Jetzt blickt sie auf. ?Was??
Ich halte die Luft an, als ich energisch auf meinen Laptop deute. Mums Blick folgt meinem Finger. Ihre Augen huschen über den Bildschirm. Sie h?lt inne und sieht zu mir, dann wieder zurück. Im n?chsten Moment schl?gt sie sich die Hand vor den Mund. ?Nein?, st??t sie ged?mpft aus.
Ich nicke. ?Doch, ich glaube schon.?
?Nein!?
?Doch!?
Mum springt auf und f?llt mir um den Hals. ?Ich bin so stolz auf dich!?
Ich schlinge die Arme um meine Mutter und schlie?e die Augen. Ich versuche, das zu machen, was ich als Kind immer getan habe: Ich konzentriere mich ganz fest darauf, mich für immer an diesen Moment zu erinnern. Ich pr?ge mir Mums Geruch ein, das Ger?usch des Ofens, den Duft von frisch gebackenen Scones und die unermessliche Freude, die mich durchflutet, als ich realisiere, dass mein allergr??ter Traum gerade in greifbare N?he gerückt ist.
?Ich freue mich so?, murmle ich an ihrer Schulter.
Mum streichelt meinen Rücken. ?Du hast es verdient, Ruby.?
?Ich muss mich nach Stipendien umsehen?, sage ich, ohne sie loszulassen.
Ihre Umarmung wird noch fester. ?Das sind Gedanken für sp?ter. Nicht für jetzt. Jetzt –?
Sie wird vom Klingeln der Haustür unterbrochen.
?Machst du auf??, fragt sie und l?st sich von mir. ?Ember hat bestimmt ihren Schlüssel vergessen. Dann kannst du ihr gleich die tollen Neuigkeiten verraten.?
Ich nicke und biege so eilig in den Flur ab, dass der Teppich über den Holzboden rutscht und ich mir die Schulter an der Garderobe sto?e. Doch selbst das kann mich nicht daran hindern, die Tür mit einem Strahlen aufzurei?en …
… das augenblicklich zu Eis gefriert.
James steht vor meiner Haustür. Er ist gerade dabei, sich mit einer Hand durchs Haar zu fahren, und erstarrt ebenso wie ich mitten in der Bewegung. Seine Wangen sind leicht ger?tet, und sein Atem bildet kleine W?lkchen in der eisigen Winterluft. Er tr?gt einen grau karierten Anzug mit schwarzer Krawatte. Anscheinend ist er gerade von einem wichtigen Termin gekommen oder auf dem Weg dahin.
Ich will ihm die Tür vor der Nase zuschlagen.
Gleichzeitig m?chte ich ihm um den Hals fallen.
Vielleicht ist es gut, dass ich nicht dazu imstande bin, irgendetwas zu tun. Ich starre ihn nur an, w?hrend ich spüre, wie mein Herzschlag bei seinem Anblick immer schneller wird.
?Ich …?, f?ngt er an, aber seine Stimme erstirbt.
Ich erinnere mich an den Tag, an dem er unter dem Vorwand, mir das Kleid für die Halloween-Party zu bringen, hergekommen ist. Damals hat er vor meinen Augen einen ?hnlichen Kampf gegen sich selbst geführt – die Gefühle wollen aus seinem Inneren ins Freie gelassen werden, aber irgendwie schafft er es nie, das zuzulassen.
?Ich kann nicht mehr, Ruby?, platzt es pl?tzlich aus ihm raus. Kopfschüttelnd sieht er zu mir hoch. ?Ich kann nicht mehr.?
Er klingt gebrochen und müde. Traurig und zerrüttet. Als w?re irgendetwas passiert, von dem es kein Zurück mehr gibt.
Es ist eindeutig, dass er gerade nicht allein sein kann. Doch gleichzeitig ?rgere ich mich darüber, dass er hier ist. Ich bin die letzte Person, zu der er gehen sollte, wenn er Probleme hat. Wieso macht er mir diesen Moment kaputt? Ich habe gerade meine Zusage für Oxford bekommen, verdammt. Ich sollte tanzend durchs Haus rennen, statt mich von seinem Schmerz so runterziehen zu lassen. Die Sache zwischen uns ist beendet – er hat sie beendet. Und wir sollten nicht schon wieder zwei Schritte zurück machen und krampfhaft an etwas festhalten, was nicht mehr existiert.
?Was kannst du nicht mehr??
?Ich komme gerade von einer Besprechung bei Beaufort. Lydia ist schwanger. Und ich wurde in Oxford genommen. Ich … ich drehe gerade durch.?
James’ Brust hebt und senkt sich schnell, als w?re er einen Marathon gelaufen. Wahrscheinlich fühlt es sich für ihn auch so an. Ich wei?, wie furchtbar er unter dem Druck leidet, den sein Vater ihm auferlegt, und in diesem Moment sieht es so aus, als würde er jeden Moment darunter einknicken.
Ich hole tief Luft. ?Ich verstehe, wie schlimm das für dich sein muss. Aber … ich bin nicht die Person, an die du dich wenden solltest, wenn es dir schlecht geht?, gebe ich so sanft wie m?glich zurück.
Er nimmt die Stufen der Eingangstreppe mit schnellen Schritten, bis er direkt vor mir steht. Seine Augen sind dunkel, sein Blick verzweifelt. Ich habe ihn noch nie so gesehen.
?Ich kann mich nicht mehr von dir fernhalten. Du bist der einzige Mensch, der mich wirklich versteht. Ich brauche dich. Und ich will für uns k?mpfen, weil ich dir geh?re. Ich werde immer dir geh?ren, Ruby.?
Ich klammere mich am Türrahmen fest und starre ihn an, v?llig fassungslos. Mein K?rper wird von Hoffnung, Schmerz und Wut zugleich erfasst, ein chaotischer Mix, der mein Herz rasen und meine Gedanken wild durcheinanderwirbeln l?sst.
Ich kann nicht glauben, dass er das gerade gesagt hat.
Ich kann nicht glauben, dass er schon wieder versucht, mein Leben aus den Fugen zu rei?en.
Mit einem Mal werde ich unglaublich wütend. Wie kann er es wagen, wieder im Veranstaltungskomitee mitzumachen? Wie kann er es wagen, mir diesen Moment kaputtzumachen?
?Nein?, bringe ich mühsam hervor. Gleichzeitig schüttle ich den Kopf. ?Nein.?
?Bitte, Ruby, ich …?
?Wei?t du, was ich brauche, James??, unterbreche ich ihn. ?Ich brauche Frieden. Ich brauche Zeit für mich, um über dich hinwegzukommen. Ich wünsche mir, dass du irgendwann glücklich wirst und feststellst, dass du dein Leben nicht von deinem Vater bestimmen lassen musst. Nur kann ich dir dabei nicht helfen.?
Er schüttelt den Kopf. ?Es geht mir besser, wenn du bei mir bist. Dann bin ich einfach … glücklich.?
?Es ist nicht mein Job, dich glücklich zu machen, verdammt!?, schreie ich.
James zuckt zusammen und weicht einen Schritt zurück. Er rutscht von der obersten Stufe, und kurz sieht es so aus, als würde er sein Gleichgewicht verlieren, aber im letzten Moment kann er sich fangen. Er starrt mich an, und der uns?gliche Schock in seinen Augen raubt mit den Atem.