Mit vor Tr?nen verschleiertem Blick schaue ich auf. Vor mir steht James. Als er erkennt, wie bestürzt ich aussehe, umfasst er sanft meine Oberarme.
?Ich habe geh?rt, dass du ausgerufen wurdest. Was ist passiert??, fragt er eindringlich.
Ich kann nur den Kopf schütteln. Es auszusprechen ist einfach viel zu irre – und au?erdem wird dieser Albtraum dann Realit?t. Das Einzige, was ich machen kann, ist gegen James zu fallen und die Arme um ihn zu schlingen. Ich vergrabe das Gesicht an seinem Jackett und lasse die Tr?nen für einen kurzen Moment zu. Nur ganz kurz, nur bis ich wieder festen Boden unter den Fü?en habe.
?Rektor Lexington … hat mich von der Schule verwiesen?, bringe ich nach einer Weile hervor. Ich l?se mich von James und sehe zu ihm hoch. Mit einer Hand wischt er unter meinem Auge entlang, sein Blick ist verwirrt. ?Anscheinend hat jemand Fotos von mir und Mr Sutton gemacht, die aussehen, als würden wir uns küssen.?
James’ Hand erstarrt an meiner Wange. ?Was??
Ich kann nur den Kopf schütteln.
James l?st sich von mir und sieht mich aus gro?en Augen an. ?Was hast du gerade gesagt??
?Jemand hat Fotos an Rektor Lexington geschickt, die so aussehen, als w?re ich diejenige, die die Aff?re mit Sutton hat?, flüstere ich eindringlich. Ich wische mir mit bebender Hand über die Augen. Ein paar Leute starren mich im Vorbeigehen an, und ich erkenne ein eisblaues Augenpaar.
?Das kann nicht sein?, bringt James hervor.
?Wieso denn nicht??, erklingt Cyrils Stimme. ?Du bist doch derjenige, der diese Fotos gemacht hat, Beaufort.?
Benommen sehe ich zwischen James und ihm hin und her. ?Was??, flüstere ich.
James reagiert nicht. Er starrt blo? Cyril an. Dieser steht mit schr?g gelegtem Kopf und in den Taschen vergrabenen H?nden vor uns.
?Na los. Sag es ihr?, fordert er James auf.
?Was für einen Schwachsinn redest du da, Cyril??, frage ich und kralle die Finger in James’ Arm.
Cyril hebt herausfordernd eine Augenbraue. ?Frag ihn, Ruby. Frag ihn, wer diese Bilder gemacht hat.?
Wieder sehe ich James an, der v?llig regungslos dasteht.
?James??, flüstere ich.
Als ich seinen Namen sage, scheint er aus seiner Starre zu erwachen. Er dreht sich zu mir und schluckt schwer.
Ich sehe in seine Augen.
Panik steigt in mir auf.
Das kann nicht sein.
?Wer hat diese Fotos gemacht??
Auch James’ Atem geht pl?tzlich schneller. Er hebt langsam eine Hand, als würde er mich berühren wollen, sich aber nicht trauen. ?Es ist nicht –?
?Wer, James??
James ?ffnet ein weiteres Mal den Mund, schlie?t ihn dann aber wieder. Er kneift die Augen zusammen, und ich sehe ihn schlucken. Einmal. Zweimal.
Als er die Augen wieder ?ffnet, fühlt es sich an, als h?tte mir jemand einen Sto? vor die Brust verpasst.
?Er hat recht, Ruby.?
Der Boden unter meinen Fü?en zerbricht in Abertausende Teile.
?Ich bin derjenige, der die Fotos gemacht hat.?
Und ich falle.
Epilog
Ember
Ich komme mir vor wie eine Verbrecherin.
Mein Blick zuckt zur Uhr, zum Tresen und der dahinterstehenden Bedienung, zu meinem Cappuccino und zurück zur Eingangstür des Cafés. Der Kreislauf beginnt von vorn. Und noch einmal.
Jede neue Minute scheint langsamer zu vergehen als die vorherige.
Inzwischen habe ich schon eine ganze Schulstunde verpasst. Noch nie in meinem Leben habe ich mich so kriminell gefühlt, nicht mal, als Mum mich dabei erwischt hat, wie ich in der Smith’s Bakery einen Scone hinter dem Tresen stibitzt habe, obwohl sie es mir nicht erlaubt hatte.
Das schlechte Gewissen, das ich jetzt habe, ist nicht mit damals zu vergleichen. Diesmal tue ich n?mlich wirklich etwas Verbotenes.
Die Aufregung sorgt dafür, dass ich kaum still sitzen kann. Ich rutsche auf meinem Stuhl hin und her und frage mich, ob der Cappuccino eine gute Wahl war. Eigentlich bin ich keine Kaffeetrinkerin, aber da ich gestern Nacht so wenig geschlafen habe, dachte ich, das Koffein würde mir guttun. Wahrscheinlich h?tte ich es lieber lassen sollen.
Noch zehn Minuten.
Ich frage mich, wie ich das aushalten soll. Kurz überlege ich, mein Zeug zusammenzupacken, aufzustehen und zu verschwinden, nur um in dreizehn Minuten wiederzukommen und so zu tun, als w?re ich gerade erst eingetroffen. Aber das kommt mir dann doch ein bisschen übertrieben vor.
Was diese Aufregung mit mir anstellt, ist verrückt.
Normalerweise bringt mich so schnell nichts aus der Ruhe. Normalerweise schw?nze ich aber auch nicht hinter dem Rücken meiner Eltern die Schule und verabrede mich mit einem Jungen, den ich eigentlich gar nicht richtig kenne.
Abwesend bl?ttere ich durch den Stapel mit Informationsbroschüren und Antr?gen für F?rderprogramme und Stipendien. In vielen stecken noch Post-its, mit denen Ruby wichtige Stellen markiert hat, in einem Farbsystem, hinter dem garantiert irgendein tieferer Sinn steckt.
Die Klingel des Cafés ert?nt. Ich sehe auf – und pl?tzlich scheint alles um mich herum wie in Zeitlupe zu geschehen.
Er ist wirklich gekommen.
Sein Blick schweift über die Menschen im Café. Kurz ziehen sich seine Brauen ein kleines Stück zusammen – da entdeckt er mich an dem Tisch an der Wand. Ich hebe unschlüssig die Hand zur Begrü?ung. Die Falte auf seiner Stirn gl?ttet sich augenblicklich, und seine Lippen verziehen sich zu einem L?cheln.
Langsam schlendert er auf mich zu.
Er tr?gt eine schwarze Lederjacke mit breitem Kragen über einem grauen Shirt, das eine Tasche auf der Brust hat, dazu eine dunkle Jeans und schwere Boots. Es ist ein tolles Outfit, mühelos, aber gleichzeitig stilvoll. Bisher habe ich ihn nur im Anzug gesehen – ich war gespannt darauf, wie er sich wohl in seiner Freizeit kleidet.
Das Halbl?cheln verschwindet nicht von seinem Gesicht, als er sich auf den Stuhl gegenüber von mir setzt.
Mein Herz rast. Da liegt so viel Dunkles in seinem Blick, das ich ergründen m?chte. So vieles, das ich in Zukunft ergründen werde.
?Guten Morgen, Ember?, sagt Wren Fitzgerald.
Auf meinen Lippen breitet sich langsam ein L?cheln aus.