24
BERLIN, 1922
»Nun …«, Alfred zögerte. »Es gibt tatsächlich etwas, von dem ich bedauern würde, es nicht mit dir besprochen zu haben, aber … nun ja … ich weiß nicht recht, wie ich es anschneiden soll. Ich konnte schon den ganzen Abend nicht darüber sprechen.«
Friedrich wartete geduldig. Die Worte seines Supervisoren Karl Abraham dröhnten in seinen Ohren: »Wenn Sie sich festgefahren haben, vergessen Sie den Inhalt und konzentrieren Sie sich auf die Resistenz. Sie werden feststellen, dass Sie auf diese Weise sogar mehr über Ihren Patienten erfahren werden.« Dessen eingedenk, begann Friedrich: »Ich glaube, ich kann dir helfen, Alfred. Ich schlage dir Folgendes vor: Vergiss im Augenblick alles, was du mir sagen wolltest, und lass uns stattdessen alle Hindernisse besprechen, die dir im Weg stehen, es auszusprechen.«
»Hindernisse?«
»Alles, was dir im Weg steht, dass du mit mir sprichst. Zum Beispiel, was wären die Auswirkungen, wenn du mir sagst, was du mir sagen möchtest?«
»Auswirkungen? Ich weiß nicht genau, was du meinst.«
Friedrich war geduldig. Er wusste, dass Resistenz taktvoll und von allen Seiten her eingekreist werden musste. »Lass es mich so sagen. Du hast etwas, was du loswerden möchtest, aber du kannst es nicht aussprechen. Welche negativen Folgen könnten sich ergeben, wenn du darüber sprechen würdest? Denke daran, dass ich dabei eine zentrale Rolle spiele. Du versuchst, nicht etwas in einen leeren Raum hinein zu sagen – du versuchst, es mir zu sagen. Richtig?«
Ein zögerndes Nicken von Alfred. Friedrich fuhr fort: »Und nun versuche, dir vorzustellen, dass du mir gerade offenbart hast, was dich beschäftigt. Was glaubst du, wie ich dich einschätzen würde?«
»Ich weiß nicht, wie du reagieren würdest. Vermutlich wäre es mir einfach nur peinlich.«
»Aber um etwas als peinlich zu empfinden, bedarf es einer zweiten Person, und heute bin ich diese Person, jemand, der dich von Kindesbeinen an kennt.« Friedrich war sehr stolz auf seine sanfte Stimme. Dr. Abrahams Schelte, nicht immer wie ein wilder Stier gegen Resistenzen anzupreschen, zeigte Wirkung.
»Nun«, Alfred holte tief Luft und sprang ins kalte Wasser, »zum einen könntest du glauben, dass ich dich ausnutzen wollte, wenn ich dich um Hilfe bitte. Es ist mir peinlich, dich um deine psychologischen Dienste zu bitten, ohne dafür zu bezahlen. Und außerdem gibt es mir das Gefühl, der Schwache zu sein und du der Starke.«
»Das ist ein ausgezeichneter Anfang, Alfred. Genau das meinte ich. Und nun kann ich dein Dilemma nachvollziehen. Das muss dir alles sehr ungleich verteilt vorkommen. Ich würde mich einem anderen gegenüber auch nicht gern so verpflichtet fühlen. Aber andererseits hast du dich schon dadurch erkenntlich gezeigt, dass du einen Zeitungsartikel für mich veröffentlichen willst.«
»Das ist nicht dasselbe. Du bekommst nichts Persönliches.«
»Das verstehe ich. Aber sag mir, glaubst du, dass es mir widerstrebt, dir etwas anzubieten?«
»Ich weiß nicht – vielleicht. Schließlich ist deine Zeit kostbar. Du machst das den ganzen Tag lang gegen Bezahlung.«
»Und wenn ich dir darauf antworte, dass du für mich wie ein Familienmitglied bist: Ist das auch nicht relevant?«
»Stimmt. Ich verstehe das als Besänftigung.«
»Sag mir, wie ist es, wenn wir uns über Spinoza, über Philosophie unterhalten? Ich habe das Gefühl, dass du damit entspannter umgehst.«
»Ja, das ist anders. Obwohl du mir etwas beibringst, habe ich den Eindruck, dass dir philosophische Gespräche Spaß machen.«
»Ja, da hast du Recht. Während ich keinen Spaß daran hätte, dir zuzuhören, wenn du über dich sprichst?«
»Ich kann mir nicht vorstellen, was in aller Welt dir daran Spaß machen sollte.«
»Ich will dir sagen, was ich denke – es ist nur eine Vermutung: Vielleicht hast du dir gegenüber negative Gefühle, und du glaubst, dass ich ebenfalls negativ über dich denke, wenn du dich mir anvertraust?«
Alfred machte ein verwirrtes Gesicht. »Möglich. Kann sein, aber wenn es so ist, ist es nicht der Hauptgrund. Ich kann mir selbst nur einfach nicht vorstellen, für jemand anderen ein solches Interesse aufzubringen.«
»Das hört sich wichtig an, und ich stelle mir vor, dass es ein Risiko ist, mir das zu sagen. Sag, Alfred: Kommt das dem Thema nahe, von dem du bedauern würdest, es heute nicht angesprochen zu haben?«
Alfred grinste breit: »Mein Gott! Du kannst das wirklich gut, Friedrich! Ja, mehr als nahe. Das ist genau das Thema.«
»Erzähl mir mehr darüber.« Friedrich entspannte sich. Nun segelte er in vertrauten Gewässern.
»Also, kurz vor meiner Abreise rief mich mein Chef Dietrich Eckart in sein Büro. Er wollte einfach nur über meine Reise nach Paris sprechen, aber das wusste ich nicht, und das Erste, was er tat, als ich in sein Büro kam, war, mich zu schelten, weil ich ein so besorgtes Gesicht machte. Nachdem er mir versichert hatte, dass ich gute Arbeit leiste, sagte er dann, dass es mir viel besser anstünde, nicht so fleißig zu sein und dafür ein bisschen mehr zu trinken und unverbindlich zu plaudern.«
»Und diese Feststellung traf dich genau an deinem wunden Punkt.«
»Ja, weil es stimmt – das haben mir die Leute auf die eine oder andere Art schon oft gesagt. Und ich sage es mir selbst. Aber ich kann einfach nicht mit Hohlköpfen herumsitzen und über nichts reden.«
Eine Begebenheit kam Friedrich in den Sinn, eine Begebenheit vor fünfundzwanzig Jahren, als er erfolglos versucht hatte, Alfred huckepack zu tragen. Bei ihrem letzten Treffen hatte er Alfred davon erzählt und hinzugefügt: »Ich konnte dich nicht zum Spielen bewegen.« Dass solche Marotten ein Leben lang Bestand hatten, faszinierte Friedrich. Was für eine seltene Gelegenheit, die Entstehung der Persönlichkeitsbildung zu erforschen! Das könnte ein großer, beruflicher Durchbruch sein. Welchem anderen Analytiker bot sich schon jemals die Chance, jemanden zu analysieren, den er schon als Kind gekannt hatte? Und dazu kam noch, dass er die für den Patienten prägenden Erwachsenen kannte: Alfreds Vater, den Bruder und die Ersatzmutter, Tante Cäcilie, ja sogar Alfreds Arzt. Und er war mit dem Milieu vertraut: mit Alfreds Zuhause, dem Spielplatz. Und sie waren zur selben Schule gegangen und hatten dieselben Lehrer gehabt. Wie schade, dass Alfred nicht in Berlin wohnte, sonst hätte er eine umfassende Psychoanalyse mit ihm durchführen können.
»Und genau in diesem Moment, direkt nachdem Dietrich Eckart mir das gesagt hatte«, fuhr Alfred fort, »beschloss ich, dich aufzusuchen. Ich wusste, dass er Recht hat. Erst ein paar Tage vorher hatte ich zufällig mitbekommen, dass zwei Angestellte über mich sprachen und mich als ›Sphinx‹ bezeichneten.«
»Wie hast du das aufgenommen?«
»Mit gemischten Gefühlen. Das waren keine wichtigen Leute, nur Putzpersonal und Lieferanten, und normalerweise kümmere ich mich nicht um die Meinung solcher Leute. Aber in diesem Fall erregten sie meine Aufmerksamkeit, weil sie so Recht hatten. Ich bin verschlossen und unzugänglich, und ich weiß, dass ich diesen Teil von mir ändern muss, wenn ich bei der Nationalsozialistischen Partei erfolgreich sein will.«
»Du sagtest ›gemischte Gefühle‹. Was ist positiv daran, eine Sphinx zu sein?«
»Hmm, so genau weiß ich es auch nicht, vielleicht ist …«
»Warte, unterbrechen wir hier kurz, Alfred. Die Pferde sind mit mir durchgegangen. Das ist unfair dir gegenüber. Ich bombardiere dich mit persönlichen Fragen, und wir haben uns noch nicht einmal darüber verständigt, was wir hier eigentlich machen. Oder, um es mit einem Fachbegriff meines Berufsstandes auszudrücken, wir haben den Rahmen unserer Beziehung noch nicht definiert, stimmt’s?«
Alfred machte ein verwirrtes Gesicht: »Rahmen?«
»Lass uns einfach zurückgehen und eine Vereinbarung treffen, worauf wir eigentlich hinauswollen. Ich stelle die Vermutung an, dass du im Rahmen einer Therapie daran arbeiten möchtest, dich zu ändern. Ist das richtig?«
»Ich weiß nicht, was ›in einer Therapie arbeiten‹ genau heißt.«
»Es ist nichts anderes als das, was du in den letzten zehn Minuten so gut gemacht hast, nämlich offen und ehrlich über deine Anliegen zu sprechen.«
»Ich will auf jeden Fall etwas an mir ändern. Also gut: Ja, ich will eine Therapie. Und ich will auch mit dir arbeiten.«
»Aber eine Veränderung erfordert viele, viele Sitzungen, Alfred. Das heute Abend ist nur ein informelles Einführungsgespräch, und morgen fahre ich zu einer dreitägigen psychoanalytischen Konferenz. Ich denke an die Zukunft. Berlin und München sind weit voneinander entfernt. Wäre es da nicht sinnvoller, wenn du dir einen Psychoanalytiker in München nimmst, den du häufiger aufsuchen kannst? Ich kann dir eine gute Empfehlung …«
Alfred schüttelte heftig den Kopf. »Nein. Kein anderer. Ich kann unmöglich jemandem anderen vertrauen, und in München erst recht niemandem. Ich bin überzeugt, sehr fest überzeugt davon, dass ich eines Tages in diesem Land eine Machtposition ausüben werde. Ich werde meine Feinde haben, und jeder könnte mich ruinieren, der meine Geheimnisse kennt. Ich weiß, dass ich bei dir sicher aufgehoben bin.«
»Ja, bei mir bist du sicher aufgehoben. Nun, dann wollen wir uns einen Terminplan überlegen. Wann könntest du wieder nach Berlin kommen?«
»Das weiß ich nicht genau, aber ich weiß, dass der Völkische Beobachter demnächst als Tageszeitung erscheinen wird und dass wir mehr nationale und internationale Nachrichten bringen werden. In Zukunft werde ich vielleicht häufig nach Berlin kommen können und hoffe, dass ich dich dann zu einer oder zwei Sitzungen aufsuchen kann.«
»Wenn du mir eine gewisse Vorlaufzeit gibst, werde ich mich immer bemühen, mir Zeit für dich zu nehmen. Ich möchte, dass du weißt, dass ich alles, was du sagst, mit absoluter Vertraulichkeit behandeln werde.«
»Da bin ich mir sicher. Das ist das Allerwichtigste für mich, und es hat mich sehr beruhigt, dass du dich geweigert hast, mir irgendetwas Persönliches über deinen Patienten, den Sohn des Kochs, zu erzählen.«
»Und ich kann dir versichern, dass ich auch deine Geheimnisse niemandem erzählen werde, nicht einmal die Tatsache, dass du bei mir in Therapie bist. Das gilt übrigens auch für deinen Bruder. In meinem Fachgebiet ist Vertraulichkeit unerlässlich, und darauf gebe ich dir mein Wort.«
Alfred klopfte sich auf sein Herz und murmelte: »Danke. Vielen Dank.«
»Weißt du«, sagte Friedrich, »vielleicht hast du Recht. Ich glaube, unsere Vereinbarung würde besser funktionieren, wenn sie auf Augenhöhe stattfände. Ich denke, dass ich dir ab dem nächsten Mal das Standardhonorar für eine Analyse berechnen sollte. Ich bin sicher, dass du dir das leisten kannst. Was hältst du davon?«
»Perfekt.«
»Aber nun zurück an die Arbeit. Fahren wir fort. Vor ein paar Minuten, als wir darüber sprachen, dass die Leute dich ›Sphinx‹ genannt haben, sagtest du, du hättest ›gemischte‹ Gefühle. Nun hätte ich gern, dass du ›Sphinx‹ frei assoziierst. Damit meine ich, dass du versuchst, alles, was dir zu ›Sphinx‹ einfällt, zuzulassen und laut zu denken. Es braucht keinen Sinn zu ergeben.«
»Jetzt gleich?«
»Ja, nur ein paar Minuten.«
»Sphinx … Wüste, riesig, geheimnisvoll, mächtig, rätselhaft, vertraut sich niemandem an … gefährlich – die Sphinx erwürgte diejenigen, die ihre Rätselaufgabe nicht lösen konnten.« Alfred hielt inne.
»Mach weiter.«
»Wusstest du eigentlich, dass der griechische Wortstamm so viel wie ›Würger‹ bedeutet oder einer, der zudrückt? Der Begriff ›sphincter‹ für den Schließmuskel ist verwandt mit Sphinx – alle Schließmuskeln des Körpers klemmen irgendetwas … fest … verklemmt.«
»Nun«, fragte Friedrich, »mit ›gemischten Gefühlen‹ meintest du also, dass es dir nicht gefiel, als so still, so unnahbar und verklemmt angesehen zu werden, dass du aber nichts dagegen hattest, als rätselhaft, geheimnisvoll, mächtig, bedrohlich zu gelten?«
»Ja, das stimmt, das stimmt genau.«
»Dann stehen sich vielleicht die positiven Aspekte – dein Stolz darauf, mächtig und geheimnisvoll, ja sogar gefährlich zu sein – und eine ungezwungene Plauderei und Offenheit gegenseitig im Wege. Das bedeutet, dass du eine Wahl hast – entweder zu plaudern und dazuzugehören oder aber geheimnisvoll und gefährlich zu bleiben und ein Außenseiter zu sein.«
»Ich verstehe, worauf du hinauswillst. Es ist komplex.«
»Alfred, wenn ich mich recht erinnere, warst du auch in deiner Jugend ein Außenseiter, stimmt’s?«
»Ich war immer ein Einzelgänger. Hatte nie einen Freundeskreis.«
»Aber du sprachst auch davon, dass du dich mit dem Parteiführer, Herrn Hitler, sehr gut verstehst. Das ist bestimmt ein gutes Gefühl. Erzähl mir von dieser Freundschaft.«
»Ich verbringe viel Zeit mit ihm. Wir trinken Kaffee, wir unterhalten uns über Politik, Literatur und Philosophie. Wir besuchen Kunstgalerien, und letzten Herbst gingen wir einmal auf den Marienplatz – weißt du, wo der ist?«
»Ja, der Platz mitten in München.«
»Richtig. Fantastisches Licht dort! Wir stellten unsere Staffeleien auf und zeichneten stundenlang zusammen. Dieser Tag stach als einer meiner schönsten Tage hervor. Unsere Zeichnungen waren gut; wir lobten uns gegenseitig und stellten Ähnlichkeiten bei unserer Arbeit fest. Wir beide sind ziemlich gut, was architektonische Motive anbelangt, und ziemlich schwach bei menschlichen Figuren. Ich hatte mich immer gefragt, ob meine Unfähigkeit, Menschen zu zeichnen, vielleicht Symbolkraft hat, und war erleichtert, als ich feststellte, dass ihm die gleichen Grenzen gesetzt sind. Bei Hitler hat es ganz bestimmt keine Symbolkraft – niemand kann besser mit Menschen umgehen als er.«
»Hört sich an, als hätte es dir Spaß gemacht. Hast du danach noch einmal mit ihm gezeichnet?«
»Er hat es mir nie wieder vorgeschlagen.«
»Erzähl mir von anderen schönen Erlebnissen mit ihm.«
»Der allerschönste Tag in meinem Leben war vor ungefähr drei Wochen. Hitler ging gemeinsam mit mir einen Schreibtisch für mein neues Büro kaufen. Seine Geldbörse war mit Schweizer Franken vollgestopft – keine Ahnung, wie er an die gekommen ist, und ich frage niemals nach. Ich überlasse es lieber ihm zu entscheiden, was er mir wann erzählt. Eines Vormittags kam er in den Beobachter und sagte: ›Wir gehen einkaufen. Du kannst dir jeden Schreibtisch kaufen, der dir gefällt – und auch das ganze Zeug, was du daraufstellen willst.‹ Und dann zogen wir zwei Stunden lang durch die teuersten Möbelgeschäfte in München.«
»Der schönste Tag deines Lebens – das sagt viel aus. Erzähl mir mehr davon.«
»Zum Teil war es einfach die Begeisterung über das Geschenk. Stell dir vor, da geht einer mit dir los und sagt: ›Kauf dir jeden Schreibtisch, der dir gefällt.‹ Zu jedem Preis. Und dass Hitler sich so viel Zeit für mich genommen hat, war einfach göttlich!«
»Warum ist er so wichtig für dich?«
»Von einem praktischen Standpunkt aus gesehen, ist er inzwischen Parteivorsitzender, und meine Zeitung ist die Parteizeitung. Somit ist eigentlich er mein Chef. Aber ich glaube nicht, dass du das meintest.«
»Nein, ich meinte ›wichtig‹ in einem tieferen, persönlicheren Sinn.«
»Schwer in Worte zu fassen. Hitler hat einfach diese gewisse Ausstrahlung, nicht nur auf mich, sondern auf alle.«
»Er ging mit dir auf eine wunderbare Einkaufstour. Hört sich an, als hättest du dir das auch von deinem Vater gewünscht.«
»Du kanntest ja meinen Vater! Kannst du dir vorstellen, dass er mit mir losgegangen wäre und mir irgendetwas gekauft hätte, und wenn es nur ein Bonbon gewesen wäre? Ja, es stimmt, er hat seine Frau verloren, um seine Gesundheit war es wirklich schrecklich bestellt, und er hatte große Geldprobleme, aber ich habe trotzdem nichts, absolut nichts von ihm bekommen.«
»In diesen Worten schwingen viele Gefühle mit.«
»Alle Gefühle, die du dir denken kannst.«
»Ich kannte ihn. Und ich weiß, dass du von ihm als Vater so gut wie nichts hattest – und natürlich kanntest du nicht einmal deine Mutter.«
»Tante Cäcilie tat, was sie konnte. Ihr gebe ich wirklich keine Schuld – sie hatte ja selbst Kinder. Zu viele Köpfe, die sie streicheln musste.«
»Nun, dann kommt deine große Zuneigung zu Hitler vielleicht ein Stück weit daher, dass er dir den Vater ersetzt, den du nie hattest. Wie alt ist er?«
»Ach, er ist ein paar Jahre älter. Er ist ganz anders als alle, die ich bisher kennen gelernt habe. Im Krieg war er nur Gefreiter, wenn auch hoch dekoriert. Er hat keine finanziellen Mittel, keine Kultur, hat nie eine Universität besucht. Aber trotz allem fasziniert er alle. Nicht nur mich. Die Leute scharen sich um ihn. Alle suchen seine Gesellschaft und seinen Rat. Alle spüren, dass er ein Heilsbringer ist, der Polarstern für die Zukunft Deutschlands.«
»Du hältst dich also für privilegiert, mit ihm zusammensein zu dürfen. Entwickelt sich eure Beziehung zu einer engen Freundschaft?«
»Das ist genau der Punkt – sie entwickelt sich eben nicht. Abgesehen natürlich von diesem ›Schreibtisch-Tag‹. Hitler kommt nie von sich aus auf mich zu. Ich glaube, er mag mich, aber er liebt mich nicht. Er fragt mich nie, ob ich mit ihm essen gehe. Anderen Leuten steht er viel näher. Vorige Woche sah ich, wie er sich mit Hermann Göring ausgesprochen vertraulich unterhalten hat. Sie haben die Köpfe so dicht zusammengesteckt, dass sie sich sogar berührten. Sie hatten sich gerade erst kennengelernt, aber sie lachten und scherzten miteinander, liefen Arm in Arm herum und knufften sich gegenseitig in den Bauch, als wären sie schon ein Leben lang befreundet. Warum passiert mir so etwas nicht?«
»Deine Bemerkung ›Er liebt mich nicht‹ – denk darüber nach. Lass deine Gedanken um diese Worte kreisen. Denk laut nach.«
Alfred schloss die Augen.
»Ich kann dich nicht richtig hören«, sagte Friedrich.
Alfred lächelte. »Liebe. Jemand, der mich liebt. Diese Worte habe ich nur einmal gehört, als ich mit Hilda in Paris war, bevor wir geheiratet haben.«
»Du bist verheiratet! Ja, das hatte ich fast vergessen. Du sprichst so gut wie nie von deiner Frau.«
»Vielleicht sollte ich sagen, ich war verheiratet. Offiziell bin ich es wahrscheinlich immer noch. Sehr kurze Ehe, 1915. Mit Hilda Leesman. Wir waren zwei Wochen zusammen in Paris, wo sie auf die Ballettschule ging, und höchstens drei bis vier Monate in Russland. Dann erkrankte sie schwer an Schwindsucht.«
»Wie schrecklich. Wie dein Bruder, deine Mutter und dein Vater. Was ist dann passiert?«
»Wir haben schon lange keinen Kontakt mehr. Das Letzte, was ich von ihr hörte, war, dass ihre Familie sie in ein Sanatorium im Schwarzwald gebracht hat. Ich bin nicht sicher, ob sie noch lebt. Als du sagtest, ›wie schrecklich‹, gab es mir einen Stich, weil mir das nicht sehr nahe geht. Ich denke nie an sie. Und ich bezweifle, ob sie an mich denkt. Wir haben uns entfremdet. Ich erinnere mich, dass sie kurz vor unserer Trennung zu mir sagte, dass ich mich nie nach ihrem Leben erkundigt hätte, sie nie gefragt hätte, was sie den ganzen Tag macht.«
»Nun«, sagte Friedrich und schaute auf die Uhr, »sind wir wieder genau bei dem Grund, weshalb du mich aufgesucht hast. Wir begannen mit ›kein unbefangenes Plaudern‹, ›kein Interesse an anderen‹. Dann beschäftigten wir uns mit dem Teil von dir, der wie eine Sphinx sein möchte. Dann kehrten wir zu deiner Sehnsucht nach Hitlers Liebe und Zuwendung zurück und dazu, wie enttäuschend es für dich ist zu beobachten, dass er anderen den Vorzug gibt, während du außen vor bleibst und zusehen musst. Und schließlich sprachen wir über deine Distanz zu deiner Frau. Nehmen wir uns einen Augenblick Zeit, um Nähe und Distanz näher zu betrachten. Du sagtest, du fühltest dich hier sicher?«
Alfred nickte.
»Und wie fühlst du dich mir gegenüber?«
»Sehr sicher. Und sehr verstanden.«
»Und du hast den Eindruck, dass du mir nahe bist? Dass du mich magst?«
»Ja, sowohl als auch.«
»Darin liegt heute unsere große Entdeckung. Ich glaube, du magst mich tatsächlich, und ein Hauptgrund dafür liegt darin, dass ich an dir interessiert bin. Ich erinnere mich an deine Bemerkung von vorhin, dass du nicht glaubst, an anderen interessiert zu sein. Doch Menschen mögen nun einmal Menschen, die an ihnen interessiert sind. Das ist die wichtigste Botschaft, die ich heute für dich habe. Ich sage es nochmals: Menschen mögen Menschen, die an ihnen interessiert sind.
Wir haben heute gute Arbeit geleistet. Es ist unsere erste Sitzung, und du bist schon mittendrin. Es tut mir leid, dass ich jetzt Schluss machen muss, aber es war wirklich ein langer Tag, und meine Energie lässt allmählich nach. Ich hoffe wirklich, dass du mich oft besuchen kommst. Ich habe das Gefühl, dass ich dir helfen kann.«
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