10
REVAL, ESTLAND, NOVEMBER 1918
»Guten Tag«, sagte der Fremde und streckte ihm die Hand hin. »Ich bin Friedrich Pfister. Kennen wir uns? Sie kommen mir bekannt vor.«
»Rosenberg, Alfred Rosenberg. Ich bin hier aufgewachsen. Kam gerade aus Moskau zurück. Habe erst letzte Woche mein Diplom am Polytechnikum gemacht.«
»Rosenberg? Ach ja, ja – das ist es. Sie sind Eugens kleiner Bruder. Sie haben seine Augen. Darf ich mich zu Ihnen setzen?«
»Natürlich.«
Friedrich stellte seinen Bierkrug ab und setzte sich Alfred gegenüber an den Tisch. »Ihr Bruder und ich sind sehr gute Freunde, wir stehen immer noch in Kontakt. Ich habe Sie oft bei Ihnen zu Hause gesehen – ich habe Sie sogar huckepack getragen. Sie dürften, nun – sechs, sieben Jahre jünger als Eugen sein?«
»Sechs. Sie kommen mir auch bekannt vor, aber ich kann mich nicht wirklich an Sie erinnern. Ich weiß nicht, weshalb, aber ich habe kaum eine Erinnerung an meine Kindheit – sie ist wie ausradiert. Wissen Sie, ich war erst neun oder zehn, als Eugen zum Studium nach Brüssel ging. Seitdem habe ich ihn kaum mehr gesehen. Sie sagen, Sie stehen noch mit ihm in Kontakt?«
»Ja, erst vor zwei Wochen waren wir in Zürich zusammen beim Abendessen.«
»In Zürich? Er ist aus Brüssel fort?«
»Ja, vor ungefähr einem halben Jahr. Seine Schwindsucht ist wieder aufgeflammt, und er kam zur Liegekur in die Schweiz. Ich studiere momentan in Zürich und habe ihn im Sanatorium besucht. Er wird in zwei Wochen entlassen und zieht dann nach Berlin, wo er eine Weiterbildung im Bankwesen beginnt. Wie der Zufall es will, werde ich ebenfalls in ein paar Wochen zum Studium nach Berlin ziehen. Dann werden wir uns oft dort treffen. Sie wissen nichts davon?«
»Nein, unsere Wege haben sich getrennt. Wir standen uns nie besonders nahe und haben den Kontakt inzwischen so ziemlich verloren.«
»Ja, davon sprach Eugen – wehmütig, wie mir schien. Ich weiß, dass Ihre Mutter starb, als Sie noch ein Säugling waren – das war für Sie beide schwierig –, und ich erinnere mich, dass Ihr Vater ebenfalls in jungen Jahren starb, auch er an Schwindsucht?«
»Ja, er war erst vierundvierzig. Damals war ich elf. Sagen Sie, Herr Pfister …«
»Friedrich, bitte. Ein Bruder eines Freundes ist ebenfalls ein Freund. Wollen wir also Friedrich und Alfred zueinander sagen?«
Ein Nicken von Alfred.
»Und, Alfred, gerade wolltest du mir eine Frage …?«
»Ich hätte gern gewusst, ob Eugen je von mir gesprochen hat.«
»Nicht bei unserem letzten Treffen. Wir hatten uns drei Jahre nicht mehr gesehen und eine Menge nachzuholen. Aber davor sprach er häufig von dir.«
Alfred zögerte und platzte dann heraus: »Könntest du mir alles erzählen, was er über mich gesagt hat?«
»Alles? Ich will es versuchen, aber vielleicht darf ich zunächst eine Beobachtung äußern: Einerseits erzählst du mir so nebenbei, dass ihr, du und dein Bruder, nie eine enge Beziehung hattet und anscheinend nichts unternommen habt, um miteinander in Kontakt zu treten. Aber jetzt scheinst du begierig – ich würde sogar sagen, geradezu versessen – darauf, Neuigkeiten zu erfahren. Das ist ein bisschen paradox. Deshalb frage ich mich, ob du möglicherweise auf einer Art Suche nach dir und deiner Vergangenheit bist?«
Alfred zuckte kurz zurück: Diese scharfe Beobachtungsgabe erschreckte ihn. »Ja, das ist wahr. Ich bin verblüfft, dass dir das aufgefallen ist. Im Augenblick … nun, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll … ist alles ziemlich chaotisch. In Moskau sah ich marodierende Menschenmassen, die in Anarchie schwelgten. Und das alles breitet sich jetzt über Osteuropa, über ganz Europa aus. Meere von Vertriebenen. Und ich bin wie sie heimatlos, vielleicht sogar noch verlorener als andere … von allem abgeschnitten.«
»Und deshalb suchst du einen Anker in deiner Vergangenheit – du sehnst dich nach der Beständigkeit der Vergangenheit. Das kann ich verstehen. Aber nun will ich mein Gedächtnis nach Eugens Bemerkungen über dich durchforsten. Gib mir eine Minute Zeit zum Konzentrieren, bis ich die Bilder wieder hervorgekramt habe.«
Friedrich schloss die Augen und öffnete sie gleich wieder: »Es gibt ein Hindernis – meine eigenen Erinnerungen an dich funken mir dazwischen. Vielleicht sollte ich dir erst einmal davon erzählen, und anschließend werden mir Eugens Bemerkungen bestimmt wieder einfallen. Einverstanden?«
»Ja, einverstanden«, murmelte Alfred. Aber das war er eigentlich nicht wirklich. Ganz im Gegenteil: Diese ganze Unterhaltung war höchst merkwürdig. Jedes Wort, das aus Friedrichs Mund kam, war absonderlich und unerwartet. Und trotzdem vertraute er diesem Mann, der ihn schon gekannt hatte, als er noch ein Kind war. Friedrich verströmte den Duft von »Heimat«.
Friedrich schloss abermals die Augen und sprach dann mit entrückter Stimme: »Kissenschlacht – ich versuchte es, aber du wolltest nicht mitspielen … ich konnte dich nicht zum Spielen bewegen. Ernst – so, so ernst. Ordnung, Ordnung … Spielsachen, Bücher, Spielzeugsoldaten, alles sehr ordentlich … du liebtest deine Spielzeugsoldaten … todernster kleiner Junge … manchmal trug ich dich huckepack herum … ich glaube, du mochtest es … aber du bist immer schnell wieder heruntergesprungen … War es nicht richtig, Spaß zu haben? … Das Haus erschien mir kalt … mutterlos … Vater abwesend, depressiv … du und Eugen, ihr habt nie gesprochen … wo waren eure Freunde? … ich sah nie Freunde bei euch zu Hause … du warst ängstlich … ranntest in dein Zimmer … schlossest die Tür, ranntest immer zu deinen Büchern …«
Friedrich hielt inne, öffnete die Augen, trank einen großen Schluck Bier und richtete den Blick auf Alfred: »Das alles fließt aus dem Speicher meiner Erinnerungen an dich – vielleicht taucht später noch mehr davon auf. Ist es das, was du wolltest, Alfred? Ich möchte mir sicher sein. Ich möchte dem Bruder meines besten Freundes das geben, was er möchte und braucht.«
Alfred nickte und drehte dann schnell den Kopf zur Seite. Seine Verblüffung war ihm peinlich: Noch nie hatte er jemanden so sprechen hören. Obwohl Friedrichs Worte deutsch waren, war Friedrichs Sprache eine fremde.
»Dann will ich fortfahren und Eugens Bemerkungen über dich hervorkramen.« Friedrich schloss abermals die Augen und sprach einen Augenblick später mit der gleichen, entrückten Stimme: »Eugen, sprich mit mir über Alfred.« Dann wechselte Friedrich wieder zu einer anderen Stimme, die nun möglicherweise Eugens Stimme sein sollte.
»Ah … mein schüchterner, ängstlicher Bruder, ein begnadeter Künstler – alle Begabungen der Familie konzentrierten sich auf ihn – ich war vernarrt in seine Zeichnungen von Reval – der Hafen und all die Schiffe vor Anker, das teutonische Schloss mit seinem hoch aufragenden Turm – selbst in den Augen von Erwachsenen waren es vollkommene Zeichnungen, dabei war er erst zehn. Mein kleiner Bruder – immer mit der Nase in den Büchern – armer Alfred – ein Einzelgänger … so viel Angst vor anderen Kindern … nicht beliebt – die Jungen verspotteten ihn, nannten ihn ›den Philosophen‹ – nicht viel Liebe für ihn – unsere Mutter tot, unser Vater todkrank, unsere Tanten gutherzig, aber ständig mit ihren eigenen Familien beschäftigt – ich hätte mehr für ihn tun sollen, aber es war schwer, an ihn heranzukommen … und ich musste selbst sehen, wie ich meinen Hunger stillen konnte.«
Friedrich öffnete die Augen, blinzelte ein, zwei Mal und sagte dann mit seiner eigenen Stimme: »Daran erinnere ich mich. Ach ja, dann gab es da noch etwas, Alfred, und ich erzähle es dir mit gemischten Gefühlen: Eugen gab dir die Schuld am Tod eurer Mutter.«
»Mir die Schuld? Mir? Ich war doch erst ein paar Wochen alt.«
»Wenn jemand stirbt, suchen wir oft nach irgendetwas, nach irgendwem, dem wir die Schuld zuschieben können.«
»Das kann nicht dein Ernst sein. Oder? Ich meine, hat Eugen das wirklich gesagt? Das ergibt doch keinen Sinn.«
»Wir glauben oft, dass etwas keinen Sinn macht. Natürlich hast du sie nicht umgebracht, aber ich kann mir vorstellen, dass der Gedanke Eugen nicht loslässt, dass seine Mutter noch leben könnte, wenn sie nicht mit dir schwanger geworden wäre. Aber das ist nur eine Vermutung, Alfred. Ich kann mich nicht mehr an die genauen Worte erinnern, aber ich weiß bestimmt, dass er eine Abneigung gegen dich hegte, die er selbst als irrational bezeichnete.«
Alfred, der aschfahl geworden war, blieb mehrere Minuten lang stumm sitzen. Friedrich sah ihn an, trank sein Bier und sagte sanft: »Ich fürchte, ich habe vielleicht zu viel gesagt. Aber wenn ein Freund fragt, versuche ich, alles zu geben, was ich kann.«
»Und das ist auch gut so. Gründlichkeit, Aufrichtigkeit – gute, edle deutsche Tugenden. Das lobe ich mir, Friedrich. Und so vieles davon klingt richtig. Ich muss zugeben, dass ich mich manchmal frage, warum Eugen nicht mehr für mich getan hat. Und diese Spötteleien, ›kleiner Philosoph‹ – wie oft musste ich mir das von den anderen Jungen anhören! Ich glaube, das hat mich stark beeinflusst, und schließlich habe ich mich an allen dadurch gerächt, dass ich tatsächlich ein Philosoph wurde.«
»Am Polytechnikum? Wie ist das möglich?«
»Nun, nicht gerade ein studierter Philosoph – ich habe ein Diplom für Ingenieurwesen und Architektur, aber meine wahre Heimat war die Philosophie, und selbst am Polytechnikum fand ich einige Professoren vom Fach, die mich bei meinem Selbststudium begleitet haben. Mehr als alles andere verehre ich inzwischen die deutsche Klarheit des Denkens. Es ist meine einzige Religion. Und doch bin ich jetzt, in diesem Augenblick, in einer ziemlich verfahrenen Gemütsverfassung. Ich bin wie benommen. Vielleicht brauche ich einfach Zeit, um das alles in mich aufzunehmen, was du gesagt hast.«
»Alfred, ich glaube, ich kann erklären, was du fühlst. So etwas habe ich selbst erlebt, und ich habe es auch bei anderen gesehen. Du reagierst nicht auf die Erinnerungen, von denen ich dir erzählte. Es ist etwas anderes. Ich kann es vielleicht am besten auf philosophische Art und Weise erklären. Ich habe ebenfalls eine gründliche philosophische Ausbildung hinter mir, und es ist mir eine Freude, mit jemandem zu sprechen, der eine ähnliche Neigung hat.«
»Für mich wäre es auch eine Freude. Seit Jahren habe ich nur mit Ingenieuren zu tun, und nun sehne ich mich nach einem philosophischen Gespräch.«
»Gut, gut. Dann lass mich folgendermaßen beginnen: Denke an das Entsetzen und das Kopfschütteln angesichts Kants Enthüllung, dass die äußere Realität nicht so ist, wie wir sie gewöhnlich wahrnehmen – das heißt, wir konstituieren das Wesen der äußeren Realität kraft unserer inneren, geistigen Konstrukte. Du bist mit Kant vertraut, nehme ich an?«
»Ja, sehr vertraut. Aber seine Relevanz für meine derzeitige Gemütsverfassung ist …?«
»Nun, was ich meine, ist, dass deine Welt plötzlich – und nun beziehe ich mich auf deine interne Welt, die so sehr auf deinen vergangenen Erlebnissen gründet – nicht so ist, wie du glaubtest, dass sie sei. Oder anders ausgedrückt – hier möchte ich einen Begriff von Husserl verwenden – sage ich, dass dein Noema explodiert ist.«
»Husserl? Ich meide jüdische Pseudo-Philosophen. Und was ist ein Noema?«
»Alfred, ich rate dir, Edmund Husserl nicht links liegen zu lassen: Er ist einer von den Großen. Sein Begriff Noema bezieht sich auf das Ding, so wie wir es erleben, das Ding, wie es von uns strukturiert wurde. Stell dir zum Beispiel ein Gebäude vor. Und dann stell dir vor, dass du dich an ein Gebäude anlehnst und feststellst, dass das Gebäude nicht massiv ist und dass dein Körper direkt hindurchgeht. In diesem Moment explodiert dein Noema von einem Gebäude – deine Lebenswelt ist auf einmal nicht mehr so, wie du glaubtest, dass sie sei.«
»Ich respektiere deinen Rat. Aber bitte erkläre es mir näher – ich verstehe das Konzept einer Struktur, die wir der Welt aufdrängen, aber ich bin immer noch verwirrt über die Relevanz für Eugen und mich.«
»Nun, was ich sage, ist, dass deine Ansicht über die lebenslange Beziehung, die du zu deinem Bruder hattest, sich mit einem Paukenschlag verändert hat. Du hattest ein bestimmtes Bild von ihm, und plötzlich verschiebt sich die Vergangenheit nur um ein kleines Stück, und nun stellst du fest, dass er dir manchmal mit Ressentiments begegnete, selbst wenn diese Ressentiments natürlich irrational und unfair waren.«
»Du sagst also, dass ich mich deshalb benommen fühle, weil sich der feste Boden meiner Vergangenheit verschoben hat?«
»Ganz genau. Gut formuliert, Alfred. Dein Kopf ist überlastet, weil er ganz und gar damit beschäftigt ist, die Vergangenheit wiederherzustellen, und er hat nicht die Kapazität, seine normalen Tätigkeiten zu verrichten – wie etwa für dein Gleichgewicht zu sorgen.«
Alfred nickte. »Friedrich, das ist eine wirklich erstaunliche Unterhaltung. Du gibst mir eine Menge nachzudenken. Aber ich darf darauf hinweisen, dass ich diese Benommenheit zum Teil auch schon vor unserem Gespräch gespürt habe.«
Friedrich wartete gelassen, wartete ab. Offenbar wusste er zu warten.
Alfred zögerte: »Normalerweise gebe ich nicht so viel von mir preis. Eigentlich spreche ich kaum mit jemandem über mich, aber du hast etwas an dir, das ausgesprochen – wie soll ich sagen – vertrauenserweckend, einladend ist.«
»Nun, gewissermaßen gehöre ich zur Familie. Und natürlich weißt du, dass du mit alten Freunden nicht neu Freundschaft schließen kannst.«
»Mit alten Freunden nicht neu Freundschaft …« Alfred überlegte einen Augenblick und lächelte dann: »Ich verstehe. Sehr schlau. Nun, mein Tag begann damit, dass ich das Gefühl hatte, hier fremd zu sein – ich bin erst gestern aus Moskau zurückgekommen. Ich bin jetzt allein. Ich war kurz verheiratet – meine Frau hat Schwindsucht, und ihr Vater hat sie vor ein paar Wochen in ein Sanatorium in die Schweiz geschickt. Aber es ist nicht nur die Schwindsucht: Ihre wohlhabende Familie lehnt mich und meine Armut ganz und gar ab, und ich bin sicher, dass unsere sehr kurze Ehe damit zu Ende ist. Wir haben nur wenig Zeit miteinander verbracht, und wir korrespondieren auch kaum noch miteinander.«
Alfred trank hastig einen Schluck Bier und fuhr dann fort: »Als ich gestern hier eintraf, hatte ich den Eindruck, als freuten sich meine Tanten, Onkel, Nichten und Neffen, mich zu sehen, und ihr herzlicher Empfang tat mir gut. Ich hatte das Gefühl, als gehörte ich dazu. Aber das hielt nicht lange an. Als ich heute Morgen aufwachte, kam ich mir abermals fremd und heimatlos vor. Ich ging durch die Stadt auf der Suche nach … ja was? Vermutlich nach einem Zuhause, nach Freunden, vielleicht auch nur nach irgendwelchen bekannten Gesichtern. Aber ich sah nur Fremde. Sogar in der Realschule traf ich niemanden, den ich kannte, nur meinen Lieblingslehrer, den Kunstlehrer, und der hat nur so getan, als hätte er mich wiedererkannt. Und vor weniger als einer Stunde hat man mir dann den Todesstoß versetzt: Ich beschloss, dorthin zu gehen, wohin ich wirklich gehöre. Ich wollte nicht mehr im Exil leben, sondern wieder mit meiner Rasse zusammenleben und ins Vaterland zurückkehren. Ich wollte mich der deutschen Reichswehr anschließen und ging deshalb zum Hauptquartier der deutschen Armee auf der Straßenseite gegenüber. Dort hat mich der für die Einberufung zuständige Unteroffizier, ein Jude namens Goldberg, wie ein lästiges Insekt verscheucht. Er entließ mich mit den Worten, dass die deutschen Streitkräfte für Deutsche da sind und nicht für Bürger kriegsbeteiligter Nationen.«
Friedrich nickte verständnisvoll. »Vielleicht war dieser Todesstoß ja ein Segen für dich. Vielleicht hattest du das Glück der Begnadigung vor einem sinnlosen Tod in den morastigen Schützengräben.«
»Du sagtest, dass ich ein seltsam ernstes Kind war. Ich glaube, dass ich das immer noch bin. Beispielsweise nehme ich meinen Kant ernst: Ich betrachte es als moralischen Imperativ, mich freiwillig zu melden. Was würde wohl aus unserer Welt werden, wenn alle das tödlich verwundete Vaterland im Stich ließen? Wenn es ruft, müssen seine Söhne gehorchen.«
»Ist es nicht seltsam«, sagte Friedrich, »dass wir baltische Deutsche so viel deutscher sind als die Deutschen? Vielleicht haben wir alle, die wir vertriebene Deutsche sind, diese gleiche, starke Sehnsucht, von der du sprichst – die Sehnsucht nach Heimat, nach einem Platz, wo wir wirklich hingehören. Wir baltische Deutsche sind besonders schwer von der Seuche der Wurzellosigkeit betroffen. Das spüre ich in diesem Augenblick besonders stark, weil mein Vater Anfang dieser Woche gestorben ist. Deshalb bin ich in Reval. Und nun weiß ich auch nicht, wohin ich gehöre. Meine Großeltern mütterlicherseits sind Schweizer, aber dorthin gehöre ich auch nicht wirklich.«
»Mein herzliches Beileid«, sagte Alfred.
»Danke. In vieler Hinsicht hatte ich es leichter als du: Mein Vater war fast achtzig, und er war mein ganzes Leben lang immer für mich da. Und meine Mutter lebt noch: Im Augenblick helfe ich ihr gerade beim Umzug zu meiner Schwester. Eigentlich bin ich nur kurz ausgebüxt, während sie ein Nickerchen macht, und ich muss bald wieder zu ihr zurück. Aber bevor ich gehe, möchte ich dir sagen, dass das Thema Heimat wichtig und drängend für dich ist. Ich kann noch ein wenig länger bleiben, wenn du das noch weiter erforschen möchtest.«
»Ich weiß nicht, wie ich es erforschen soll. Ich bin wirklich verblüfft über deine Gabe, mit einer derartigen Leichtigkeit über tiefgreifende, persönliche Dinge zu sprechen. Ich habe noch nie jemanden getroffen, der seine innersten Gedanken so offen ausspricht wie du.«
»Soll ich dir dabei helfen?«
»Wie meinst du das?«
»Ich meine damit, dass ich dir helfen möchte, deine Gefühle hinsichtlich der Heimat zu identifizieren und zu verstehen.«
Alfred machte ein misstrauisches Gesicht, aber nach einem ausgiebigen Schluck seines estnischen Bieres stimmte er zu.
»Versuche es einmal so: Mach genau das, was ich gemacht habe, als ich meine Erinnerungen an dich als Kind hervorgekramt habe. Und jetzt mein Vorschlag: Denk an die Worte ›nicht zu Hause‹ und sag sie dir mehrmals vor: ›Nicht zu Hause‹, ›nicht zu Hause‹, nicht zu Hause.‹«
Alfreds Lippen formten ein, zwei Minuten lang lautlos diese Worte, und dann schüttelte er den Kopf. »Es kommt nichts. Mein Kopf streikt.«
»Der Kopf streikt nie. Er arbeitet immer, blockiert aber oft unser Wissen darüber. Normalerweise ist es Befangenheit. In diesem Fall gehe ich davon aus, dass es Befangenheit mir gegenüber ist. Versuch es noch einmal. Ich schlage dir vor, die Augen zu schließen und mich zu vergessen, zu vergessen, was ich über dich denken könnte, zu vergessen, wie ich das, was du sagst, beurteilen könnte. Denk daran, dass ich dir helfen will, und denk auch daran, dass ich dir mein Wort gebe, dass dieses Gespräch unter uns bleibt. Ich werde es nicht einmal Eugen gegenüber erwähnen. Und jetzt schließ die Augen, lass deine Gedanken zu ›nicht zu Hause‹ in dein Gedächtnis fließen und verleihe ihnen dann eine Stimme. Sprich einfach aus, was dir einfällt – es muss keinen Sinn ergeben.«
Alfred schloss abermals die Augen, aber die Worte blieben aus.
»Ich höre dich nicht richtig. Lauter, ein bisschen lauter bitte.«
Leise begann Alfred zu sprechen: »Nicht zu Hause. Nirgendwo. Nicht bei Tante Cäcilie und auch nicht bei Tante Lydia … kein Platz für mich, nicht in der Schule, nicht bei den anderen Jungen, nicht in der Familie meiner Frau, nicht in der Architektur, nicht im Ingenieurwesen, nicht in Estland, nicht in Russland … Mütterchen Russland, was für ein Witz …«
»Gut, gut – mach weiter«, ermunterte Friedrich ihn.
»Immer draußen, immer hineinschauen, immer will ich es ihnen zeigen.« Alfred wurde still, öffnete die Augen. »Es kommt nichts mehr …«
»Du sagtest, du wolltest es ihnen zeigen. Wem zeigen, Alfred?«
»All denen, die mich verspottet haben. In der Nachbarschaft, in der Realschule, im Polytechnikum, überall.«
»Und wie wirst du es ihnen zeigen, Alfred? Bleib in deinem losen Gemütszustand. Es muss keinen Sinn ergeben.«
»Ich weiß nicht. Irgendwie werde ich sie dazu bringen, mich zu bemerken.«
»Und wenn sie dich bemerken, wirst du dann zu Hause sein?«
»Ein Zuhause gibt es nicht. Ist es das, was du mir zu zeigen versuchst?«
»Ich habe keinen festgelegten Plan, allerdings habe ich jetzt eine Idee. Es ist nur eine Vermutung, aber ich frage mich, ob du überhaupt irgendwo ›zu Hause‹ sein kannst, denn ›zu Hause‹ ist kein Ort, sondern ein Seelenzustand. Wirklich zu Hause zu sein bedeutet, sich in seiner eigenen Haut zu Hause zu fühlen. Und ich glaube nicht, Alfred, dass du dich in deiner Haut zu Hause fühlst. Vielleicht war das ja noch nie der Fall. Vielleicht hast du dein ganzes Leben lang am falschen Ort nach deinem Zuhause gesucht.«
Alfred war wie vom Donner gerührt. Seine Kinnlade klappte herunter, seine Augen hefteten sich auf Friedrich. »Deine Worte treffen mich mitten ins Herz. Wie kommt es, dass du solche Dinge weißt, solche unbegreiflichen Dinge? Du hast gesagt, dass du ein Philosoph bist. Ist es deshalb? Diese Philosophie muss ich lesen.«
»Ich bin ein Amateur. Ich hätte mir wie du gewünscht, mein Leben der Philosophie zu widmen, aber ich muss meinen Lebensunterhalt verdienen. Ich habe in Zürich Medizin studiert und eine ganze Menge darüber gelernt, anderen Menschen dabei zu helfen, über schwierige Themen zu sprechen. Und nun«, Friedrich erhob sich, »muss ich leider gehen. Meine Mutter wartet, und ich muss übermorgen wieder nach Zürich zurück.«
»Leider, leider. Das war sehr aufschlussreich, und ich habe das Gefühl, als hätten wir gerade erst angefangen. Hast du wirklich keine Zeit mehr für eine Fortsetzung, bevor du Reval verlässt?«
»Mir bleibt nur noch morgen. Meine Mutter legt sich am Nachmittag immer hin. Vielleicht zur gleichen Zeit? Sollen wir uns hier treffen?«
Alfred zügelte seine Begeisterung und seinen Wunsch, »Ja, ja« zu rufen. Stattdessen neigte er den Kopf in genau angemessener Weise: »Ich freue mich darauf.«
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