selbst zu machen, genau, die Nachrichten zu machen – darin liegt der wahre Ruhm! Und du wirst mit dabei sein, Alfred. Du wirst schon sehen, du wirst schon sehen. Vertrau mir, ich weiß, was kommt.«

Etwas Schicksalhaftes lag in der Luft. Alfred spürte es deutlich, und weil er zu aufgeregt war, um schlafen zu können, lief er noch eine Stunde lang auf Münchens Straßen herum, nachdem er sich von Eckart getrennt hatte. Der Rat seines Freundes Friedrich Pfister fiel ihm ein: Spannung abbauen! Er atmete tief und schnell durch die Nase ein, hielt die Luft ein paar Sekunden lang an und atmete dann langsam durch den Mund aus. Schon nach ein paar Atemzügen ging es ihm besser, und er war überrascht von der Wirksamkeit eines so einfachen Vorgangs. Es gab keinen Zweifel – Friedrich hatte etwas von einem Zauberer. Die Wendung ihres Gespräches zu einer möglicherweise jüdischen Linie in der Familie seiner Großmutter hatte ihm missfallen, und dennoch verband er positive Gefühle mit Friedrich. Er wollte, dass ihre Wege sich wieder kreuzten. Er würde dafür sorgen.

Als er nach Hause zurückkehrte, fand er einen Zettel auf dem Fußboden, den jemand durch den Briefschlitz seiner Tür gesteckt hatte. Darauf stand: »Die Hofbibliothek von München wird den Theologisch-politischen Traktat von Spinoza eine Woche lang am Ausgabeschalter bereithalten.« Alfred las den Text mehrere Male. Wie seltsam trostreich war dieser kleine, morsche Bibliothekszettel, der seinen Weg durch die unruhigen, gefährlichen Straßen von München in seine winzige Wohnung gefunden hatte.





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