Jetzt zucke ich mit den Schultern. ?Es ist besser so. Ich bin immer noch so wütend auf ihn. Dass er uns nicht gesagt hat, was mit Mum passiert ist, werden Lydia und ich ihm unser ganzes Leben lang nicht vergessen.?
?Ich habe mich noch nie geprügelt, aber ich glaube, ich w?re auch auf ihn losgegangen.?
Bei der Vorstellung muss ich fast grinsen. Leider vergeht der Impuls schnell wieder. ?Mich nervt, wie er mit Lydia umgeht?, sage ich ernst. ?Gerade jetzt, wo sie mit so vielen Sachen auf einmal klarkommen muss.?
?Was macht er denn??, fragt sie stirnrunzelnd.
?Er gibt ihr immer das Gefühl, dumm zu sein, was mich tierisch aufregt. Dass sie ebenfalls in Oxford genommen wurde, hat er nicht mal richtig zur Kenntnis genommen.?
Ruby verzieht die Mundwinkel missbilligend. ?Alles, was du mir über ihn erz?hlst, macht mich rasend. Kein Wunder, dass du dich freust, wenn er nicht zu Hause ist.?
Normalerweise hasse ich solche Gespr?che. In der Regel lenke ich vom Thema ab oder weiche aus, doch mit Ruby fühlt es sich ganz normal an, auf dem Bett zu sitzen und über meine famili?ren Probleme zu sprechen.
Ich glaube, hieran k?nnte ich mich gew?hnen.
?Was denkst du??, fragt Ruby unvermittelt.
Ich kann nur den Kopf schütteln. In meinem Hals ist ein Klo?, der nicht verschwinden will, egal, wie oft ich versuche, meine Stimme zu kl?ren.
?James?? Ruby klingt unsicher.
?Ich bin einfach froh, dass ich hier sein darf?, kr?chze ich.
Im n?chsten Moment rutscht Ruby ein Stück n?her an mich heran. Sie legt ihre Hand auf meine, und ich verschr?nke unsere Finger miteinander.
?Ich bin auch froh, dass du hier bist?, flüstert sie, und mein ganzer K?rper wird von W?rme durchflutet.
?Ich werde so schnell auch nicht mehr gehen?, erkl?re ich, den Blick auf unsere H?nde gerichtet. ?Stell dich schon mal drauf ein.?
Ruby
James und ich haben noch ungef?hr zehn ungest?rte Minuten, bevor Ember übertrieben laut an die Tür klopft und uns Cookies von unten bringt, mit denen Mum sie hochgeschickt hat. James springt vom Bett auf, als h?tte ihn eine Tarantel gestochen. Als sie wieder verschwindet, l?sst meine Schwester die Tür mit einem bedeutungsschweren Blick sperrangelweit offen stehen, woraufhin ich nur die Augen verdrehe. James und ich haben uns nur unterhalten und sind nicht nackt übereinander hergefallen.
Wenn Mum das allen Ernstes denkt, dann … wei? ich auch nicht, was ich davon halten soll.
James, der nach Embers Abgang unschlüssig in der Mitte des Zimmers verharrt, deutet auf die Bücher auf meinem Schreibtisch. ?Bis wann musst du die durchgearbeitet haben??, fragt er.
Ich seufze. ?Eigentlich h?tte ich fast alles davon schon lesen müssen. Ich h?nge wegen der Gala total hinterher.?
?Okay?, murmelt James und h?lt Der Utilitarismus von John Stuart Mill hoch. ?Das hier hat nur knapp über hundert Seiten, und ich habe schon reingelesen. Wir k?nnten es zusammen durchgehen, wenn du magst.?
Ich blinzle. ?Du m?chtest Schulkram mit mir machen??
?Klar?, sagt er und deutet auf den Schreibtisch. ?Hast du noch einen zweiten Stuhl??
Ich bin so perplex, dass mir einen Moment lang die Worte fehlen.
Schlie?lich nicke ich und rutsche vom Bett. ?Bin sofort wieder da. Rühr dich nicht vom Fleck.?
Ich sprinte in Embers Zimmer. Sie sitzt auf dem Boden vor ihrem Bett, den Rücken gegen das Gestell gelehnt und ihren Laptop auf dem Scho?. Als sie mich sieht, tritt ein vielsagendes Grinsen auf ihre Lippen, und sie zieht sich die Kopfh?rer vom Kopf.
?Naaa??, fragt sie gedehnt. Anscheinend hat sie mit unserer Diskussion vom Morgen gedanklich abgeschlossen – oder ist einfach zu neugierig, als dass sie mir in diesem Moment die kalte Schulter zeigen k?nnte.
?Kann ich mir deinen Stuhl leihen??, frage ich.
Embers Grinsen wird noch breiter. ?Natürlich darfst du dir meinen Stuhl leihen.?
Ich ignoriere ihren anzüglichen Tonfall und schiebe den Schreibtischstuhl in mein Zimmer. James hat inzwischen vor meinem Tisch Platz genommen, Der Utilitarismus liegt aufgeschlagen vor ihm.
?Bist du sicher, dass du Lektüre mit mir durcharbeiten m?chtest??, frage ich, als ich mich neben ihn setze.
Er blickt auf, und ein kleines L?cheln macht sich auf seinen Lippen breit. ?Ich m?chte alles mit dir tun, was du mich tun l?sst, Ruby.? Beinahe im selben Moment, in dem die Worte seinen Mund verlassen haben, zieht er eine Grimasse. ?Das … kam irgendwie falsch raus.?
Eine R?te breitet sich auf James’ Gesicht aus, und auch meine Wangen werden warm. Ich wende den Blick ab und bl?ttere zur ersten Seite des Buchs, dann r?uspere ich mich. ?Brauchst du einen Notizblock??
James neben mir nickt sofort. ?Ja. Danke.?
Und in den n?chsten zwei Stunden nehmen wir tats?chlich Der Utilitarismus zusammen durch. Zwar f?llt es mir anfangs schwer, mich zu konzentrieren – zum einen, weil James neben mir sitzt, und zum anderen, weil meine Gedanken wie wild in meinem Kopf toben –, aber nach einer Weile verstehe ich die Theorie und beginne, meine eigene Meinung über das Thema zu formen. James und ich diskutieren über die Thesen des jeweils anderen, und wieder einmal f?llt mir auf, wie verdammt intelligent er ist. Auch wenn er keine Lust auf Oxford hat – ich glaube, wenn er das Studium antritt, wird er es allen zeigen.
Als wir fertig sind und ich ein letztes Stichwort in meinem neuen Booklet farbig markiert habe, lehne ich mich mit einem Seufzen zurück.
?Und jetzt??, fragt James.
Ich runzle die Stirn. ?Was meinst du??
?Na ja. Wenn ich mir den Kopf so vollgestopft habe, muss ich mich immer mit irgendwas ablenken, bevor ich weitermachen kann?, erkl?rt er.
?Was machst du dann??, frage ich neugierig. Wie merkwürdig, dass ich James’ dunkelste Geheimnisse kenne, aber so gut wie nichts darüber wei?, wie sich sein allt?gliches Leben gestaltet.
?Sport meistens.? James zuckt mit den Schultern. ?Manchmal schaue ich mir auch Videos von Reise-Bloggern an.?
Als ich nichts erwidere, sieht er mich mit hochgezogenen Brauen an. ?Du hast doch sicher auch irgendetwas, um den Kopf wieder frei zu bekommen.?
Ich z?gere einen Moment. ?Ja, schon. Aber es ist wirklich merkwürdig. Du darfst mich nicht komisch finden.?
James’ Mundwinkel zucken. ?Ich bin so gespannt, was jetzt kommt.?