Das Spinoza-Problem

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BERLIN, 26. MÄRZ 1923


»Mit baltischen Familien habe ich vielfach Schwierigkeiten gehabt. Sie haben so etwas Negatives und grundsätzlich Überlegenes, wie ich das in meinem Leben sonst nicht kennengelernt habe, vor allem die Fähigkeit, alles zu können.«

Adolf Hitler über Alfred Rosenberg

Lieber Friedrich,

mit Bedauern muss ich meinen bevorstehenden Besuch absagen. Obwohl es jetzt schon das dritte Mal ist, bitte ich Dich, mich nicht fallenzulassen. Mein Wunsch, Dich zu konsultieren, ist wirklich ernst gemeint, aber meine Zeit wird zunehmend in Anspruch genommen. Vergangene Woche forderte Hitler mich auf, Dietrich Eckart als Herausgeber des Völkischen Beobachters nachzufolgen. Hitler und ich sind uns jetzt näher – er ist mit meiner Veröffentlichung der Protokolle der Weisen von Zion sehr zufrieden. Seit einem Monat ist der VB dank der Unterstützung eines generösen Spenders nun eine Tageszeitung und hat mittlerweile eine Auflage von 33000 (übrigens ist die Zeitung jetzt auch an den Zeitungsständen in Berlin erhältlich).

Tagtäglich gibt es von neuen Krisen zu berichten. Tagtäglich hängt die Zukunft Deutschlands buchstäblich in der Schwebe. So müssen wir im Augenblick beispielsweise entscheiden, wie wir mit den Franzosen umgehen, die in das Ruhrgebiet einmarschiert sind, um uns ihre kriminellen Reparationszahlungen abzupressen. Und tagtäglich bringt eine galoppierende Inflation unser ganzes Land an den Rand des Abgrunds. Du wirst es nicht glauben, aber ein US-Dollar, der noch vor einem Jahr vierhundert Mark wert war, ist heute früh bereits zwanzigtausend Mark wert. Du wirst es nicht glauben, aber die Arbeitgeber in München haben angefangen, ihren Arbeitern den Lohn drei Mal täglich auszuzahlen. Ist das in Berlin auch so? Die Frau begleitet ihren Mann zur Arbeit, dort wird ihnen in der Frühe der Lohn ausgezahlt, und sie rennt dann los und kauft fürs Frühstück ein, bevor die Preise steigen. Zu Mittag kommt sie wieder, holt den Lohn ab (der jetzt höher ist) und muss sich wieder sputen, um fürs Mittagessen einzukaufen. Für hunderttausend Mark, für die sie am Vortag noch vier Würste bekam, bekommt sie jetzt nur noch drei. Das Gleiche wiederholt sich dann ein drittes Mal zum Ende des Tages, wenn die Preise wieder gestiegen sind. Sobald dann die Märkte schließen, ist das Geld sicher, bis am nächsten Vormittag die Börse wieder öffnet. Es ist ein Skandal, eine Tragödie.

Und es wird noch schlimmer. Ich glaube, dass wir die größte Hyperinflation aller Zeiten bekommen werden: Alle Deutschen werden verarmen, bis auf die Juden natürlich, die selbstverständlich von diesem Alptraum profitieren. Die Geldschränke in ihren Firmen platzen vor Gold und Fremdwährungen aus allen Nähten.

Mein Leben als Herausgeber ist so hektisch, dass ich das Büro nicht einmal zum Mittagessen verlassen, geschweige denn in den Zug steigen kann, um die zehnstündige, zwanzig Millionen Mark teure Fahrt nach Berlin anzutreten. Bitte lass mich wissen, ob sich Dir irgendwann die Möglichkeit bietet, nach München zu kommen, damit wir uns hier treffen könnten. Dafür wäre ich Dir außerordentlich dankbar. Hast Du jemals daran gedacht, hier in München zu praktizieren? Ich könnte Dir behilflich sein: Denk an die vielen kostenlosen Anzeigen, die ich für Dich schalten könnte.

Dr. Karl Abraham las den Brief und gab ihn dann Friedrich zurück. »Und was wollen Sie ihm antworten?«

»Ich weiß es nicht. Das würde ich gerne heute in meiner Supervisionssitzung diskutieren. Sie erinnern sich an ihn? Ich hatte Ihnen von meinem Gespräch mit ihm vor ein paar Monaten berichtet.«

»An den Herausgeber der Protokolle der Weisen von Zion? Wie könnte ich den vergessen?«

»Seit damals habe ich Herrn Rosenberg nicht mehr getroffen. Nur ein paar Briefe gewechselt. Aber hier habe ich die gestrige Ausgabe seiner Zeitung des Völkischen Beobachters. Sehen Sie sich nur diese Schlagzeile an:

KINDESMISSBRAUCH IN WIENER BORDELL

VIELE JUDEN BETEILIGT

Dr. Abraham warf einen Blick auf die Schlagzeile, schüttelte angewidert den Kopf und fragte: »Und die Protokolle – haben Sie die gelesen?«

»Nur einige Auszüge und ein paar Kritiken, die sie als Fälschung apostrophieren.«

»Eine offensichtliche Fälschung, aber eine gefährliche. Und ich habe keinen Zweifel, dass Ihr Patient Rosenberg das auch wusste. Vertrauenswürdige jüdische Gelehrte in meiner Gemeinde erzählen mir, dass die Protokolle von Sergei Nilus, einem verrufenen russischen Schriftsteller, ausgeheckt wurden, der den Zaren davon überzeugen wollte, dass die Juden Russland zu dominieren versuchten. Nachdem der Zar die Protokolle gelesen hatte, ordnete er eine Reihe blutiger Pogrome an.«

»Nun«, sagte Friedrich, »meine Frage ist: Wie kann ich eine Therapie mit einem Patienten machen, der derart abscheuliche Taten begeht? Ich weiß, dass er gefährlich ist. Wie gehe ich mit meiner Gegenübertragung um?«

»Ich ziehe es vor, Gegenübertragung als die neurotische Reaktion des Therapeuten auf den Patienten zu betrachten. In diesem Fall haben Ihre Gefühle eine rationale Grundlage. Damit wäre die korrekte Frage: ›Wie arbeitet man mit jemandem, der, vom objektiven Standard aus betrachtet, ein widerwärtiger, bösartiger Mensch ist, der viel Unheil anrichten kann?‹«

Friedrich sann über die Worte seines Supervisors nach. »Widerwärtig, bösartig. Starke Worte.«

»Sie haben Recht, Herr Dr. Pfister – das waren meine Begriffe, nicht die Ihren, und ich glaube, Sie spielen richtigerweise auf ein anderes Thema an – die Gegenübertragung des Supervisors –, die mit meiner Fähigkeit, Sie zu unterrichten, kollidieren könnte. Da ich selbst Jude bin, ist es mir unmöglich, diesen hochgefährlichen, antisemitischen Menschen persönlich zu behandeln, aber vielleicht könnte ich Ihnen trotzdem als Supervisor nützlich sein. Erzählen Sie mir mehr über Ihre Gefühle ihm gegenüber.«

»Obwohl ich kein Jude bin, stößt mich sein Antisemitismus persönlich ab. Schließlich sind die Menschen, die mir hier am nächsten stehen, fast alles Juden – mein Analytiker, Sie und die meisten Leute der Fakultät des Instituts.« Friedrich nahm Alfreds Brief zur Hand. »Sehen Sie. Er schreibt voller Stolz über seinen beruflichen Aufstieg und erwartet, dass ich mich darüber freue. Aber ich fühle mich im Gegenteil zunehmend von ihm angegriffen und ängstige mich um Sie, um alle zivilisierten Deutschen. Ich glaube, dass er böse ist. Und sein Idol, dieser Hitler, mag sogar die Inkarnation des Teufels sein.«

»Das ist die eine Seite. Aber in Ihnen gibt es noch eine andere Seite, die ihn gerne wiedersehen möchte. Warum?«

»Es ist das, worüber wir schon einmal diskutiert haben – mein intellektuelles Interesse daran, jemanden zu analysieren, der die gleiche Vergangenheit hat wie ich. Ich kenne seinen Bruder schon mein ganzes Leben lang. Ich kannte Alfred schon, als er noch ein kleines Kind war.«

»Aber, Dr. Pfister, es liegt doch auf der Hand, dass Sie niemals die Gelegenheit haben werden, ihn zu analysieren. Schon allein die Entfernung macht das unmöglich. Bestenfalls treffen Sie ihn in großen, unregelmäßigen Abständen zu einer Sitzung und werden niemals gründliche archäologische Arbeiten in seiner Vergangenheit durchführen können.«

»Richtig. Diese Idee muss ich fallen lassen. Es muss andere Gründe geben.«

»Ich erinnere mich, dass Sie einmal von Ihrem Eindruck einer ausradierten Vergangenheit sprachen. Es gibt nur noch Ihren guten Freund, den Bruder. Ich habe seinen Namen vergessen …«

»Eugen.«

»Ja. Nur Eugen Rosenberg ist übriggeblieben und zu einem viel geringeren Teil Eugens jüngerer Bruder Alfred, mit dem Sie nie eng befreundet waren. Ihre Eltern sind tot, es gibt keine Geschwister, Sie haben keine anderen Verbindungen zu Ihrem früheren Leben – weder Menschen noch Orte. Mir scheint, Sie wollen das Älterwerden oder die Vergänglichkeit leugnen, indem Sie nach etwas Unvergänglichem suchen. Damit beschäftigen Sie sich doch hoffentlich in Ihrer persönlichen Analyse?«

»Noch nicht. Aber Ihre Bemerkungen sind hilfreich. Ich kann die Zeit nicht dadurch anhalten, dass ich mich an Eugen oder Alfred klammere. Ja, Dr. Abraham, Sie stellen klar, dass meine Treffen mit Alfred meinen inneren Konflikten in keiner Weise dienlich sind.«

»Das ist so wichtig, Dr. Pfister, dass ich es wiederhole: Ihre Treffen mit Alfred Rosenberg sind Ihren inneren Konflikten in keiner Weise dienlich. Das richtige Forum dafür ist Ihre eigene Analyse. Richtig?«

Friedrich nickte resigniert.

»Deshalb frage ich Sie noch einmal: Warum wollen Sie sich mit ihm treffen?«

»Ich weiß es nicht genau. Ich stimme Ihnen zu, dass er ein gefährlicher Mann ist, der Hass verbreitet. Und dennoch sehe ich in ihm immer noch den kleinen Nachbarjungen und nicht den Mann, der böse ist. Ich betrachte ihn als fehlgeleitet, nicht als dämonisch. Er glaubt tatsächlich an diesen rassistischen Unsinn, und seine Gedanken resultieren in vollkommen konsequenter Weise aus den Vorgaben Houston Stewart Chamberlains. Ich glaube nicht, dass er ein Psychopath, ein Sadist oder ein gewalttätiger Mensch ist. Er ist eigentlich eher schüchtern, fast feige und unsicher. Er kann zu anderen nur sehr schlecht Beziehungen aufbauen und ist vollkommen auf die Hoffnung festgelegt, die Zuneigung seines Führers Hitler zu gewinnen. Aber dennoch scheint er sich seiner Grenzen bewusst zu sein und ist erstaunlicherweise zu therapeutischer Arbeit bereit.«

»Dann sind Ihre Therapieziele also …«

»Vielleicht bin ich naiv, aber ist es nicht so, dass er weniger Unheil auf der Welt anrichten wird, wenn es mir gelänge, ihn zu einer moralischeren Person zu verändern? Das ist bestimmt besser, als gar nichts zu tun. Vielleicht kann ich ihm ja sogar helfen, die Macht und die Irrationalität seines Antisemitismus wahrzunehmen.«

»Nun, falls Sie den Antisemitismus erfolgreich analysieren könnten, würden Sie dafür den Nobelpreis bekommen, der Freud bislang versagt blieb. Haben Sie eine Vorstellung, wie Sie das angehen würden?«

»Noch nicht – noch ist es in weiter Ferne, und mit Sicherheit ist es mein Ziel und nicht das des Patienten.«

»Und sein Ziel? Was will er?«

»Sein ausdrückliches Ziel ist es, einen effektiveren Zugang zu Hitler und zu den anderen Parteimitgliedern zu bekommen. Ich müsste etwas Erhabeneres als das hineinschmuggeln.«

»Sind Sie ein guter Schmuggler?«

»Blutiger Anfänger, würde ich sagen, aber ich habe eine Idee. Ich hatte Ihnen gegenüber erwähnt, dass ich ihm geholfen habe, sich in Spinoza einzulesen. Nun, im vierten Teil der Ethik, in dem Abschnitt, in dem es darum geht, die menschliche Unfreiheit abzustreifen, gibt es eine Passage, die meine Aufmerksamkeit erweckte. Spinoza sagt, dass die Vernunft der Leidenschaft nicht Paroli bieten kann und wir deshalb die Vernunft zu einer Leidenschaft machen müssen.«

»Hmm, interessant. Und wie wollen Sie das anstellen?«

»Ich habe keine präzise Methode parat. Aber ich weiß, dass ich seine Neugier auf sich selbst wecken muss. Hat nicht jeder ein intensives Interesse an sich selbst? Möchte nicht jeder alles über sich selbst wissen? Bei mir jedenfalls ist es so. Ich werde mich bemühen, Alfreds Neugier auf sich selbst anzufachen.«

»Ein interessanter Weg, die Therapie zu umreißen, Dr. Pfister. Ein origineller Weg. Wollen wir hoffen, dass er mitspielt, und ich werde tun, was ich kann, um bei der Supervision behilflich zu sein. Aber ich frage mich, ob Ihre Argumentation nicht irgendwo eine Schwachstelle hat.«

»Und welche?«

»Übergeneralisierung. Therapeuten sind anders. Wir sind komische Vögel. Die meisten anderen Menschen haben nicht wie wir diese leidenschaftliche Neugier auf die Seele. Bis jetzt höre ich, dass sein Ziel sich von dem Ihren eklatant unterscheidet: Was er möchte, ist, für seine Kumpane ein liebenswerterer Mensch zu werden. Unterschätzen Sie also nicht die Gefahr, dass eine Therapie für jeden Beteiligten auch alles verschlimmern könnte. Ich will es konkreter ausdrücken: Wenn Sie es tatsächlich schaffen, Rosenberg so zu ändern, dass Hitler ihm mehr Zuneigung entgegenbringt, dann haben Sie nur seine Bösartigkeit effektiver gemacht.«

»Ich verstehe. Meine Aufgabe ist es, ihn dazu zu bringen, ein anderes, ziemlich gegensätzliches Ziel anzustreben, nämlich sein verzweifeltes und irrationales Bedürfnis nach Hitlers Zuneigung zu verstehen und abzubauen.«

Dr. Abraham lächelte seinen jungen Schüler an. »Ganz genau. Mir gefällt Ihr Enthusiasmus, Friedrich. Wer weiß? Vielleicht gelingt es Ihnen ja. Nun, dann wollen wir uns darum bemühen, Sie zu der einen oder anderen Fachkonferenz nach München zu schicken. Bei dieser Gelegenheit könnten Sie dann ein paar Therapiestunden mit ihm vereinbaren.«

Bayreuth, Oktober 1923

Trotz seiner beruflichen Belastungen machte Alfred sein Vorhaben wahr, Houston Stewart Chamberlain zu besuchen. Er konnte Hitler mühelos davon überzeugen, ihn zu begleiten. Auch Hitler war von Chamberlains Werk Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts begeistert und sollte zum Ende seines Lebens behaupten, dass Chamberlain (neben Dietrich Eckart und Richard Wagner) seine vorrangigen intellektuellen Mentoren gewesen waren.

Chamberlain lebte mit seiner Frau Eva (Wagners Tochter) und Cosima, Wagners sechsundachtzig Jahre alter Witwe, in Wahnfried, Evas klobigem, altem Elternhaus in Bayreuth. Die zweihundertvierzig Kilometer lange Fahrt nach Bayreuth gestaltete sich für Alfred höchst angenehm. Es war sein erster Ausflug in Hitlers nagelneuem Mercedes und eine Gelegenheit, mehrere Stunden lang Hitlers ungeteilte Aufmerksamkeit zu genießen.

Ein Dienstbote hieß sie willkommen und führte sie die Treppe hinauf, wo Chamberlain sie in seinem Rollstuhl erwartete. Eine Decke mit blau-grünem Schottenkaro lag akkurat über seinen Beinen, und er schaute zum großen Fenster hinaus, das auf den Innenhof hinausging. Er litt an einer mysteriösen Nervenkrankheit, die ihn teilweise lähmte und unfähig machte, sich deutlich zu artikulieren. Chamberlain sah viel älter aus als die siebzig Jahre, die er war: Seine Haut war fleckig, seine Augen leer, die eine Hälfte des Gesichts krampfartig verzerrt. Den Blick fest auf Hitlers Gesicht geheftet, nickte Chamberlain von Zeit zu Zeit; anscheinend verstand er Hitlers Worte. Rosenberg würdigte er keines Blickes. Hitler beugte sich vor, brachte den Mund nahe an Chamberlains Ohr und sagte: »Ich schätze Ihre Gedanken in Ihrem bedeutenden Werk Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts, wonach die germanische Rasse sich mit den Juden in einem Kampf auf Leben und Tod befindet, der nicht nur mit Kanonenkugeln, sondern im Herzen der Gesellschaft durch Ehen und so fort ausgefochten wird.« Chamberlain nickte, und Hitler fuhr fort: »Herr Chamberlain, ich verspreche Ihnen, dass ich der Mann bin, der diesen Krieg für Sie wagt.« Dann erläuterte er in epischer Breite sein Fünfundzwanzig-Punkte-Programm und seine durch nichts zu erschütternde Entschlossenheit, ein judenfreies Europa zu erreichen. Chamberlain nickte heftig und krächzte von Zeit zu Zeit: »Ja, ja.«

Später, als Hitler den Raum zu einer privaten Audienz bei Cosima Wagner verlassen hatte, blieb Rosenberg mit Chamberlain allein und erzählte ihm, dass er im Alter von sechzehn Jahren genau wie Hitler von den Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts verzaubert gewesen war und auch er Chamberlain sein Leben lang zu Dank verpflichtet sei. Dann beugte er sich, wie zuvor Hitler, nahe an Chamberlains Ohr und vertraute ihm an: »Ich beginne gerade, ein Buch zu schreiben, das, wie ich hoffe, Ihre Arbeit ins nächste Jahrhundert weiterführen wird.« Vielleicht lächelte Chamberlain – sein Gesicht war so verzerrt, dass es schwer zu sagen war. Alfred fuhr fort: »Ihre Ideen und Ihre Worte werden sich auf allen Seiten meines Buches finden. Ich habe gerade, erst angefangen. Es wird ein Fünfjahresprojekt werden – es ist noch so viel zu tun. Ich habe jedoch gerade einen Abschnitt für den Schluss geschrieben: ›Und die heilige Stunde des Deutschen wird dann eintreten, wenn das Symbol des Erwachens, die Fahne des aufsteigenden Lebens, das allein herrschende Bekenntnis des Reiches geworden ist.‹« Chamberlain grunzte. Vielleicht sagte er: »Ja, ja.«

Alfred lehnte sich im Stuhl zurück und sah sich um. Hitler war noch immer nicht in Sicht. Alfred beugte sich wieder zu Chamberlains Ohr: »Verehrter Lehrmeister, ich brauche Ihre Hilfe in einer Angelegenheit. Es geht um das Spinoza-Problem. Sagen Sie mir, wie es möglich ist, dass dieser Jude aus Amsterdam Werke schrieb, die von den größten deutschen Denkern, unter ihnen auch der unsterbliche Goethe, so sehr geschätzt wurden. Wie ist so etwas möglich?« Chamberlain zuckte erregt mit dem Kopf und artikulierte verworrene Geräusche, von denen Rosenberg nur »Ja, Ja« heraushören konnte. Kurz danach sackte Chamberlain zusammen und schlief tief und fest.

Auf der Heimfahrt sprachen die beiden Männer wenig über Chamberlain, denn Alfred hatte ein anderes Anliegen: Er wollte Hitler davon überzeugen, dass es nun an der Zeit sei, dass die Partei in Aktion trete. Alfred erinnerte Hitler an die grundlegenden Fakten: »Das Chaos hat ganz Deutschland erfasst«, sagte Alfred. »Die Inflation gerät außer Kontrolle. Vor vier Monaten war ein Dollar noch fünfundsiebzigtausend Mark wert, und gestern waren es hundertfünfzig Millionen Mark. Gestern hat ein Pfund Kartoffeln bei meinem Krämer um die Ecke neunzig Millionen Mark gekostet. Und ich bin mir völlig sicher, dass die Wertpapiermaschinen in Kürze Eine-Trillion-Mark-Scheine drucken werden.«

Hitler nickte müde. Das alles hatte er schon mehrmals von Alfred gehört.

»Und überall um uns herum gibt es Staatsstreiche«, fuhr Alfred fort. »Der Putsch der Kommunisten in Sachsen, der Putsch der Reservisten der Reichswehr in Ostpreußen, der Kapp-Putsch in Berlin, der Staatsstreich der rheinischen Separatisten. Aber das eigentliche Pulverfass, das zu explodieren droht, ist München und ganz Bayern. In München tummeln sich unzählige Parteien des rechten Flügels, die sich gegen die Regierung in Berlin stellen. Aber von denen sind wir bei weitem die stärkste, die mächtigste und die am besten organisierte Partei. Jetzt ist unsere Zeit gekommen! Ich heize die Stimmung des Volkes mit immer neuen Artikeln in unserer Zeitung an und bereite sie auf eine große Aktion der Partei vor.«

Hitler schien noch immer unsicher. Alfred drängte ihn: »Ihre Zeit ist gekommen. Sie müssen jetzt handeln, oder Sie verpassen diese einmalige Chance.«

Als der Wagen am Bürogebäude des Völkischen Beobachters anhielt, sagte Hitler nur: »Viel nachzudenken, Rosenberg.«

Ein paar Tage später besuchte Hitler Alfred in seinem Büro und wedelte grinsend mit einem Brief vor seiner Nase, den er von Houston Stewart Chamberlain erhalten hatte. Er las ihn ihm auszugsweise vor:

»7. Oktober 1923

Sehr geehrter und lieber Herr Hitler.

Sie haben alles Recht, diesen Überfall nicht zu erwarten, haben Sie doch mit eigenen Augen erlebt, wie schwer ich Worte auszusprechen vermag. Jedoch ich vermag dem Drange, einige Worte mit Ihnen zu sprechen, nicht zu widerstehen.

Es hat meine Gedanken beschäftigt, wieso gerade Sie, der Sie in so seltenem Grade ein Erwecker der Seelen aus Schlaf und Schlendrian sind, mir einen so langen erquickenden Schlaf neulich schenkten, wie ich einen ähnlichen nicht erlebt habe seit dem verhängnisvollen Augusttag 1914, wo das tückische Leiden mich befiel. Jetzt glaube ich einzusehen, daß dies grade Ihr Wesen bezeichnet und sozusagen umschließt: der wahre Erwecker ist zugleich Spender der Ruhe …

Daß Sie mir Ruhe gaben, liegt sehr viel an Ihrem Auge und an Ihren Handgebärden. Ihr Auge ist gleichsam mit Händen begabt, es erfaßt den Menschen und hält ihn fest, und es ist Ihnen eigentümlich, in jedem Augenblicke die Rede an einen Besonderen unter Ihren Zuhörern zu richten. Und was die Hände anbetrifft, sie sind so ausdrucksvoll in ihren Bewegungen, daß sie hierin mit Augen wetteifern. Solch ein Mann kann schon einem armen geplagten Geist Ruhe spenden! Und nun gar, wenn er dem Dienste des Vaterlandes gewidmet ist.

Mein Glauben an das Deutschtum hat nicht einen Augenblick gewankt, jedoch hatte mein Hoffen – ich gestehe es – eine tiefe Ebbe erreicht. Sie haben den Zustand meiner Seele mit einem Schlage umgewandelt. Daß Deutschland in der Stunde seiner höchsten Not sich einen Hitler gebiert, das bezeugt sein Lebendigsein; desgleichen die Wirkungen, die von ihm ausgehen; denn diese zwei Dinge – die Persönlichkeit und ihre Wirkung – gehören zusammen.

Ich durfte billig einschlafen und hätte auch nicht nötig gehabt, wieder zu erwachen. Gottes Schutz sei bei Ihnen!

Houston Stewart Chamberlain.«

»Er muss seine Sprache wiedergefunden und ihn diktiert haben – ein wunderbarer Brief«, sagte Alfred, der sich bemühte, seinen Neid nicht zu zeigen. Dann fügte er schnell hinzu: »Und vollkommen verdient, Herr Hitler.«

»Jetzt muss ich Ihnen aber wirklich ein paar Neuigkeiten erzählen«, sagte Hitler. »Erich Ludendorff hat sich uns angeschlossen!«

»Ausgezeichnet! Ausgezeichnet!«, antwortete Alfred. Ludendorff war, um es milde auszudrücken, exzentrisch, aber als Generalfeldmarschall im Weltkrieg noch immer allgemein angesehen.

»Er stimmt meinem Plan eines Putsches zu«, fuhr Hitler fort. »Er ist einverstanden, dass wir unsere Kräfte mit anderen rechten Gruppierungen bündeln, sogar mit den monarchistischen Gruppierungen und den bayerischen Separatisten, und dass wir die Zusammenkunft am Abend des achten November auflösen, mehrere bayerische Regierungsmitglieder in unsere Gewalt bringen und sie mit vorgehaltener Waffe zwingen, mich als ihren Führer anzuerkennen. Am darauffolgenden Tag werden wir alle durch das Stadtzentrum zum Kriegsministerium marschieren und mit Hilfe der Geiseln und der Reputation des Feldmarschalls Ludendorff die deutsche Armee auf unsere Seite bringen. Und dann werden wir uns Mussolinis Marsch nach Rom zum Vorbild nehmen, ins rote Berlin einmarschieren und die deutsche demokratische Regierung absetzen.«

»Ausgezeichnet! Jetzt geht es los.« Alfred war so glücklich, dass es ihm kaum etwas ausmachte, dass Hitler anscheinend vergessen hatte, dass es Alfred gewesen war, der ihm genau diesen Plan vorgeschlagen hatte. Er war daran gewöhnt, dass Hitler sich seine Ideen zu eigen machte, ohne ihn als Urheber zu nennen.

Aber alles lief schief. Der Putsch war ein komplettes Fiasko. Am Abend des achten November gingen Hitler und Alfred gemeinsam zum Treffen der Koalition der Parteien des rechten Flügels. Diese Parteien hatten noch nie zusammen getagt, und das Treffen lief so aus dem Ruder, dass Hitler irgendwann auf den Tisch sprang und mit seiner Pistole in die Zimmerdecke feuerte, um die Ordnung wiederherzustellen. Dann brachten die Nazis die Delegierten der bayerischen Regierung in ihre Gewalt, um sie als Geiseln zu nehmen. In dem Glauben, die Geiseln von ihrer nationalistischen Auffassung überzeugt zu haben, versäumten es die Entführer, sie ordentlich zu bewachen, und so entkamen sie bei Nacht und Nebel. Dennoch willigte Hitler ein, als Ludendorff darauf beharrte, am folgenden Morgen mit dem Massenaufmarsch fortzufahren, um, wie sie hofften, unter der Bevölkerung einen Aufstand zu provozieren. Ludendorff war sich sicher, dass weder die Reichswehr noch die Polizei es wagen würden, auf ihn zu schießen. Rosenberg eilte ins Büro zurück und bereitete die Schlagzeilen des VB vor, welche zu einem allgemeinen Aufstand aufriefen. Früh am Morgen des neunten November 1923 begann eine Kolonne von zweitausend Mann, viele bewaffnet, unter ihnen auch Hitler und Rosenberg, den Marsch in die Münchner Innenstadt. In der ersten Reihe marschierten Hitler, Feldmarschall Ludendorff mit vollem militärischen Ornat und seinem Pickelhelm aus dem Weltkrieg, ferner Hermann Göring, der volkstümliche Held des Krieges mit seiner kompletten Sammlung von Kriegsorden, sowie Scheubner-Richter, der Arm in Arm mit seinem guten Freund Hitler marschierte. Rosenberg befand sich in der zweiten Reihe direkt hinter Hitler. Rudolf Hess marschierte hinter Rosenberg, desgleichen Putzi Hanfstaengl (der Geldgeber, der es dem VB ermöglicht hatte, als Tageszeitung zu erscheinen). Ein paar Reihen weiter hinten marschierte Heinrich Himmler, der die Parteifahne trug.

Als sie einen offenen Platz erreichten, warteten dort schon die Truppen auf sie. Hitler rief ihnen zu, sich zu ergeben. Doch diese eröffneten stattdessen das Feuer, und es entspann sich ein dreiminütiger Schusswechsel, in dessen Verlauf sich die Demonstration sofort auflöste. Sechzehn Nationalsozialisten und drei Mitglieder der Truppe fanden den Tod. Unbeeindruckt von der Barrikade marschierte Ludendorff einfach weiter und stieß die Gewehre beiseite. Ein Offizier salutierte höflich vor ihm und entschuldigte sich dafür, dass er ihn in Schutzhaft nehmen müsse. Göring hatte zwei Schüsse in die Leiste abbekommen, schleppte sich aber in Sicherheit und wurde zu einem freundlichen jüdischen Arzt gebracht, der ihm eine hervorragende Behandlung angedeihen ließ, woraufhin er schleunigst außer Landes gebracht wurde. Scheubner-Richter, der Arm in Arm mit Hitler marschiert war, wurde auf der Stelle getötet, riss Hitler mit zu Boden und renkte ihm dabei die Schulter aus. Ein Leibwächter, Ulrich Graf, fiel über Hitler, steckte mehrere Schüsse ein und rettete Hitlers Leben.

Obwohl der Mann, der direkt neben Alfred stand, den Tod fand, blieb er selbst unverletzt, kroch zum Bürgersteig und aus dem Gemetzel heraus und mischte sich in die Menge. Er wagte es nicht, nach Hause oder ins Büro zu gehen – die Regierung schloss den VB sofort für unbestimmte Zeit und stellte Wachen vor die Büros der Zeitung. Schließlich überredete Alfred eine ältere Frau, ihm für die nächsten Tage Unterschlupf in ihrem Haus zu gewähren. Des Nachts schlich er jedoch durch München und versuchte, etwas über das Schicksal seiner Kameraden zu erfahren. Hitler war unter großen Schmerzen ein paar Meter weit gekrochen, wurde in ein wartendes Auto gezerrt und, begleitet von einem Arzt der Partei, zum Haus Putzi Hanfstaengls gebracht, wo seine Schulter behandelt und er dann auf dem Dachboden versteckt wurde. Kurz vor seiner Festnahme schrieb er schnell eine Nachricht an Alfred und bat Frau Hanfstaengl, sie zu überbringen. Sie fand Alfred am folgenden Tag und reichte ihm die Nachricht, die er sofort aufriss und mit großer Überraschung las:

LIEBER ROSENBERG,

VON JETZT AB WERDEN SIE DIE BEWEGUNG FÜHREN.

ADOLF HITLER





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