Save You (Maxton Hall, #2)

Ich streiche sanft über ihren Hinterkopf.

Früher haben wir oft so dagesessen. Als Fünfj?hrige ist Lydia zu mir ins Bett gekommen, wenn es drau?en geblitzt und gedonnert hat, als Zehnj?hrige, wenn Dad uns angeschrien hat, weil ihm unsere Noten nicht gut genug waren, und auch als Fünfzehnj?hrige hat sie nach der Sache mit Gregg in manchen N?chten an meine Tür geklopft und sich anschlie?end wortlos neben mich ins Bett gelegt. Ich habe stets ihren Kopf gestreichelt und gesagt, dass alles gut werden wird, auch wenn ich selbst davon nie überzeugt war.

Ich frage mich, ob sie sich auch noch an diese Momente erinnert oder ob das ein Teil unserer Vergangenheit ist, den sie verdr?ngt hat. Im Verdr?ngen sind wir Beauforts n?mlich ziemlich gut.

?Das, was ich gesagt habe, war gelogen. Du bist die wichtigste Person in meinem Leben.?

Lydia erstarrt neben mir, und mit jeder Sekunde, in der sie nicht reagiert, fühle ich mich mehr entbl??t. Krampfhaft suche ich nach etwas, was ich hinzufügen k?nnte, um die Stimmung etwas aufzulockern, doch mir f?llt nichts ein. Also entscheide ich mich kurzerhand für eine der Fragen, die schon seit über einer Stunde in meinem Kopf herumschwirren.

?Warst du denn schon beim Arzt? Ich habe keine Ahnung, wie so was abl?uft. Ist alles in Ordnung? Und wofür sind diese Vitamine – hei?t das, du hast einen Mangel oder so??

Ich merke, wie nach und nach die Anspannung aus Lydias K?rper weicht. Sie nimmt einen tiefen Atemzug und dreht dann ihren Kopf, um mich von der Seite anzusehen. Ich erwidere ihren Blick. In dem Moment, in dem sich ein leichtes L?cheln auf ihrem Gesicht auszubreiten beginnt, wei? ich, dass wir es geschafft haben. Die Kluft zwischen uns ist überbrückt.

?Die Vitamine habe ich direkt bei der ersten Untersuchung bekommen, ich glaube, die bekommt fast jede Schwangere zu Beginn. Und bei der letzten Untersuchung war alles in bester Ordnung.? Sie z?gert. ?Es gab nur eine kleine überraschung.?

Ich hebe eine Augenbraue. ?Noch eine??

?Es werden Zwillinge.?

Ich starre Lydia ungl?ubig an. ?Du machst Witze.?

Sie schüttelt den Kopf und holt ihr Handy hervor. Sie ?ffnet die Galerie und zeigt mir ein Bild, auf dem auf dunklem Hintergrund der helle Umriss eines kleinen K?rpers zu sehen ist. Dann ruft sie das n?chste Bild auf. Eigentlich sieht es genau gleich aus – au?er dass ich direkt neben dem ersten Umriss ganz deutlich einen zweiten sehen kann.

In meinem Magen hüpft etwas, und mit einem Mal ist mir ganz komisch zumute. Gleichzeitig sto?e ich ein ungl?ubiges Lachen aus. ?Das ist zu irre, um wahr zu sein.?

Lydia grinst. ?Ich musste im ersten Moment auch lachen, weil ich es nicht fassen konnte. Na ja, wobei … eigentlich habe ich gelacht und gleichzeitig geweint. Ruby muss gedacht haben, dass ich einen Nervenzusammenbruch habe.?

Bei Rubys Namen richte ich mich automatisch ein Stückchen auf. ?Ruby war mit dir beim Arzt??

Lydia meidet meinen Blick und betrachtet stattdessen intensiv das Handy in ihrer Hand. ?Ja. Sie wei? es schon eine ganze Weile.?

Ich reibe mir mit der Hand übers Kinn. Meine Kehle fühlt sich mit einem Mal trocken an.

?Ich habe sie gebeten, es für sich zu behalten. Bitte sei nicht sauer auf sie.?

Ich kann nur den Kopf schütteln. Dann lasse ich mich nach hinten sinken und schlage die Arme vors Gesicht.

Ruby hat es gewusst.

Ruby ist für meine Schwester da gewesen. Nach allem, was ich getan habe, hat sie Lydia nicht alleingelassen. Im Gegensatz zu mir.

Ich kann nicht atmen.

?James??, flüstert Lydia.

Meine Arme zittern, aber ich kann sie nicht sinken lassen. Ich sch?me mich so. Für alles. All die Fehler, die ich als Freund und Bruder gemacht habe, fallen mit dem Gewicht eines Zehntonners auf mich, bis ich es kaum noch ertrage.

Meine Schwester zieht meine Arme weg und sieht mich besorgt an. Verst?ndnis breitet sich auf ihrem Gesicht aus. Anschlie?end l?sst sie sich neben mich fallen, und gemeinsam blicken wir hoch zu dem Kronleuchter, der in der Mitte ihres Zimmers h?ngt.

?Lydia?, raune ich in die Stille. ?Ich habe Mist gebaut.?

Lydia

So habe ich meinen Bruder noch nie gesehen.

Ich wusste zwar, dass ihm das mit Ruby nahegegangen ist, aber ich hatte keine Ahnung, wie sehr er wirklich leidet.

Jetzt, wo er seine Maske fallen lassen hat, erkenne ich die Scham in seinen Augen, aber auch die tiefe Traurigkeit und den Schmerz, den ihm die Trennung von Ruby bereitet. Es ist das erste Mal, dass er mir offen zeigt, wie es in ihm aussieht.

Ich verspüre den heftigen Wunsch, etwas für ihn und Ruby tun zu k?nnen. Denn es ist offensichtlich, dass sie beide noch Gefühle füreinander haben und unter der Situation leiden.

?Wieso hast du bisher nichts gemacht, um ihr zu zeigen, wie leid es dir tut??, frage ich nach einer Weile vorsichtig.

James dreht den Kopf zu mir. ?Ich habe versucht, mich bei ihr zu entschuldigen?, sagt er mit belegter Stimme. ?Sie kann nicht, hat sie gesagt.?

Einen Moment schweigen wir.

?Ich kann sie verstehen?, fange ich schlie?lich an, und James zuckt kaum merklich zusammen. ?Aber gleichzeitig … ich wei? auch nicht. Ich würde mir einfach so wünschen, dass ihr darüber hinwegkommt.?

?Ruby m?chte das nicht, und das muss ich respektieren.? Er klingt so resigniert, als er das sagt, dass in mir pl?tzlich der Wunsch aufkeimt, ihn zu schütteln.

?Seit wann bist du jemand, der einfach so aufgibt??

James schnaubt.

?Was??

?Ich habe nicht einfach so aufgegeben. Ich denke ununterbrochen an sie und bin mir sicher, dass ich nie wieder Gefühle für jemand anders haben werde, verdammt. Aber wenn sie mich nicht mehr will, dann …?

Ich schnappe mir einen der Skizzenbl?cke auf meinem Nachttisch und brate James eins damit über.

Er setzt sich ruckartig auf. ?Aua, was soll das??

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