James blinzelt und blickt sich um. Seine Miene versteinert sich augenblicklich, als er realisiert, dass wir schon vor der Schule stehen. Ohne ein weiteres Wort nimmt er seine Tasche und ?ffnet die Tür. Ich werfe Percy einen entschuldigenden Blick zu, bevor ich James nach drau?en folge. Er hat bereits den halben Parkplatz überquert, als ich ihn einhole. Auf der Treppe zum Haupteingang warten Cyril, Alistair, Kesh und Wren.
?Beaufort!? Wren h?lt ihm die Faust hin und grinst breit. ?Wird ja auch Zeit, dass du dich endlich wieder hier blicken l?sst.?
James zieht einen Mundwinkel leicht in die H?he und st??t mit seiner Faust gegen Wrens.
?Ist nicht dasselbe ohne dich?, sagt auch Kesh und nimmt James’ Gesicht in beide H?nde. Er gibt seiner Wange einen freundschaftlichen Klaps.
Cyril kommt w?hrenddessen zu mir und umarmt mich. ?Lydia?, murmelt er in mein Haar. Ich schlucke schwer. Sein Geruch ist so vertraut, dass ich am liebsten für den Rest des Schultages so mit ihm stehen bleiben würde. Da das aber keine Option ist, mache ich mich vorsichtig von ihm los.
?Guten Morgen?, sage ich müde.
Cyrils eisblauer Blick gleitet fragend über mein Gesicht. Schlie?lich legt er mir einen Arm um die Schulter, und zusammen mit den anderen gehen wir die Treppenstufen nach oben und durch die wuchtigen Doppeltüren von Maxton Hall.
Unsere Freunde haben eine merkwürdige Formation um uns herum gebildet, vermutlich, um uns vor den Fragen unserer Mitschüler zu bewahren, aber das ist nicht n?tig. Niemand wird uns ansprechen. James wirft mir einen Blick über die Schulter zu, und wir reagieren genau gleich. Wir drücken die Rücken durch und schreiten durch die Schule, wie wir es schon immer getan haben.
Das Assembly zieht sich wie gewohnt in die L?nge, und irgendwann tut mir der Nacken vom angestrengten Geradeaus-Starren weh. Wir sitzen in der letzten Reihe, und es vergeht keine Minute, in der sich nicht jemand nach uns umdreht und dann mit der Person neben sich zu tuscheln beginnt. Ich ignoriere sie alle. Erst als Lexington die Versammlung für beendet erkl?rt und wir die Boyd Hall verlassen, kann ich durchatmen.
?Habt ihr geh?rt??, fragt Alistair, als wir die Treppen im Hauptgeb?ude nach oben gehen. ?George hat einen Tag nach seinem achtzehnten seine Karre geschrottet.?
?Welcher George??, frage ich.
?Evans?, antworten Wren und Alistair gleichzeitig. ?Du wei?t schon: der Captain des Fu?ballteams??
?Ah. Ist ihm was passiert??
?Er hatte nur einen Kratzer an der Stirn. Dieser verdammte Idiot hat mehr Glück als Verstand.?
?Oh, und Jessalyn hatte auf Cyrils Party etwas mit Henry. Er ist anscheinend mittendrin eingeschlafen?, f?hrt Wren fort mit der Berichterstattung.
?Dann war der Sex wohl nicht besonders überw?ltigend?, meint James trocken.
Alle sehen ihn überrascht an. Er klang gerade so wie sonst auch – gelangweilt, mit einer Spur von überheblichkeit in der Stimme. Beinahe wie der alte James.
?Also, um ehrlich zu sein?, unterbricht Cyril unser Schweigen. ?Ich w?re auch schon mal fast eingeschlafen.?
?Cyril.? Ich verziehe leicht angewidert das Gesicht. Auch wenn ich in der Vergangenheit mehr als einmal mit ihm im Bett gelandet bin, m?chte ich darüber wirklich nicht nachdenken. ?Zu viele Infos.?
?Ich hoffe für dich, dass du betrunken warst?, sagt James.
Cyril grinst. ?Nicht nur das.?
?Leute, wir sind in der Schule. K?nnten wir die Gespr?che vielleicht ein bisschen jugendfreier halten??, schlage ich vor.
Alistair dreht sich mit hochgezogener Braue zu mir um. Er schüttelt sich die goldenen Locken aus der Stirn und geht die n?chsten paar Schritte rückw?rts. ?Lydia Beaufort und jugendfrei? Du bist doch schlimmer als wir alle zusammen.?
?Na ja. Schlimmer als James würde ich nicht sagen?, überlegt Kesh laut.
?Oder als ich.? Wren wackelt mit den Brauen.
?Ihr teilt euch den zweiten Platz auf der Liste.? Alistair st??t ihm einen Ellenbogen in die Seite, und Wren lacht los.
Grinsend schüttle ich den Kopf. Ich liebe die Jungs dafür, dass sie sich vollkommen normal verhalten. Das gibt mir beinahe das Gefühl, als h?tte sich nichts ver?ndert. Au?erdem lenkt es mich ab, und genau das brauche ich jetzt. Meine erste Stunde montags findet in diesem Term n?mlich bei Graham statt, und die Vorstellung, wie es zwischen uns sein wird, macht mich nerv?s. Seit dem schrecklichen Telefonat, das wir kurz nach Mums Tod geführt haben, habe ich ihn nicht mehr gesprochen.
Ich habe gehofft, dass meine Sehnsucht nach ihm im Laufe der Zeit weniger wird, aber das Gegenteil ist der Fall. Es tut mit jedem Tag mehr weh, und der einzige Trost in den letzten Wochen war, dass ich Graham nicht auch noch sehen musste. Diese Schonfrist ist jetzt vorbei.
Bevor wir uns vor dem Klassenzimmer verabschieden, sieht mich James eingehend an. Nach wie vor f?llt es mir schwer, einzusch?tzen, was er denkt, aber der Funke Besorgnis in seinen Augen entgeht mir nicht. Obwohl wir seit Tagen nicht miteinander gesprochen haben, wei? er, wie sehr ich mich vor dem Moment fürchte, Graham wieder gegenüberzustehen.
?Jetzt geht schon?, kr?chze ich.
James mustert mich noch einen Moment lang, dann nickt er. ?Melde dich, wenn du was brauchst?, murmelt Cyril und umarmt mich erneut. ?Wir sehen uns in der Mittagspause.? Ich schlie?e die Augen und erlaube es mir ein paar Sekunden, das Gefühl zu genie?en, gehalten zu werden und nicht allein zu sein. Er l?st sich von mir und macht einen Schritt zur Seite.
Und dann sehe ich Graham.
Er steht direkt hinter den Jungs, die den Weg zum Klassenraum versperren. Sein Haar ist leicht gewellt und ein bisschen l?nger, als ich es in Erinnerung habe. Er tr?gt ein kariertes Hemd unter einem Cardigan und hat einen riesigen Stapel Bl?tter in den H?nden. Er sieht durch die Lücke zwischen Cyrils und James’ Kopf, und sein goldbrauner Blick, der mich schon immer fasziniert hat, liegt direkt auf mir.