Anscheinend bin ich kein normaler Mensch.
Das hier ist das Einzige, was mir von ihm bleibt. Und ich bin einfach noch nicht bereit, mich endgültig von ihm zu l?sen. Um ehrlich zu sein, wei? ich nicht, ob ich das jemals sein werde. Ich vermisse ihn so. Ich vermisse unsere Telefonate, sein Lachen bei schlechten Actionkom?dien, unsere verschlungenen Finger unter dem Tisch eines Cafés. Das Wissen, dass ich das nicht zurückhaben kann, bringt mich beinahe um den Verstand.
?Das klingt wunderbar?, dringt James’ Stimme an mein Ohr. Er h?rt sich so enthusiastisch an, dass ich ihn mit hochgezogener Augenbraue ansehe. ?Ja, natürlich. Ich danke dir, Alice, bis dann.? James atmet h?rbar aus und streckt beide Arme über dem Kopf aus.
?Alice? Alice Campbell??, frage ich.
Er dreht sich in meine Richtung. ?Sie schuldet mir noch einen Gefallen.?
?Ich will lieber nicht wissen, weshalb.?
Er l?chelt verwegen. ?Ruby findet Alice toll.?
Kein Wunder. Alice Campbell hat in Oxford studiert und noch w?hrend ihres Studiums ihre eigene Kulturstiftung gegründet.
?Du legst dich wirklich ganz sch?n ins Zeug?, kommentiere ich. Ich bereue es sofort, als James’ Blick ernst wird.
?Zurück zum Thema?, sagt er, doch ich schüttle den Kopf.
?Ich kann es ihm nicht sagen. Wie soll ich dann bitte noch in seinem Unterricht sitzen??
?Du kannst in meinen Geschichtskurs wechseln.?.
?Das ist total auff?llig.?
James zuckt mit den Schultern. ?Die Leute wechseln st?ndig aus allen m?glichen Gründen. Ich denke nicht, dass das besonders auff?llig ist. Wir k?nnten als Grund nennen, dass du lieber mit mir lernen willst.?
?Ich wei? nicht?, murmle ich.
?Egal, was du machst?, sagt James. ?Ich helfe dir.? Er sieht mich noch einen Moment lang ernst an, dann wendet er sich wieder seinem Laptop zu.
Ich spüre ein leichtes Kribbeln in meinem Bauch und lege die Hand darauf, um zu fühlen, ob es sich um eines der Kleinen handelt. Inzwischen sind leichte Bewegungen von ihnen bemerkbar – fast, als h?tte ich Schmetterlinge im Bauch.
Jetzt, wo James Bescheid wei?, geht es mir zwar deutlich besser als vorher, aber das ?ndert nichts daran, dass ich zwei Kinder erwarte, Single-Mutter sein werde und wahrscheinlich auch die Schule abbrechen muss. Wobei … vielleicht schaffe ich es, meine Abschlussprüfungen zu schreiben, bevor das alles ans Licht kommt.
Ich zwinge mich zu drei tiefen, ruhigen Atemzügen. Ich darf mich jetzt nicht in Gedanken an eine ohnehin ungewisse Zukunft verlieren. Ich muss einen Tag nach dem anderen angehen. Denn wenn ich mir von morgens bis abends Sorgen mache, bringt das niemandem etwas – schon gar nicht den kleinen Würmern, die jetzt unbedingt meine Priorit?t sein müssen.
?Fuck?, st??t James pl?tzlich aus. Er hat beide Arme hinter dem Kopf verschr?nkt und starrt mit gro?en Augen auf seinen Bildschirm.
?Was ist??
James ist wie eingefroren. Von Unruhe erfasst stehe ich auf und gehe rüber zu seinem Schreibtisch. Ich stelle mich hinter seinen Stuhl und umfasse die lederne Lehne. Anschlie?end beuge ich mich ein Stück vor.
Das Erste, was ich sehe, ist das Wort Oxford.
Das Zweite ist Herzlichen Glückwunsch, James Beaufort.
?Du wurdest genommen!?, platzt es aus mir raus.
Da James immer noch nicht reagiert, drehe ich seinen Stuhl zu mir herum. Purer Schock steht ihm ins Gesicht geschrieben.
?James, du wurdest genommen. Das ist gro?artig!? Ich fasse ihn bei den Schultern und ziehe ihn hoch, um ihn zu umarmen. Er stolpert, und es dauert einen Moment, bis er die Umarmung erwidert.
?Fuck?, wiederholt er.
Ich wei? nicht, ob er sich freut oder innerlich gerade durchdreht. W?hrend ich ihn halte, überlege ich, ob auf mich wohl auch eine E-Mail in meinem Postfach wartet. Die alte Lydia würde jetzt wie eine Besessene zu ihrem Handy laufen und nachsehen, ob sie ebenfalls genommen wurde. Die neue Lydia hingegen will nicht wissen, ob ihr gerade eine Zukunft angeboten wurde, die sie ohnehin nicht verfolgen kann.
Ich drücke James noch ein bisschen fester und freue mich, dass wenigstens einer von uns beiden seine Pl?ne verwirklichen kann.
James
?Es liegt eine schwierige Zeit hinter uns, das brauche ich eigentlich nicht zu erw?hnen. Doch von nun an k?nnen wir wieder nach vorn blicken. Denn das ist das, was Cordelia gewollt h?tte.?
Ich unterdrücke den Drang, die Augen zu verdrehen oder irgendein Ger?usch von mir zu geben. Mein Vater hat keine Ahnung, was meine Mutter wirklich gewollt h?tte. Ganz bestimmt nicht dieses Theater, das er da vorn gerade aufführt.
Es ist die erste offizielle Rede, die er als Gesch?ftsführer vor dem Beaufort-Vorstand und den Abteilungsleitern h?lt, und schon jetzt fressen sie ihm alle aus der Hand. Die insgesamt zw?lf M?nner und Frauen h?ngen mit hoffnungsvollen Mienen an seinen Lippen, w?hrend ich seitlich an dem langen Konferenztisch sitze und überlege, wie ich m?glichst unauff?llig mein Handy rausholen kann.
?Wenn wir gemeinsam an einem Strang ziehen, k?nnen wir Beaufort aus dem emotionalen Tief holen und das Unternehmen weiter nach vorn bringen. In der kommenden Zeit werden einige ?nderungen auf Sie zukommen, bei denen ich auf Ihre Unterstützung angewiesen bin. In diesem Zuge m?chte ich mich schon jetzt bei Ihnen bedanken – Sie sind unser wichtigstes Kapital. In der kommenden Zeit wird es mir daher ein wichtiges Anliegen sein, Ihre Fachkompetenz mehr einzusetzen als je zuvor.?
Ich lasse meine Hand in die Hosentasche gleiten und hole mein Handy raus. In den vergangenen Stunden haben mir die Jungs unz?hlige Nachrichten geschickt, in denen sie mich dazu überreden wollen, heute Abend feiern zu gehen. Es ist mein erster Tag in meiner neuen Funktion im Vorstandsgremium von Beaufort, und in ihrer Welt ist das etwas, worauf wir auf jeden Fall ansto?en müssen.