Das Spinoza-Problem

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MÜNCHEN, 1919


Als Alfred am folgenden Morgen in der Bibliothek in der Schlange stand und auf Spinozas Buch wartete, fiel ihm ein Traum ein, den er in der vergangenen Nacht geträumt hatte. Ich gehe mit Friedrich in den Wald. Wir unterhalten uns. Plötzlich verschwindet er, und ich bin allein. Ich komme an anderen Leuten vorbei, die mich anscheinend nicht sehen. Ich komme mir unsichtbar vor. Ich bin unsichtbar. Dann wird es dunkel im Wald. Ich habe Angst. Das war alles, woran er sich erinnern konnte. Es gab noch mehr, das wusste er, aber er konnte es nicht abrufen. Seltsam, sinnierte er, wie flüchtig Träume sein können. Er hatte nicht einmal gewusst, dass er geträumt hatte, bis ihm dieses Bruchstück plötzlich eingefallen war. Die Erinnerung war vermutlich durch die Verbindung zwischen Spinoza und Friedrich ausgelöst worden. Und nun stand er hier in der Warteschlange, um Spinozas Theologisch-Politischen Traktat abzuholen, das Werk, das Friedrich ihm zu lesen empfohlen hatte, bevor er sich an die Ethik wagte. Seltsam, dass er so oft an Friedrich dachte – schließlich hatten sie sich nur zwei Mal getroffen. Nein, das stimmte nicht ganz. Friedrich hatte ihn schon als Kind gekannt. Vielleicht war es ja auch nur die außergewöhnliche, seltsam vertraute Art ihrer Unterhaltung gewesen.

Als Alfred im Büro eintraf, war Eckart noch nicht aufgetaucht. Das war nicht ungewöhnlich, zumal Eckart jeden Abend ziemlich viel trank und am Morgen zu unregelmäßigen Zeiten erschien. Alfred überflog das Vorwort in Spinozas Buch, welches hielt, was er sich davon versprochen hatte. Dieses Buch zu lesen war kein Problem – die Prosa war glasklar. Friedrich hatte Recht: Es war ein Fehler gewesen, mit der Ethik zu beginnen. Schon die allererste Seite erregte Alfreds Aufmerksamkeit: »So närrisch macht den Menschen die Furcht; sie ist es, die den Aberglauben erzeugt, nährt und begünstigt«, las er. Und: »… so finden wir, daß vorzugsweise solche Menschen, welche nach unsicheren Glücksgütern recht heftiges Verlangen haben, jeder Art von Aberglauben zugethan sind und daß ferner so ziemlich alle Menschen, namentlich wenn sie in Gefahr schweben und sich nicht zu helfen wissen, mit Gebeten und weibischen Thränen die göttliche Hilfe erflehen.« Wie konnte ein Jude des siebzehnten Jahrhunderts so schreiben? Das waren die Worte eines Deutschen des zwanzigsten Jahrhunderts!

Auf der folgenden Seite beschrieb Spinoza, welch unsägliche Mühe darauf verwandt wurde, eine »Religion … durch Bräuche und gottesdienstliche Einrichtungen so auszuschmücken, daß im Geiste nicht der kleinste Raum für die gesunde Vernunft oder auch nur für den Zweifel bleibt«. Verblüffend! Und das war noch nicht alles! Spinoza fuhr fort, die Religion als Hort »alberner Geheimnisse« zu bezeichnen, welche diejenigen anlockt, »welche die Vernunft geradezu verachten«. Alfred schnappte nach Luft. Seine Augen wurden immer größer.

Die Hebräer Gottes »auserwähltes Volk«? »Unsinn«, sagte Spinoza. Er vertrat den Standpunkt, dass bei einer informierten und redlichen Lektüre des mosaischen Rechts klar werde, dass Gott die Juden nur insoweit bevorzugte, als er ihnen einen schmalen Streifen Land gab, auf welchem sie in Frieden leben konnten.

Und die Heilige Schrift »Gottes Wort«? Spinozas kraftvolle Prosa zerstreute diese Vorstellung in alle Winde, als er behauptete, dass die Bibel nur spirituelle Wahrheiten enthielt – namentlich die Ausübung von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit –, jedoch keine irdischen Wahrheiten. Alle diejenigen, die irdische Gesetze und Wahrheiten in der Bibel fänden, irrten oder verfolgten eigene Interessen, behauptete Spinoza.

Das Vorwort endete mit einer Warnung: »Die Menge also … lade ich nicht ein, dieses zu lesen«, und fährt mit der Erklärung fort, dass diejenigen, die meinen, »die Vernunft müsse die Magd der Theologie sein«, aus diesem Werk keinen Nutzen ziehen könnten.

Verblüfft von diesen Worten konnte Alfred nicht anders, als Spinozas Dreistigkeit zu bewundern. Im kurzen biographischen Abriss stand, dass, obwohl das Buch im Jahre 1670 anonym veröffentlicht wurde (Spinoza war damals achtunddreißig Jahre alt), die Identität des Autors weithin bekannt war. Im Jahr 1670 solche Worte zu schreiben bedurfte einigen Mutes: In jenem Jahr war es erst zwei Generationen her, dass Giordano Bruno wegen Ketzerei auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde, und nur eine einzige Generation, seit Galilei im Vatikan der Prozess gemacht wurde. In der Einleitung stand zu lesen, dass das Buch vom Staat, von der katholischen Kirche und von den Juden unverzüglich und kurz danach auch von den Calvinisten verboten wurde. Das alles sprach für dieses Werk.

An der außerordentlichen Intelligenz des Autors war nicht zu rütteln. Nun verstand Alfred endlich, endlich, weshalb der große Goethe und all die anderen Deutschen, die er so sehr liebte – Schelling, Schiller, Hegel, Lessing, Nietzsche –, diesen Mann verehrten. Wie konnten sie einen Geist wie diesen auch nicht bewundern? Aber natürlich hatten sie in einem anderen Jahrhundert gelebt und nichts von der neuen Rassenforschung gewusst, nichts von den Gefahren vergifteten Blutes – sie bewunderten schlicht und einfach diese Mutation, diese außergewöhnliche Blüte, die sich aus dem Morast erhoben hatte. Alfred betrachtete die Titelseite »Benedictus Spinoza« – hmm, Benedictus, ein Name mit größtmöglicher Ferne zu einem semitischen Namen. In der biographischen Kurzbeschreibung stand, dass Spinoza in seinen Zwanzigern von den Juden exkommuniziert worden war und danach nie mehr Kontakt zu einem Juden hatte. Also war er eigentlich gar kein Jude. Er war eine Mutation – die Juden stellten fest, dass er kein Jude war, und auch er musste das erkannt haben, weil er diesen Namen angenommen hatte.

Dietrich tauchte gegen elf Uhr auf und verbrachte die meiste Zeit des Tages damit, Alfred darin zu unterrichten, ein effektiverer Redakteur zu werden. Bald wurde ihm die Verantwortung übertragen, die meisten Arbeiten zu redigieren, die bei der Zeitung eingereicht wurden. Innerhalb weniger Wochen flitzte Alfreds Rotstift blitzschnell über die Seiten, während er mit sicherer Hand Stil und Aussagekraft der Arbeiten anderer verbesserte. Alfred betrachtete sich als Glückspilz: Er hatte nicht nur einen hervorragenden Lehrer, er war auch Dietrichs einziges »Kind«. Doch das sollte sich bald ändern. Ein anderer aus demselben Stall wie Alfred war im Anmarsch, ein Gesinnungsgenosse, der den ganzen Raum für sich in Anspruch nehmen sollte.

Der Wechsel wurde mehrere Wochen später, im September 1919, eingeleitet, als Anton Drexler, derjenige, der Alfred in der Thule-Gesellschaft willkommen geheißen hatte, in heller Aufregung im Büro erschien. Dietrich wollte gerade die Tür zu einem Gespräch unter vier Augen schließen, winkte dann aber mit Drexlers Einverständnis auch Alfred herein.

»Ich möchte dich auf den neuesten Stand bringen, Alfred«, sagte Drexler. »Du weißt bestimmt, dass kurz nach deiner ersten Versammlung bei der Thule-Gesellschaft einige von uns eine neue politische Partei, die Deutsche Arbeiterpartei, gegründet haben. Ich erinnere mich, dass du bei einem der ersten Treffen dabei warst, das allerdings nicht besonders gut besucht war. Aber nun sind wir bereit zu expandieren. Dietrich und ich wollen dich einladen, zu unserem nächsten Treffen zu kommen und einen Leitartikel darüber zu schreiben. Wir sind nur eine Partei in einer ganzen Legion von Parteien und müssen bekannter werden.«

Alfred warf Eckart einen Blick zu, dessen energisches Nicken andeutete, dass die Einladung mehr als eine Einladung war, und antwortete: »Ich werde selbstverständlich zum nächsten Treffen kommen.«

Damit war Drexler anscheinend zufrieden, und er bedeutete Alfred, die Tür des Büros zu schließen und Platz zu nehmen. »Nun, Dietrich, ich denke, wir haben den gefunden, auf den du gewartet hast. Ich will dir erzählen, was passiert ist: Du erinnerst dich natürlich daran, dass wir damals die Armee um Erlaubnis fragen mussten, als wir beschlossen, die Partei von einem Debattierclub von Thule-Mitgliedern zu einer aktiven Partei mit öffentlichen Versammlungen umzuwandeln? Und dass man uns darauf vorbereitet hat, bei unseren Versammlungen regelmäßig Besuch von Militärbeobachtern zu bekommen?«

»Ich erinnere mich daran und bin mit dieser Regelung vollkommen einverstanden. Es ist wichtig, dass die Kommunisten nicht ausscheren.«

»Nun«, fuhr Drexler fort, »letzte Woche hatten wir eine Versammlung mit fünfundzwanzig oder dreißig Leuten. Es war schon ziemlich spät, als ein ziemlich gewöhnlich aussehender, ärmlich gekleideter Mann auftauchte und sich in die letzte Reihe setzte. Carl, unser Leibwächter und Rausschmeißer, flüsterte mir zu, dass der Mann ein Beobachter der Reichswehr in Zivil sei, der schon auf anderen politischen Versammlungen, in Theatern und Clubs gesehen wurde, wo er nach gefährlichen Agitatoren Ausschau gehalten hat.

Nun, dieser Beobachter – er heißt Hitler und ist Gefreiter bei der Reichswehr, soll aber in ein paar Monaten ausgemustert werden – hat dem Hauptredner, der einen langweiligen Vortrag über die Beseitigung des Kapitalismus hielt, vollkommen regungslos zugehört. Bei der darauffolgenden Diskussionsrunde ging dann allerdings die Post ab. Einer im Publikum erklärte in epischer Breite, warum er diesen dummen Plan gutheißt, der im Augenblick in Bayern kursiert, dass Bayern sich vom Deutschen Reich abspalten und mit Österreich zu einem süddeutschen Staat verbinden soll. Was soll ich sagen: Dieser Hitler wurde fuchsteufelswild, sprang auf, marschierte zum Podium und lieferte eine beißende Attacke gegen diese Idee oder irgendeinen anderen Plan, der Deutschland bewusst schwächen würde. Mehrere Minuten lang zog er vernichtend über die Feinde Deutschlands her – sie würden sich mit den Versailler Kriminellen verbrüdern, die unser Land vernichten, uns aufsplittern und unserer ruhmreichen Zukunft berauben wollen – und so weiter.

Es war ein ausgewachsener Tobsuchtsanfall; er hat sich wie ein Verrückter gebärdet, als wollte er jeden Moment vollends ausrasten. Im Zuschauerraum rumorte es, und ich wollte Carl schon losschicken, um ihn an die Luft zu setzen – ich zögerte nur noch, weil, na ja, immerhin ist er bei der Reichswehr. Aber als hätte er meine Gedanken gelesen, riss er sich genau in diesem Augenblick zusammen, sammelte sich und lieferte eine Viertelstunde lang eine erstaunlich breitgefächerte Stegreifrede ab. Vom Inhalt her nichts Originelles. Seine Ansichten – antijüdisch, promilitärisch, antikommunistisch – entsprechen den unseren. Aber wie er es vermittelt hat, war schon verblüffend. Nach ein paar Minuten waren alle, ich meine, wirklich alle, wie erstarrt; gebannt schauten sie in seine lodernden blauen Augen und saugten jedes einzelne seiner Worte gierig auf. Dieser Mann hat eine besondere Gabe. Das war mir sofort klar, und nach der Versammlung bin ich ihm nachgelaufen, habe ihm das Flugblatt Mein politisches Erwachen und meine Visitenkarte in die Hand gedrückt und ihn eingeladen, sich mit mir in Verbindung zu setzen, damit ich ihm mehr über die Partei erzählen kann.«

»Und?«, fragte Eckart.

»Nun, gestern Abend hat er mich besucht. Wir unterhielten uns ausführlich über die Absichten und Ziele der Partei, und jetzt ist er Mitglied Nummer fünfhundertfünfundfünfzig und wird sich auf der nächsten Versammlung an die Parteimitglieder wenden.«

»Fünfhundertfünfundfünfzig?«, unterbrach Alfred. »Unglaublich! Ist die Partei schon so groß?«

»Äh, unter uns und nur unter uns, Alfred: In Wirklichkeit ist es die Nummer fünfundfünfzig«, raunte Drexler. »Für die Veröffentlichung legen wir allerdings Wert darauf, dass du eine Stelle dazutust und fünfhundertfünfundfünfzig daraus machst. Die Leute werden uns ernster nehmen, wenn sie uns für größer halten.«

Ein paar Tage später machten Eckart und Alfred sich gemeinsam auf den Weg, um den Gefreiten Hitler reden zu hören. Danach war ein Abendessen zu dritt bei Eckart zu Hause geplant. Hitler schlenderte selbstbewusst vor das vierzigköpfige Auditorium und begann ohne irgendeine Einleitung sofort mit einer leidenschaftlichen Warnung vor den Gefahren, die Deutschland von den Juden drohten. »Ich bin gekommen«, sagte er mit erregter Stimme, »um Sie vor den Juden zu warnen und eine neue Art von Antisemitismus zu fordern. Ich fordere einen Antisemitismus, der auf Tatsachen beruht und nicht auf Gefühlen. Der Antisemitismus aus rein gefühlsmäßigen Gründen wird seinen letzten Ausdruck finden in der Form von Pogromen. Das ist nicht die Lösung. Wir brauchen mehr, viel mehr als das. Wir brauchen einen Antisemitismus der Vernunft. Die Vernunft führt uns zu einem letzten, absolut unverrückbaren Ziel: der Entfernung der Juden überhaupt aus Deutschland.«

Dann gab er eine weitere Warnung aus: »Die Revolution, die das gekrönte Haupt Deutschlands von der Macht gefegt hat, darf dem Judäo-Bolschewismus nicht Tür und Tor öffnen.«

Alfred zuckte bei dem Begriff »Judäo-Bolschewismus« zusammen. Genau diesen Begriff hatte er selbst eine Zeit lang verwendet, und nun dachte dieser Gefreite genauso und benutzte dieselben Worte. Das war schlecht, aber auch gut. Schlecht, weil Alfred sich selbst als Urheber dieses Begriffs betrachtete, aber auch gut, weil er erkannte, dass er einen schlagkräftigen Verbündeten hatte.

»Ich will Ihnen mehr über die jüdische Gefahr erzählen«, fuhr Hitler fort. »Ich will Ihnen mehr über einen Antisemitismus der Vernunft erzählen. Es ist nicht wegen der Religion der Juden. Ihre Religion ist nicht schlechter als die anderen – sie sind alle Teil des gleichen, groß angelegten religiösen Schwindels. Und es ist auch nicht wegen ihrer Geschichte oder ihrer widerwärtigen, parasitären Kultur – obwohl ihre Sünden gegen Deutschland über Jahrhunderte hinweg legendär sind. Nein, das alles ist nicht der Grund. Worum es wirklich geht, ist ihre Rasse, ihr verseuchtes Blut, das jeden Tag, jede Stunde, jede Minute Deutschland schwächt und bedroht.

Das verseuchte Blut kann niemals rein werden. Ich werde Ihnen von den Juden erzählen, die sich haben taufen lassen, von den konvertierten christlichen Juden. Das sind die Schlimmsten. Sie sind die größte Gefahr. Sie werden unser großartiges Land genauso heimtückisch infizieren und zerstören, wie sie jede große Zivilisation zerstört haben.«

Bei dieser Aussage zuckte Alfred zusammen. Er hat Recht, er hat Recht, dachte er. Dieser Hitler erinnerte ihn an das, was er schon wusste. Das Blut kann nicht verändert werden. Einmal Jude, immer Jude. Alfred musste seine Einstellung zum Spinoza-Problem insgesamt überdenken.

»Für uns«, fuhr Hitler fort und schlug sich bei jedem Argument auf die Brust, »ist dieses Problem kein Problem, an dem man vorbeigehen kann mit verbundenen Augen, das nur gelöst wird durch kleine Zugeständnisse, für uns ist das ein Problem, das darüber entscheidet, ob unser Volk vor allem wieder innerlich gesundet, ob der jüdische Geist auch wirklich verschwindet. Denn denken Sie nicht, dass Sie eine Krankheit bekämpfen können, ohne nicht den Erreger zu töten, ohne den Bazillus zu vernichten, und denken Sie nicht, dass Sie die Rassentuberkulose bekämpfen können, ohne zu sorgen, daß das Volk frei wird von dem Erreger der Rassentuberkulose.«

Bei jedem Argument wurde Hitlers Stimme schriller, bei jedem Satz seine Tonlage höher, bis es sicher schien, dass sich seine Stimme irgendwann überschlagen würde – aber das trat nicht ein. Als er seinen letzten Satz ins Auditorium kreischte: »Das Wirken des Judentums wird niemals vergehen, und die Vergiftung des Volkes nicht enden, solange nicht der Erreger, der Jude, aus unserer Mitte entfernt ist«, sprangen die Zuhörer von ihren Sitzen und applaudierten frenetisch.

Das Abendessen fand an diesem Abend in Eckarts Haus in vertrautem Kreis mit nur vier Personen statt: Alfred, Drexler, Eckart und Hitler. Aber nun war es ein anderer Hitler – nicht der Hitler, der sich ständig auf die Brust trommelte, sondern ein höflicher, liebenswürdiger Hitler.

Eckarts Frau Rosa, eine kultivierte Dame, führte sie in den Salon, zog sich aber schon nach wenigen Minuten diskret zurück und überließ die vier Männer ihren vertraulichen Gesprächen. Mit großer Geste holte Eckart einen von seinen besten Weinen aus dem Keller, doch seine Überschwänglichkeit war bald gedämpft, als er feststellte, dass Hitler Abstinenzler war und Alfred niemals mehr als ein Glas trank. Noch ernüchterter war er, als er erfuhr, dass Hitler Vegetarier war und die dampfende, gebratene Gans, welche die Hausfrau stolz in das Esszimmer trug, unberührt ließ. Nachdem die Hausfrau schnell ein paar Rühreier und Kartoffeln für Hitler zubereitet hatte, speisten und plauderten die vier länger als drei Stunden.

»Nun, Herr Hitler, erzählen Sie uns doch von Ihrer momentanen Aufgabe und von Ihrer Zukunft bei der Reichswehr«, bat Eckart.

»Die Reichswehr hat keine große Zukunft, nachdem der Versailler Vertrag – den ich von ganzem Herzen verfluche – eine Höchstgrenze von hunderttausend Soldaten festgelegt hat, für unsere Feinde dagegen überhaupt keine Höchstgrenze. Diese Schrumpfung bedeutet, dass ich in etwa einem halben Jahr ausgemustert werde. Abgesehen von der Aufgabe, Versammlungen der gefährlichsten unserer fünfzig politischen Parteien zu beobachten, die es derzeit in München gibt, habe ich nur wenige Pflichten.«

»Und warum wird die Deutsche Arbeiterpartei als gefährlich eingestuft?«, wollte Eckart wissen.

»Wegen des Wortes ›Arbeiter‹. Das erregt den Verdacht eines kommunistischen Einflusses. Aber Herr Eckart, ich kann Ihnen versichern, dass die Reichswehr Ihnen nach meinem Bericht jede nur mögliche Unterstützung anbieten wird. Es ist für uns alle eine gefährliche Situation. Die Bolschewiken waren für die russische Kapitulation im Krieg verantwortlich, und jetzt sind sie entschlossen, Deutschland zu infiltrieren und uns zu einem bolschewistischen Staat zu machen.«

»Sie und ich haben uns gestern über die gegenwärtige Welle von Mordanschlägen gegen Führer der Linken unterhalten«, sagte Drexler. »Wären Sie eventuell bereit, Herrn Eckart und Herrn Rosenberg gegenüber zu wiederholen, wie die Reichswehr und die Polizei Ihrer Meinung nach darauf reagieren sollten?«

»Ich glaube, dass es viel zu wenige Mordanschläge gibt, und wenn ich das Sagen hätte, würde ich den Attentätern noch mehr Patronen geben.«

Diese Antwort quittierten Eckart und Drexler mit einem breiten Grinsen, und Eckart fragte: »Und was halten Sie bis jetzt von unserer Partei?«

»Mir gefällt, was ich sehe. Ich stimme dem Parteiprogramm voll und ganz zu, und nachdem ich gründlich darüber nachgedacht habe, bestehen meinerseits überhaupt keine Bedenken, mich auf die Seite Ihrer Partei zu schlagen.«

»Und unsere geringe Mitgliederzahl?«, fragte Drexler. »Alfred, unser Journalist, war ein wenig erschrocken, als er erfuhr, dass unsere ersten fünfhundert Soldaten eher aus dem Reich der Fabel stammen.«

»Nun, als Journalist«, damit wandte Hitler sich an Alfred, »hoffe ich doch, dass Sie mir eines Tages zustimmen werden, dass die Wahrheit das ist, was die Öffentlichkeit glaubt. Offen gestanden, Herr Drexler, betrachte ich unsere geringe Größe als Vorteil und nicht als Nachteil. Ich beziehe mein Gehalt von der Reichswehr, mein Kommandant hat kaum Aufgaben für mich, und in den nächsten sechs Monaten habe ich die Absicht, unermüdlich für die Partei zu arbeiten und, wie ich hoffe, ihr bald meinen Stempel aufzudrücken.«

»Darf ich mir die Freiheit erlauben, Sie um weitere Informationen zu Ihrem Militärdienst zu bitten, Herr Hitler?«, meldete sich Dietrich Eckart. »Was mich besonders interessiert, ist Ihr Rang. Sie haben ein so großes Führungspotential. Sie sollten einen hohen Rang bekleiden und sind dennoch Gefreiter?«

»Diese Frage müssen Sie meinen Vorgesetzten stellen. Ich vermute, sie werden Ihnen sagen, dass ich potentiell ein großer Führer gewesen wäre, mich aber zu sehr dagegen gesträubt habe, mich unterzuordnen. Aber worauf es eher ankommt, sind Tatsachen.« Er warf einen Blick zu Alfred, um sich zu vergewissern, dass er fleißig mitschrieb. »Mir wurden zwei Eiserne Kreuze für Tapferkeit verliehen. Lassen Sie sich das von der Reichswehr bestätigen, Herr Rosenberg. Ein guter Journalist muss Sachverhalte immer nachprüfen, auch wenn er sich von Zeit zu Zeit gegen ihre Verwendung entscheiden mag. Und ich wurde zweimal beim Fronteinsatz verwundet. Das erste Mal waren es Schrapnellverletzungen am Bein. Aber statt mir eine lange Erholungspause zu gönnen, bestand ich darauf, unverzüglich zu meinem Regiment zurückzukehren. Die zweite Verwundung war ein Geschenk unserer englischen Freunde: Senfgas. Mehrere in unserer Truppe erblindeten vorübergehend und überlebten nur, weil einer von ihnen nur halbblind war. Jeder von uns hielt den anderen an der Hand, und so führten wir uns von der Front zum Lazarett. Ich wurde im Krankenhaus in Pasewalk behandelt und ungefähr vor einem Jahr mit geschädigten Stimmbändern entlassen.«

Alfred, der fleißig mitschrieb, hob den Kopf und bemerkte: »Heute Abend haben sich Ihre Stimmbänder aber gesund und munter angehört.«

»Ja, das finde ich auch. Es ist seltsam, aber diejenigen, die mich vor meiner Verwundung kannten, behaupten, dass das Chlorgas meine Stimme wohl noch kräftiger gemacht hat. Glauben Sie mir, ich werde nicht zögern, sie gegen die französischen und britischen Kriminellen einzusetzen.«

»Sie sind ein hervorragender Redner, Herr Hitler«, meinte Dietrich Eckart, »und ich glaube, Sie werden für unsere Partei von unschätzbarem Wert sein. Sagen Sie, haben Sie die Kunst der öffentlichen Rede eigentlich gelernt?«

»Nur kurz bei der Reichswehr. Auf Grundlage einiger Stegreifreden vor anderen Soldaten erhielt ich ein paar Stunden Unterricht und dann den Auftrag, zurückgekehrte deutsche Kriegsgefangene über die wichtigsten Gefahren für Deutschland in Kenntnis zu setzen: den Kommunismus, die Juden, den Pazifismus und Ungehorsam. In meiner Militärakte gibt es einen von meinem Kommandanten verfassten Bericht, der mich als ›geborenen Redner‹ bezeichnet. Dem stimme ich zu. Ich besitze eine Begabung, und ich beabsichtige, sie in den Dienst unserer Partei zu stellen.«

Eckart stellte weitere Fragen zu Hitlers Ausbildung und Lesegewohnheiten. Alfred war überrascht, als er hörte, dass er früher Maler gewesen war, und er teilte seine Entrüstung über die Juden, die die Wiener Kunstakademie kontrollierten und ihm die Aufnahme an der Allgemeinen Malerschule verweigert hatten. Sie vereinbarten, bei Gelegenheit einmal gemeinsam zu malen. Als der Abend zu Ende ging und die Gäste sich zum Gehen anschickten, bat Eckart Alfred, noch zu bleiben, da er mit ihm noch einige berufliche Angelegenheiten besprechen wollte. Als sie allein waren, schenkte Eckart sich und ihm einen Brandy ein, ignorierte Alfreds Ablehnung und sagte: »Nun ist er tatsächlich angekommen, Alfred. Ich glaube, wir haben heute Abend die Zukunft Deutschlands gesehen. Er ist grob und ungeschliffen. Viele Defizite, ich weiß. Aber er hat Energie, viel Energie! Und genau die richtige Gesinnung. Stimmst du mir nicht zu?«

Alfred gab sich zurückhaltend: »Ich habe das gleiche Gefühl wie Sie. Aber denken Sie an die Wahlen: Ich könnte mir vorstellen, dass große Teile Deutschlands anderer Meinung sein könnten. Können sich die Leute mit einem Mann verbünden, der noch nie eine Universität von innen gesehen hat?«

»Eine Stimme für jeden Bürger. Wie für Hitler war für die große Mehrheit die Straße die Schule.«

Alfred wagte sich noch weiter vor: »Und doch glaube ich, dass die Größe Deutschlands von unseren großen Söhnen ausging – Goethe, Kant, Hegel, Schiller, Leibniz. Meinen Sie nicht auch?«

»Genau deshalb bat ich dich, noch zu bleiben. Er braucht … wie soll ich sagen?, Schliff, Vollendung. Er liest, aber ausgesprochen selektiv, und wir müssen seine Lücken füllen. Das, Rosenberg, wird unsere Aufgabe sein – deine und meine. Aber wir müssen geschickt und behutsam vorgehen. Ich habe das Gefühl, dass er ausgesprochen stolz ist, und die Herkulesaufgabe, die nun vor uns liegt, wird sein, ihn zu bilden, ohne dass er es merkt.«

Alfred ging mit schweren Schritten nach Hause. Die Zukunft war nun klarer. Ein neues Schauspiel kam auf die Bühne, und obwohl er inzwischen überzeugt war, dass er zur Besetzung gehörte, war die ihm zugedachte Rolle nicht die, die er sich erträumt hatte.





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