Das Spinoza-Problem

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AMSTERDAM, 1656


Gegen zehn Uhr am folgenden Morgen waren die Brüder Spinoza in ihrem Laden mitten bei der Arbeit: Bento fegte den Fußboden, und Gabriel öffnete eine frisch eingetroffene Kiste mit getrockneten Feigen. Sie wurden unterbrochen, als Franco und Jacob an der Tür auftauchten und zögernd stehenblieben, bis Franco sagte: »Wenn Ihr Angebot noch besteht, würden wir unsere Diskussion gern fortsetzen. Wir stehen jederzeit zur Verfügung, wann es Ihnen passt.«

»Ich freue mich darauf, das Gespräch fortzusetzen«, sagte Bento. Und an Jacob gewandt fragte er: »Sie wünschen das auch, Jacob?«

»Ich wünsche mir nur das, was für Franco das Beste ist.«

Bento dachte einen Augenblick über diese Antwort nach und gab dann zurück: »Warten Sie einen Moment bitte.« Nachdem er sich mit seinem Bruder im hinteren Teil des Ladens kurz besprochen hatte, verkündete Bento: »Nun stehe ich Ihnen zur Verfügung. Sollen wir zu meinem Haus gehen und unser Studium der Heiligen Schrift fortsetzen?«

Die wuchtige Bibel lag auf dem Tisch, und die Stühle standen so ausgerichtet, als habe Bento seine Besucher schon erwartet. »Wo sollen wir anfangen? Wir haben das letzte Mal viele Fragen aufgeworfen.«

»Sie wollten uns erzählen, dass Moses die Thora nicht geschrieben hat«, sagte Jacob, der sich weicher, konzilianter anhörte als am Tag zuvor.

»Ich habe dieses Thema über viele Jahre studiert. Wenn man die Bücher Mose sorgfältig und unvoreingenommen liest, sind darin, wie ich meine, eine Menge Hinweise darauf eingebaut, dass Moses unmöglich der Autor gewesen sein kann.«

»Hinweise eingebaut? Das müssen Sie mir erklären«, bat Franco.

»In der Geschichte von Moses gibt es Ungereimtheiten. Manche Teile der Thora widersprechen anderen Teilen, und viele Passagen halten sich nicht einmal an die einfachste Logik. Ich werde Ihnen Beispiele geben und mit einem offensichtlichen beginnen, das vor mir schon anderen Leuten aufgefallen ist. Die Thora beschreibt nicht nur, wie Moses starb und begraben wurde und die dreißigtägige Trauer der Hebräer, sondern vergleicht ihn zudem mit allen Propheten, die nach ihm kamen, und führt aus, dass er sie alle übertraf.

Es liegt auf der Hand, dass ein Mensch nicht darüber schreiben kann, was nach seinem Tod mit ihm geschieht, noch kann er sich mit anderen Propheten vergleichen, die noch nicht geboren sind. Deshalb ist es sicher, dass ein Teil der Thora nicht von ihm geschrieben worden sein kann. Ist das nicht so?«

Franco nickte. Jacob zuckte die Achseln.

»Oder sehen Sie hier!« Bento schlug die Bibel auf einer Seite auf, die mit einem Faden gekennzeichnet war, und zeigte auf einen Abschnitt aus dem Ersten Buch Mose 22. »Hier sehen Sie, dass der Berg Moriah der Berg Gottes genannt wird. Und Historiker berichten uns, dass er diesen Namen erst nach dem Bau des Tempels bekam, viele Jahrhunderte nach Moses’ Tod. Sehen Sie sich diesen Abschnitt an, Jacob: Moses sagt ganz klar, dass Gott irgendwann in der Zukunft einen Ort auswählen wird, der diesen Namen erhalten soll. Weiter vorn wird es so beschrieben und weiter hinten anders. Sehen Sie die eingebauten Widersprüche, Franco?«

Sowohl Franco als auch Jacob nickten.

»Darf ich Ihnen ein anderes Beispiel zeigen?«, fragte Bento, noch immer beunruhigt von Jacobs Wutausbrüchen bei ihrem letzten Treffen. Er sammelte sich: Er wusste, was er tun musste – eine wohldosierte Auswahl treffen und unwiderlegbare Beweise präsentieren. »Es ist unstreitig, dass die Hebräer zur Zeit Moses’ wussten, welche Gebiete dem Stamme Judah gehörten; sie kannten diese aber ganz bestimmt nicht unter dem Namen Argob oder Land der Riesen, wie es in der Bibel zitiert wird. Mit anderen Worten: In der Thora werden Namen verwendet, die erst viele Jahrhunderte nach Moses entstanden sind.«

Bento sah, dass beide nickten, und fuhr fort: »Mit der Schöpfungsgeschichte verhält es sich ähnlich: Sehen wir uns diesen Abschnitt an.« Bento blätterte zu einer weiteren, mit einem roten Faden markierten Seite und las Jacob den hebräischen Abschnitt vor: »›Denn es wohneten zu der Zeit die Kanaaniter im Lande.‹ Nun, dieser Abschnitt kann nicht von Moses geschrieben worden sein, weil die Kanaaniter erst nach dem Tod von Moses vertrieben wurden. Das muss jemand anderer geschrieben haben, der auf jene Zeit zurückblickte, jemand, der wusste, dass die Kanaaniter vertrieben worden waren.«

Als sein Publikum nickte, fuhr Bento fort: »Hier liegt ein weiteres offensichtliches Problem: Moses sollte eigentlich der Verfasser sein, doch der Text spricht von Moses nicht nur in der dritten Person, sondern legt auch Zeugnis von vielen Begebenheiten ab, die ihn betreffen, so zum Beispiel: ›Mose aber sprach zum Herrn‹; ›Aber Mose war ein sehr geplagter Mensch über alle Menschen auf Erden‹, und aus jenem Abschnitt, den ich gestern zitiert hatte: ›Der HERR aber redete mit Mose von Angesicht zu Angesicht.‹

Das meine ich mit eingebauten Ungereimtheiten. Die Thora ist so voll davon, dass wir so sicher sein können, wie die Sonne jeden Tag aufgeht, dass die Bücher Mose nicht von Moses geschrieben sein können. Und es ist irrational, weiterhin zu behaupten, Moses selbst sei der Autor gewesen. Können Sie meinem Argument folgen?«

Abermals nickten Franco und Jacob.

»Dasselbe kann vom Buch der Richter gesagt werden. Niemand kann ernsthaft glauben, dass jeder Richter die Erzählung, die seinen Namen trägt, selbst geschrieben hat. So wie die verschiedenen Erzählungen miteinander verknüpft sind, kann man davon ausgehen, dass alle denselben Urheber haben.«

»Wenn das so ist, wer hat das Buch dann geschrieben und wann?«, fragte Jacob.

»Die Datierung wird durch Angaben wie folgende erleichtert …« Er blätterte zu einer Seite im Buch der Richter und ließ Jacob vorlesen: »›Zu der Zeit war kein König in Israel.‹ Fällt Ihnen die Formulierung auf, Jacob? Das bedeutet, dass dieser Abschnitt geschrieben worden sein muss, nachdem ein Königreich errichtet worden war. Ich vermute stark, dass Ibn Ezra ein wichtiger Verfasser/Sammler des Buches der Könige war.«

»Wer ist er?«, fragte Jacob.

»Ein priesterlicher Schreiber, der im fünften Jahrhundert vor Christus lebte. Er war derjenige, der fünftausend im Exil lebende Hebräer aus Babylon in ihre Heimatstadt Jerusalem zurückführte.«

»Und wann wurde die gesamte Bibel zusammengestellt?«, fragte Franco.

»Ich glaube, wir können sicher sein, dass es vor der Zeit der Makkabäer – also um 200 v. Chr. – keine offizielle Sammlung heiliger Bücher mit dem Namen Bibel gegeben hat. Anscheinend wurde sie von den Pharisäern zur Zeit der Restaurierung des Tempels aus einer Vielzahl von Dokumenten zusammengestellt. Bedenken Sie deshalb bitte, dass das, was heilig ist, und das, was nicht heilig ist, nur eine Sammlung von Ansichten einiger sehr menschlicher Rabbiner und Schreiber ist, von denen einige ernsthafte, gesegnete Männer waren, während andere vielleicht um ihren eigenen persönlichen Status rangen, kämpferische Emporkömmlinge in ihrer eigenen Kongregation, die der Hunger plagte, die ans Essen dachten und die sich um ihre Frauen und Kinder sorgten. Die Bibel wurde von Menschenhand zusammengesetzt. Es gibt keine andere mögliche Erklärung für die vielen Ungereimtheiten. Kein vernunftbegabter Mensch kann sich vorstellen, dass ein göttlicher, allwissender Verfasser in der Absicht schrieb, sich selbst nach Belieben zu widersprechen.«

Jacob, der zutiefst irritiert wirkte, versuchte zu parieren: »Nicht unbedingt. Gibt es nicht gelehrte Kabbalisten, die behaupten, dass die Thora absichtlich Fehler beinhaltet, welche viele versteckte Geheimnisse bergen, und dass Gott jedes Wort, ja sogar jeden Buchstaben der Bibel vor Verfälschung bewahrte?«

Bento nickte: »Ich habe die Kabbalisten studiert und glaube, dass sie gerne festschreiben möchten, dass sie allein im Besitz der Geheimnisse Gottes sind. Ich finde in ihren Schriften nichts, was ein göttliches Geheimnis ausstrahlt, sondern nur kindische Kopfgeburten. Ich möchte, dass wir die Worte in der Thora selbst untersuchen, nicht die Interpretation von Müßiggängern.«

Nach kurzem Schweigen fragte er: »Habe ich Ihnen nun meine Gedanken zur Urheberschaft der Bibel klar darzustellen vermocht?«

»Das haben Sie«, sagte Jacob. »Vielleicht sollten wir uns nun aber anderen Themen zuwenden. Zum Beispiel bitte ich Sie, Francos Frage zu Wundern anzusprechen. Er fragte, warum die Bibel voll davon ist, aber seit jener Zeit keine Wunder mehr geschehen. Erzählen Sie uns von Ihren Gedanken zu Wundern.«

»Wunder entstehen nur durch Unwissenheit der Menschen. In alten Zeiten wurde jeder Vorfall, der nicht mit natürlichen Ursachen erklärt werden konnte, als Wunder betrachtet, und je größer die Unwissenheit der Massen über die Vorgänge in der Natur, desto mehr Wunder gab es.«

»Aber es gibt große Wunder, die eine Vielzahl von Menschen gesehen haben: das Rote Meer, das sich für Moses teilte, die Sonne, die für Josua in ihrem Lauf anhielt.«

»›Gesehen von einer Vielzahl von Menschen‹ ist nur eine Redensart, ein Versuch, die Wahrhaftigkeit unfassbarer Ereignisse zu untermauern. Im Fall von Wundern bin ich folgender Ansicht: Je mehr Menschen behaupten, das Ereignis beobachtet zu haben, desto weniger glaubhaft ist es.«

»Wie erklären Sie dann diese ungewöhnlichen Ereignisse, die genau im richtigen Moment auftraten, wenn nämlich das jüdische Volk in Gefahr war?«

»Lassen Sie mich zunächst an die Millionen von genau richtigen Momenten erinnern, bei denen keine Wunder geschehen, wenn die frömmsten und rechtschaffensten Menschen sich in großer Gefahr befinden, wenn sie um Hilfe rufen und als Antwort nur Schweigen erfahren. Darüber haben Sie bei unserem ersten Treffen gesprochen, Franco, als Sie fragten, wo denn die Wunder waren, als Ihr Vater auf dem Scheiterhaufen verbrannte. Richtig?«

»Ja«, bestätigte Franco leise und warf Jacob einen Blick zu. »Das habe ich gesagt, und ich sage es abermals: Wo waren die Wunder, als die portugiesischen Juden in Gefahr waren? Warum blieb Gott stumm?«

»Solche Fragen sollten gestellt werden«, ermunterte ihn Bento. »Darf ich Ihnen ein paar weitere Gedanken über Wunder vortragen? Wir müssen uns gewahr sein, dass es immer begleitende, natürliche Umstände gibt, die bei der Berichterstattung über Wunder verschwiegen werden. So heißt es beispielsweise im Zweiten Buch Mose: ›Da reckte Mose seine Hand aus über das Meer; und das Meer kam wieder vor Morgens in seinen Strom …‹, aber später im Lied von Moses lesen wir zusätzlich etwas: ›Da ließest du deinen Wind blasen, und das Meer bedeckte sie …‹ Anders gesagt: Manche Beschreibungen übergehen die natürlichen Ursachen, die Winde. Daher erkennen wir, dass die Schriften diese Phänomene in der Reihenfolge schildern, in der sie ihrer Meinung nach die größte Macht haben, Menschen, insbesondere ungebildete Menschen, zu beeindrucken.«

»Und die Sonne blieb mitten am Himmel stehen, damit Josua seinen großen Sieg erringen konnte? War das auch nur erfunden?«, fragte Jacob, sichtlich bemüht, ruhig zu bleiben.

»Dieses Wunder steht auf überaus wackeligen Beinen. Zunächst will ich Sie daran erinnern, dass in der Antike alle glaubten, dass die Sonne sich bewegt und die Erde still steht. Mittlerweile wissen wir, dass es die Erde ist, die sich um die Sonne dreht. Allein dieser Irrtum ist ein Beweis dafür, dass es der Mensch ist, der hinter den Worten der Bibel steht. Und darüber hinaus beruht diese bestimmte Art des Wunders auf politischer Motivation. Beteten Josuas Feinde nicht den Sonnengott an? Demzufolge ist das Wunder eine Botschaft, die hinausposaunte, dass der Gott der Hebräer mächtiger sei als der Gott der Heiden.«

»Das haben Sie wunderbar erklärt«, freute sich Franco.

»Glaube nicht alles, was du von ihm hörst, Franco«, mahnte Jacob. »Nun, Bento«, fragte er, »ist das die ganze Erklärung des Wunders bei Josua?«

»Es ist nur ein Teil davon. Der Rest der Erklärung liegt in der heutigen Ausdrucksweise. Viele sogenannte Wunder sind nur Ausdrucksweisen. Es ist die Art, wie die Menschen in jener Zeit sprachen und schrieben. Was der Schreiber von Josua vermutlich meinte, als er sagte, die Sonne habe stillgestanden, war einfach nur, dass der Tag der Schlacht besonders lang erschien. Wenn die Bibel anmerkt, dass Gott das Herz des Pharaos verhärtet hat, heißt das nur, dass der Pharao starrköpfig war. Wenn sie sagt, dass Gott für die Hebräer die Felsen spaltete und Wasser heraussprudeln ließ, heißt das nur, dass die Hebräer Quellen fanden und ihren Durst löschten. In der Heiligen Schrift wurde fast alles Ungewöhnliche einem Willensakt Gottes zugeschrieben. Selbst Bäume von ungewöhnlicher Größe werden Gottes Bäume genannt.«

»Und«, fragte Jacob, »Was ist mit dem Wunder, dass nämlich die Juden im Gegensatz zu anderen Völkern überlebt haben?«

»Darin sehe ich nichts Übernatürliches, nichts, was nicht mit natürlichen Ursachen erklärt werden könnte. Die Juden haben seit der Diaspora überlebt, weil sie sich immer weigerten, sich mit anderen Kulturen zu vermischen. Sie blieben aufgrund ihrer komplexen Riten, ihrer Speisevorschriften und des Zeichens der Beschneidung, welche sie peinlich genau einhielten, immer unter sich. Deshalb haben sie überlebt; aber das hatte seinen Preis: Mit ihrem beharrlichen Festhalten daran, sich abzusondern, zogen sie weltweit Hass auf sich.«

Bento hielt inne, und als er die entsetzten Gesichter Francos und Jacobs bemerkte, sagte er: »Verschaffe ich Ihnen etwa Magenschmerzen, weil ich Ihnen heute zu viel Schwerverdauliches zu schlucken gebe?«

»Machen Sie sich um mich keine Sorgen, Bento Spinoza«, meldete sich Jacob. »Sie wissen bestimmt, dass Zuhören nicht das Gleiche wie Schlucken ist.«

»Vielleicht irre ich mich, aber ich glaube, Sie haben bei meinen Worten wenigstens dreimal genickt. Habe ich Recht?«

»Das Meiste, was ich höre, ist Arroganz. Sie glauben mehr zu wissen als zahllose Generationen von Rabbinern, mehr als Rashi, Gersonides, mehr als Maimonides.«

»Und trotzdem haben Sie genickt.«

»Wenn Sie Beweise vorbringen, wenn Sie zwei Aussagen aus dem Ersten Buch Mose zitieren, die einander widersprechen, kann ich das nicht bestreiten. Und selbst da bin ich mir sicher, dass es dafür Erklärungen gibt, die Ihr Wissen übersteigen. Ich bin sicher, dass Sie es sind, der irrt, und nicht die Thora.«

»Liegt in Ihren Worten kein Widerspruch? Einerseits respektieren Sie Beweise, gleichzeitig aber beharren Sie auf etwas, wofür es keinen Beweis gibt.« Bento wandte sich an Franco. »Und Sie? Sie waren ungewöhnlich still. Magenschmerzen?«

»Nein, keine Magenschmerzen, Baruch – stört es Sie, wenn ich Sie mit Ihrem hebräischen statt mit Ihrem portugiesischen Namen anspreche? Es ist mir lieber. Ich weiß nicht, weshalb. Vielleicht kommt es daher, weil Sie ganz anders sind als alle Portugiesen, die ich bisher kennengelernt habe. Keine Magenschmerzen – Sie bereiten mir eher das Gegenteil. Was könnte das sein? Besänftigung, denke ich. Besänftigung meines Magens. Auch Besänftigung meiner Seele.«

»Ich weiß noch, wie furchtsam Sie bei unserem ersten Gespräch waren. Sie riskierten so viel, als Sie uns von Ihrer Reaktion auf die Rituale in der Synagoge und in der Kathedrale erzählten. Sie bezeichneten diese Rituale allesamt als Wahnsinn. Erinnern Sie sich?«

»Wie könnte ich das vergessen? Aber zu wissen, nicht allein zu sein, zu wissen, dass andere – und ganz besonders Sie – meine Ansicht teilen: Das ist ein Geschenk, das meine geistige Gesundheit rettet.«

»Franco, Ihre Antwort gibt mir die Kraft, einen Schritt weiterzugehen und Ihnen mehr über Rituale zu erzählen. Ich kam zu dem Schluss, dass die Rituale in unserer Gemeinde nichts mit göttlichem Recht zu tun haben, nichts mit Glückseligkeit, Tugend und Liebe, aber alles mit öffentlichem Frieden und Aufrechterhaltung der rabbinischen Autorität …«

»Noch einmal«, unterbrach Jacob, und seine Stimme schwoll an: »Sie gehen zu weit. Hat Ihre Arroganz denn keine Grenzen? Jedes Schulkind weiß, dass die Heilige Schrift lehrt, dass die Einhaltung der Rituale das Gesetz Gottes ist.«

»Hier sind wir unterschiedlicher Ansicht. Noch einmal, Jacob: Ich bitte Sie nicht, mir zu glauben. Ich appelliere an Ihre Vernunft und bitte Sie nur, die Worte des Heiligen Buches mit eigenen Augen zu lesen. Es gibt viele Stellen in der Thora, die uns sagen, dass wir unserem Herzen folgen und Rituale nicht allzu ernst nehmen sollen. Betrachten wir Jesaja und Jeremia, die klar und deutlich lehren, dass das göttliche Gesetz eine wahrhafte Lebensweise kennzeichnet und nicht ein Leben der Einhaltung zeremonieller Bräuche. Jeremia bedeutet uns klar, einen Bogen um Opfer und Feste zu machen, und er fasst die Gesamtheit des göttlichen Gesetzes mit folgenden schlichten Worten zusammen …« Bento schlug die Bibel bei einem Lesezeichen im Buch Jesaia auf und las: »›Lasset ab vom Bösen! Lernet Gutes tun, trachtet nach Recht, helfet dem Unterdrückten …‹«

»Sie sagen also, dass rabbinisches Gesetz nicht das Gesetz der Thora ist?«, fragte Franco.

»Was ich sage, ist, dass die Thora zwei Arten von Gesetzen kennt: Es gibt das moralische Gesetz, und es gibt Gesetze, die dazu bestimmt sind, Israel als Gottesstaat getrennt von seinen Nachbarn zusammenzuhalten. Leider haben die Pharisäer in ihrer Unwissenheit den Unterschied nicht verstanden und glaubten, dass die Einhaltung der Staatsgesetze auch die Summe der moralischen Gesetze beträfe, während solche Gesetze nur für das Wohlergehen der Gemeinde vorgesehen waren. Sie waren nicht dazu gedacht, die Juden anzuleiten, sondern sie vielmehr unter Kontrolle zu halten. Es gibt einen fundamentalen Unterschied zwischen diesen beiden Gesetzen: die Einhaltung zeremonieller Gesetze führt nur zu öffentlichem Frieden, wohingegen die Einhaltung göttlicher oder moralischer Gesetze zu Glückseligkeit führt.«

»Nun«, warf Jacob ein, »höre ich richtig? Raten Sie Franco, die zeremoniellen Gesetze nicht zu beachten? Nicht die Synagoge zu besuchen, nicht zu beten, die jüdischen Speisevorschriften nicht zu beachten?«

»Sie missverstehen mich«, sagte Bento und zog sein kürzlich erworbenes Wissen über die Ansichten Epikurs zu Hilfe: »Ich negiere nicht die Bedeutung des öffentlichen Friedens, doch ich unterscheide sie sehr wohl von wahrer Glückseligkeit.« Bento wandte sich an Franco: »Wenn Sie Ihre Gemeinde lieben, wenn Sie ein Teil von ihr sein wollen, wenn Sie Ihre Familie hier gründen wollen, wenn Sie unter Ihresgleichen leben wollen, dann sollten Sie sich leichten Herzens an Veranstaltungen der Gemeinde beteiligen, und das schließt auch die Befolgung religiöser Pflichten ein.«

Und wieder an Jacob gewandt: »Soll ich mich noch klarer ausdrücken?«

»Ich höre, dass Sie sagen, dass wir rituelle Gesetze nur befolgen sollen, um den Schein zu wahren, dass das aber in Wirklichkeit nicht viel zählt, denn das Einzige, worauf es ankommt, ist dieses andere göttliche Gesetz, das Sie noch immer nicht definiert haben«, sagte Jacob.

»Unter göttlichem Gesetz verstehe ich das höchste Gut, die wahre Kenntnis von Gott und Liebe.«

»Das ist eine vage Antwort. Was ist wahre Kenntnis?«

»Wahre Kenntnis bedeutet die Perfektionierung unseres Intellekts, welche es uns erlaubt, Gott umfassender kennen zu lernen. Jüdische Gemeinden sehen Strafen für das Nichtbefolgen ritueller Vorschriften vor: öffentlicher Tadel durch die Gemeinde und den Rabbiner oder in extremen Fällen Vertreibung oder Cherem. Gibt es eine Strafe für das Nichtbefolgen göttlicher Gesetze? Ja, aber es ist nicht eine bestimmte Strafe: Es ist die Abwesenheit des Guten. Ich schätze die Worte Salomons, der sagt: ›Wo die Weisheit dir zu Herzen gehet, daß du gerne lernest … Dann wirst du verstehen Gerechtigkeit und Recht und Frömmigkeit und allen guten Weg.‹«

Jacob schüttelte den Kopf. »Diese wohlklingenden Worte können die Tatsache nicht verbergen, dass Sie grundlegendes jüdisches Gesetz anzweifeln. Maimonides höchstpersönlich lehrt, dass Gott diejenigen im Jenseits mit Seligkeit und Glück belohnen wird, die den Geboten der Thora folgen. Mit meinen eigenen Ohren hörte ich Rabbi Mortera höchstpersönlich nachdrücklich verkünden, dass jeder, der die Göttlichkeit der Thora leugnet, vom unsterblichen Leben mit Gott ausgeschlossen wird.«

»Und ich sage, dass diese Worte – ›das Jenseits‹ und ›unsterbliches Leben mit Gott‹ – Worte von Menschen und nicht göttliche Worte sind. Darüber hinaus sind diese Worte nicht in der Thora zu finden, es sind die Begriffe von Rabbinern, die Kommentare zu Kommentaren schreiben.«

»Nun«, hakte Jacob nach, »höre ich recht, dass Sie die Existenz des Jenseits leugnen?«

»Das Jenseits, unsterbliches Leben, glückseliges Leben nach dem Tod – ich wiederhole: Alle diese Begriffe sind die Erfindungen von Rabbinern.«

»Sie leugnen also«, beharrte Jacob, »dass die Rechtschaffenen immerwährende Freude und die Gemeinschaft mit Gott finden werden und dass das Böse geschmäht und ewiger Verdammnis anheimfallen wird?«

»Es widerspricht der Vernunft zu glauben, dass wir, so wie wir heute sind, nach dem Tode weiterbestehen. Der Körper und der Geist sind zwei Aspekte derselben Person. Der Geist kann nicht weiterbestehen, nachdem der Körper gestorben ist.«

»Aber«, Jacob sprach nun laut, er war sichtlich erregt, »wir wissen, dass der Körper auferstehen wird. Alle unsere Rabbiner lehren uns das. Maimonides hat es klar ausgeführt. Es ist eines der dreizehn Prinzipien jüdischen Glaubens. Es ist die Grundlage unseres Glaubens.«

»Ich muss ein schlechter Lehrer sein, Jacob. Ich dachte, ich hätte die Unmöglichkeit solcher Dinge erschöpfend erklärt, doch nun schweifen Sie abermals ins Land der Wunder ab. Ich darf Ihnen nochmals in Erinnerung rufen, dass all dies menschliche Ansichten sind; sie haben nichts mit den Gesetzen der Natur zu tun, und nichts kann im Gegensatz zu den feststehenden Gesetzen der Natur vorkommen. Die Natur, welche unendlich und ewig ist und alle Substanzen im Universum einschließt, wirkt im Einklang mit genau geregelten Gesetzen, welche nicht von übernatürlichen Mitteln abgelöst werden können. Ein verwester Körper, zu Staub zerfallen, kann nicht wieder zusammengesetzt werden. Das Erste Buch Mose nimmt dazu klar Stellung: ›Im Schweiß deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis daß du wieder zu Erde werdest, davon du genommen bist. Denn du bist Erde und sollst zu Erde werden.‹«

»Heißt das, dass ich mit meinem Vater, der den Märtyrertod starb, nie mehr vereint sein werde?«, fragte Franco.

»Genau wie Sie sehne ich mich auch danach, meinen seligen Vater wiederzusehen. Aber die Gesetze der Natur sind, wie sie sind. Franco, ich teile Ihre Sehnsucht, und als ich ein Kind war, glaubte ich auch, dass es einmal das Jüngste Gericht geben würde und dass wir eines Tages nach unserem Tod wieder vereint sein werden – ich mit meinem Vater und meiner Mutter, obwohl ich damals, als sie starb, noch so klein war, dass ich mich kaum noch an sie erinnern kann. Und natürlich würden sie mit ihren Eltern und diese wiederum mit deren Eltern vereint werden, ad infinitum.«

»Doch nun«, fuhr Bento mit weicher, eindringlicher Stimme fort, »habe ich diese kindlichen Hoffnungen aufgegeben und sie durch das sichere Wissen ersetzt, dass ich meinen Vater in mir behalte – sein Gesicht, seine Liebe, seine Weisheit –, und auf diese Weise bin ich schon jetzt mit ihm vereint. Eine selige Wiedervereinigung muss in diesem Leben stattfinden, denn dieses Leben ist das Einzige, was wir haben. Es gibt keine ewige Seligkeit im Jenseits, weil es kein Jenseits gibt. Unsere Aufgabe, und ich glaube, dass uns die Thora das lehrt, ist es, Seligkeit in diesem Leben jetzt dadurch zu erlangen, dass wir ein Leben in Liebe leben und Gott kennen lernen. Wahre Frömmigkeit besteht aus Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und der Liebe zu seinem Nächsten.«

Jacob stand auf und stieß seinen Stuhl grob zur Seite. »Genug! Für heute habe ich genug Ketzerei gehört. Genug für ein ganzes Leben. Wir gehen. Komm, Franco.«

Als Jacob Francos Hand packte, sagte Bento: »Nein, noch nicht, Jacob. Es gibt noch eine wichtige Frage, die Sie zu meiner Überraschung noch nicht gestellt haben.«

Jacob ließ Francos Arm los und sah Bento argwöhnisch an: »Welche Frage?«

»Ich sagte zu Ihnen, dass die Natur ewig ist und unendlich, dass sie alle Substanzen einschließt und dass alles, was entsteht, ihren Gesetzen folgt.«

»Ja?« Jacobs Gesicht war gefurcht und fragend: »Welche Frage?«

»Und sagte ich nicht zu Ihnen, dass Gott ewig und unendlich ist und jede Substanz einschließt?«

Jacob nickte. Er war vollkommen verwirrt.

»Sie sagen, sie hätten zugehört, Sie sagen, Sie hätten genug gehört, und doch haben Sie mir die wesentlichste Frage nicht gestellt.«

»Welche Frage?«

»Wenn Gott und die Natur identische Eigenschaften besitzen, was ist dann der Unterschied zwischen Gott und der Natur?«

»Also gut«, sagte Jacob. »Ich frage Sie: Was ist der Unterschied zwischen Gott und der Natur?«

»Und ich gebe Ihnen die Antwort, die Sie bereits kennen – es gibt keinen Unterschied. Gott ist die Natur. Die Natur ist Gott.«

Jacob und Franco starrten beide Bento an, dann riss Jacob Franco wortlos vom Stuhl und zerrte ihn auf die Straße hinaus.

Als sie außer Sicht waren, legte Jacob den Arm um Franco und drückte ihn. »Gut, gut, Franco, wir haben genau das aus ihm herausgekitzelt, was wir brauchten. Und du hieltest ihn für einen weisen Mann? Was für ein Narr er doch ist!«

Franco riss sich aus Jacobs Umarmung. »Die Dinge sind nicht immer so, wie sie scheinen. Möglicherweise bist du der Narr, dass du ihn für einen Narren hältst.«





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