Das Spinoza-Problem

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BERLIN/NIEDERLANDE, 1939–1945


»Er ist »Beinahe-Rosenberg«. Beinahe hätte es bei Rosenberg zum Gelehrten, zum Journalisten, zum Politiker gereicht, aber eben nur beinahe.«

Joseph Goebbels

»Warum beweint die Welt mit Krokodilstränen das hundertfach verdiente Schicksal einer kleinen Minderheit? … Ich frage Roosevelt, ich frage das amerikanische Volk: … Seid ihr bereit, diese Brunnenvergifter der deutschen und der christlichen Weltseele bei Euch aufzunehmen? Wir würden jedem einzelnen ein Freibillett und einen Tausendmarkschein als Taschengeld mitgeben, wenn wir sie los werden könnten.«

Adolf Hitler

Auch wenn Alfred danach nie mehr unter kräfteraubenden Depressionen litt, fühlte er sich in seiner Haut dennoch niemals wohl, und sein Selbstwertgefühl schlug sein restliches Leben lang ständig Kapriolen: Entweder blies er sich auf, oder er war leergepumpt, je nach seiner subjektiv wahrgenommenen Nähe zu Hitler.

Hitler war ihm nie zugetan, aber in der Überzeugung, dass Alfreds Fähigkeiten der Partei nützlich seien, bürdete er ihm immer neue Zuständigkeiten auf. Diese Aufgaben musste er zusätzlich zu seiner Haupttätigkeit als Herausgeber der Parteizeitung bewältigen. Der Völkische Beobachter, das Kampfblatt der NSDAP, florierte unter Alfreds Leitung: 1940 hatte das Blatt bereits eine Auflage von mehr als einer Million. Persönlich bevorzugte Hitler allerdings die vulgären, antisemitischen Karikaturen in Streichers Der Stürmer, aber der Völkische Beobachter war die offizielle Parteizeitung, und Hitler oder sein Stellvertreter Rudolf Hess versäumten es nie, sich täglich seiner Lektüre zu widmen.

Alfred unterhielt eine freundschaftliche Beziehung zu Hess und hatte durch ihn Zugang zu Hitler. Aber das endete am zehnten Mai 1941 abrupt, als Hess nach einem ausgiebigen, gemütlichen Frühstück mit Rosenberg zum Flughafen fuhr und aus Gründen, die unter den Historikern noch immer Verwirrung stiften, mit einer Messerschmitt BF100 nach Schottland flog und dort mit dem Fallschirm absprang, nur um augenblicklich von den Briten gefangengenommen zu werden und den Rest seines Lebens im Gefängnis zu verbringen. Martin Bormann übernahm den Stellvertreterposten von Hess und wurde, wie Alfred es ausdrückte, zum »Alleinherrscher im Vorzimmer«. Mit sehr wenigen Ausnahmen gewährte Bormann nur dem inneren Zirkel Zugang zu Hitler – und diesem gehörte Rosenberg nie an.

Dennoch konnte niemand Alfred den erstaunlichen Erfolg seines Buches Der Mythus des zwanzigsten Jahrhunderts absprechen. Bis 1940 waren über eine Million Exemplare verkauft worden, und das Werk rangierte in Deutschland an zweiter Stelle hinter Mein Kampf. Andere Aufgaben gab es zuhauf: Alfreds Rolle als Beauftragter des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP erforderte häufige Treffen und öffentliche Auftritte. Seine Reden wichen nie nennenswert von dem Katechismus ab, den er in seinem Buch umrissen hatte: die Überlegenheit der arischen Rasse, die jüdische Bedrohung, die Reinheit des Blutes, die Gefahren unreiner Aufzucht, die Notwendigkeit, Lebensraum zu schaffen, und die von der Religion ausgehenden Gefahren. Unbarmherzig hackte er auf den Gefahren herum, denen das Reich durch die Juden ausgesetzt war, und vergaß nie, darauf zu beharren, dass die Judenfrage mit der Beseitigung sämtlicher Juden aus Europa gelöst werden müsse. Als es sich 1939 immer deutlicher herausstellte, dass kein Land die deutschen, polnischen und tschechischen Juden aufnehmen wollte, argumentierte er für eine Umsiedlung der Juden Europas in ein Reservat (ausdrücklich kein Staat) außerhalb Europas – zum Beispiel in Madagaskar oder Guyana. Zeitweise zog er Alaska in Betracht, befand dann aber, dass das dortige raue Klima den Juden zu sehr zusetzen würde.

1937 zitierte Hitler Rosenberg zu einem Gespräch.

»Rosenberg, ich habe hier meine offizielle Ankündigung Ihres Deutschen Nationalpreises in der Hand. Ich bin sicher, dass Sie sich an unser Gespräch über Ihre Nominierung erinnern – Sie nannten ihn den stolzesten Tag Ihres Lebens. Ich habe diese Zeilen persönlich abgesegnet. ›Alfred Rosenberg hat in seinen Werken in hervorragendstem Maße die Weltanschauung des Nationalsozialismus wissenschaftlich und intuitiv begründen und festigen geholfen. In einem unermüdlichen Kampf um die Reinerhaltung der nationalsozialistischen Weltanschauung hat er sich ganz besondere Verdienste erworben. Erst eine spätere Zeit wird voll zu ermessen vermögen, wie tief der Einfluß dieses Mannes auf die weltanschauliche Gestaltung des nationalsozialistischen Reiches ist.‹«

Alfreds Augen weiteten sich: Er war von Hitlers Großzügigkeit überwältigt.

»Und heute beabsichtige ich, Ihnen eine Aufgabe zuzuweisen, für die Sie wie geschaffen sind. Ich habe beschlossen, die Hohe Schule ins Leben zu rufen, die nationalsozialistische Eliteuniversität der Partei. Und Sie sollen deren Leitung übernehmen.«

»Ich bin zutiefst geehrt, mein Führer. Aber ich wusste bis jetzt noch gar nicht, dass eine Hohe Schule überhaupt geplant war.«

»Die Hohe Schule soll einst die zentrale Stelle der nationalsozialistischen Forschung, Lehre und Erziehung sein und in Nordbayern liegen. Ich stelle mir ein Auditorium mit dreitausend Plätzen vor, eine Bibliothek mit fünfhunderttausend Bänden und mehrere Außenstellen in verschiedenen Städten des Reiches.«

Alfred holte seinen Notizblock heraus. »Soll ich im Völkischen Beobachter darüber schreiben?«

»Ja. Mein Sekretär wird Ihnen das Hintergrundmaterial dafür liefern. Eine kurze Ankündigung über ihre Gründung und Ihre Berufung, ihr vorzustehen, wäre angemessen. Ihre erste Aufgabe – und das soll nicht veröffentlicht werden …«, Hitler senkte die Stimme, »… wird es sein, die Bibliothek der Universität einzurichten. Und tun Sie das schnell. Sofort. Die Bücher sind im Augenblick verfügbar. Ich möchte, dass Sie die Beschlagnahmung der Bestände aller jüdischen und freimaurerischen Bibliotheken in den besetzten Gebieten federführend übernehmen.«

Alfred war euphorisch: Diese Aufgabe war wirklich auf ihn zugeschnitten. Er machte sich sofort an die Arbeit. Bald begannen Rosenbergs Abgesandte, jüdische Bibliotheken in ganz Osteuropa zu plündern, und sie schickten Tausende seltener Bücher nach Frankfurt, wo Bibliothekare die besten Werke für die Bibliothek der Hohen Schule auswählten. Hitler plante auch ein Museum einer ausgestorbenen Rasse, wofür weitere wertvolle Bücher ausgewählt und schließlich dort ausgestellt werden sollten. Es dauerte nicht lange, bis Alfreds Mandat erweitert wurde, das nun sowohl Kunstwerke als auch Bücher umfasste. Wie ein unterwürfiges Hündchen, das um Aufmerksamkeit lechzt, schrieb er an Hitler zu dessen Geburtstag:

»Heil, mein Führer:

In dem Wunsche, Ihnen, mein Führer, zu Ihrem Geburtstage eine Freude zu bereiten, gestatte ich mir, Ihnen eine Mappe mit Fotos einiger der wertvollsten Bilder zu überreichen, die mein Einsatzstab im Vollzuge Ihres Befehls in den besetzten westlichen Gebieten aus herrenlosem jüdischen Kunstbesitz sichergestellt hat. Diese Bildermappe stellt eine Ergänzung zu den aus dieser Aktion Ihrer Sammlung bereits seinerzeit zugeführten 53 wertvollsten Kunstwerken dar …

Ich bitte Sie, mein Führer, mir bei meinem nächsten Vortrag Gelegenheit zu geben, Ihnen über den gesamten Umfang und den Stand dieser Kunsterfassungsaktion mündlich Bericht erstatten zu dürfen. Ich bitte Sie, als Grundlage dieses späteren mündlichen Berichts einen kurzen schriftlichen Zwischenbericht über Verlauf und Umfang der Kunsterfassungsaktion sowie drei Bände des vorläufigen Bilderkatalogs, der auch erst einen Teil der zu Ihrer Verfügung stehenden Sammlung umfaßt, entgegenzunehmen … Ich werde mir erlauben, bei dem erbetenen Vortrag weitere 20 Bildermappen Ihnen, mein Führer, zu übergeben in der Hoffnung, daß durch diese kurze Beschäftigung mit den schönen Dingen der Ihnen so am Herzen liegenden Kunst ein Strahl von Schönheit und Freude in die Schwere und Größe Ihres gegenwärtigen Lebens fallen möge.«

1940 informierte Hitler die gesamte NSDAP formell von der Gründung des ERR-Einsatzstabes Reichsleiter Rosenberg, dessen Mission es war, alle europäischen Kunstwerke und Bücher im Eigentum von Juden für das Reich zu konfiszieren. Rosenberg fand sich am Kopf einer riesigen Organisation, die gemeinsam mit dem Militär in besetztes Gebiet einfiel, um »herrenloses« jüdisches Eigentum, das Deutschland für wertvoll erachtete, sicherzustellen und zu konfiszieren.

Alfred war begeistert. Das war seine dankbarste Aufgabe. Wenn er zusammen mit seinen Leuten vom ERR über die Straßen Prags und Warschaus stolzierte, sinnierte er: Macht! Endlich Macht! Die Entscheidung über Leben und Tod von jüdischen Bibliotheken und Galerien in ganz Europa zu besitzen. Und auch ein Druckmittel gegen Göring zu haben, der plötzlich so nett zu mir ist. Seine gierigen Hände greifen überall in Europa nach erbeuteten Kunstwerken. Aber nun komme ich an erster Stelle. Ich kann Kunstwerke für den Führer zuerst auswählen, bevor Göring sie mir für seine eigene Sammlung wegschnappen kann. Was für eine Habgier! Göring hätte man schon vor langer Zeit beseitigen sollen. Warum duldet der Führer einen solchen Verrat an arischer Tradition und Ideologie?

Die Beschlagnahme der jüdischen Bibliotheken in Polen und der Tschechoslowakei steigerte auch Alfreds Verlangen nach dem größten Schatz von allen – der Bibliothek im Museum von Rijnsburg. Mit festem Blick auf Spinozas Bibliothek schrieb Alfred eifrig Schlagzeile um triumphierende Schlagzeile über die Fortschritte der Nazis an der Westfront. »Nichts kann unseren Blitzkrieg aufhalten«, tönte der Völkische Beobachter. Ein Land nach dem anderen beugte sich Hitlers Übermacht, und schon bald waren die Niederlande an der Reihe. Obwohl dieses kleine Land im Ersten Weltkrieg neutral geblieben war und sich für den neuen Krieg das Gleiche erhoffte, hatte Hitler andere Pläne. Am zehnten Mai 1940 fielen die Nazitruppen mit voller Wucht in die Niederlande ein. Vier Tage später legte die Luftwaffe einen Bombenteppich über die Industriestadt Rotterdam und zerstörte eine ganze Quadratmeile in der Innenstadt, und am folgenden Tag kapitulierten die holländischen Streitkräfte. Alfred jubilierte, als er die Schlagzeilen und den Artikel über den fünftägigen Krieg gegen die Niederlande für die Titelseite des Völkischen Beobachters vorbereitete und einen Leitartikel über die Unbesiegbarkeit des Blitzkrieges der Nationalsozialisten verfasste. Alfreds Verhalten verblüffte seine Mitarbeiter – nie zuvor hatten sie ihn so übers ganze Gesicht grinsen sehen. War das tatsächlich Alfred Rosenberg, der im Büro Champagnerflaschen entkorkte, Gläser für alle vollschenkte und lautstark Trinksprüche ausbrachte, zuerst auf den Führer und dann zum Gedenken Dietrich Eckarts?

Ein paar Wochen zuvor war Alfred durch Zufall über ein Zitat von Alfred Einstein gestolpert: »Das Geheimnis der Kreativität ist es, seine Quellen zu verstecken zu wissen.« Zuerst schnaubte er – »dreiste Verlogenheit, typisch jüdische Heuchelei« – und kümmerte sich nicht weiter darum. Aber unerklärlicherweise kam ihm Einsteins Aussage noch Tage danach immer wieder in den Sinn. War das vielleicht eine Möglichkeit, das Spinoza-Problem zu lösen? Vielleicht waren die »eigenen« Gedanken Spinozas ja gar nicht so eigen gewesen? Vielleicht lag der wahre Ursprung seiner Gedanken irgendwo in den 151 Büchern seiner persönlichen Bibliothek?

Der ERR, Alfreds plündernder Einsatzstab, war im Februar 1941 bereit, in den Niederlanden zur Tat zu schreiten. Alfred flog nach Amsterdam und nahm an einer Mitarbeiterversammlung teil, die von Werner Schwier organisiert worden war, dem deutschen Funktionär, der für die Liquidation des Freimaurertums und ähnlicher Organisationen in den Niederlanden verantwortlich zeichnete. Die Nationalsozialisten hassten die Freimaurer, egal, ob deren Mitglieder Juden oder Nichtjuden waren. Hitler behauptete in Mein Kampf, dass die Freimaurerei sich von den Juden habe einwickeln lassen und eine der Haupttriebkräfte dafür gewesen sei, dass Deutschland den Ersten Weltkrieg verloren hatte. Anwesend bei der Mitarbeiterversammlung war Schwiers Belegschaft, bestehend aus einem Dutzend »Bezirksliquidatoren«, die alle für ihr eigenes Gebiet zuständig waren. Vor der Versammlung hatte Schwier Alfreds Zustimmung zu den Anweisungen eingeholt, die er an die Liquidatoren verteilen wollte. Alle Gegenstände mit freimaurerischen Emblemen sollten vernichtet werden: Gläser, Büsten, Malereien, Abzeichen, Schmuck, Schwerter, Ringe, Bleie, Kellen, Hämmer, siebenarmige Kandelaber und Sextanten. Alle Holzgegenstände mit nicht entfernbaren Emblemen mussten zerschlagen oder verbrannt werden. Alle freimaurerischen Lederschürzen sollten in vier Teile zerschnitten und konfisziert werden. Während er die Liste durchlas, überzog ein Lächeln Afreds Gesicht, und er nahm nur eine einzige Korrektur vor: Lederschürzen sollten vor der Konfiszierung in sechzehn Teile zerschnitten werden. Mit allem anderen war er einverstanden, und er lobte Schwier für seine Gründlichkeit.

Dann warf er abermals einen Blick auf die Liste der zu konfiszierenden Objekte und fragte: »Herr Schwier, ich sehe, dass Sie das Spinoza-Haus in Rijnsburg auf der Liste haben. Warum?«

»Die ganze Spinoza-Gesellschaft wimmelt von Freimaurern.«

»Halten die Leute denn Freimaurertreffen im Spinoza-Haus ab?«

»Meines Wissens nicht. Wir haben noch nicht herausgefunden, wo diese Treffen in Rijnsburg stattfinden.«

»Ich autorisiere Sie mit der Verhaftung aller verdächtigen Freimaurer, aber überlassen Sie das Spinoza-Haus dem ERR. Ich werde dem Spinoza-Haus einen persönlichen Besuch abstatten und die Bibliothek konfiszieren. Falls ich dabei auf irgendwelches Material der Freimaurer stoße, werde ich es Ihnen übergeben.«

»Sie persönlich, Herr Reichsleiter? Selbstverständlich. Brauchen Sie Hilfe? Ich würde mich glücklich schätzen, ein paar meiner Männer für Sie abzustellen.«

»Vielen Dank, nein. Meine Männer vom ERR stehen bereit, und wir sind auf alles vorbereitet.«

»Dürfte ich mir die Frage erlauben, Herr Reichsleiter, weshalb dieses Objekt so wichtig ist, dass Sie persönlich sich darum kümmern?«

»Spinozas Bibliothek und sein Werk im Allgemeinen dürften für die Hohe Schule von Wichtigkeit sein. Seine Bibliothek erfordert meinen persönlichen Einsatz. Es könnte möglicherweise im Museum einer ausgestorbenen Rasse ausgestellt werden, das der Führer ins Leben rufen will.«

Zwei Tage später trafen Rosenberg und sein persönlicher Assistent, Oberbereichsleiter Schimmer, mit einer Luxus-Mercedes-Limousine, gefolgt von einer weiteren Limousine und einem Kleinlastwagen mit ERR-Mitarbeitern und leeren Kisten, in Rijnsburg ein. Alfred stellte zwei Mitglieder der Truppe für die Bewachung des Hauses des Museumswärters ab, das an das Museum angrenzte, und zwei weitere Soldaten für die Verhaftung des Vorsitzenden der Spinoza-Gesellschaft, der eine Straße weiter wohnte. Die Tür zum Museum war versperrt, aber in kurzer Zeit wurde Gerard Egmond, der Museumswärter, aufgetrieben, der die Tür aufsperrte und öffnete. Alfred schlenderte durch den Vorraum zum Bücherschrank. Er fand ihn nicht so vor, wie er ihn in Erinnerung hatte – viel spärlicher gefüllt. Schweigend zählte er die Bücher. Achtundsechzig.

»Wo sind die übrigen Bücher?«, verlangte Alfred zu wissen.

Erschrocken und ängstlich zuckte der Museumswärter die Schultern.

»Die übrigen dreiundachtzig Bücher«, präzisierte Alfred und zog seine Pistole.

»Ich bin nur der Wärter. Ich weiß nichts darüber.«

»Wer weiß es?«

In diesem Augenblick kamen seine Männer mit Johannes Diderik Bierens de Haan herein, dem betagten Vorsitzenden der Spinoza-Gesellschaft, einem würdevollen, gutgekleideten, älteren Mann mit weißem Ziegenbart und Stahlrandbrille. Alfred drehte sich zu ihm um und fuchtelte mit der Pistole in Richtung des halb leeren Bücherschrankes. »Wir sind wegen der Bibliothek hier, die wir sicherstellen wollen. Wo sind die anderen dreiundachtzig Bücher? Halten Sie uns für Idioten?«

Bierens de Haan wirkte erschüttert, sagte aber nichts.

Alfred stolzierte im Raum herum. »Und, Herr Vorsitzender, wo ist Einsteins Gedicht, das früher genau hier hing?« Alfred tippte mit der Pistole auf eine Stelle an der Wand.

Inzwischen war Bierens de Haan anscheinend vollkommen durcheinander. Er schüttelte den Kopf und murmelte: »Ich weiß überhaupt nichts davon. Ich habe noch nie im Leben dort ein Gedicht hängen sehen.«

»Wie lange sind Sie schon für das hier zuständig?«

»Fünfzehn Jahre.«

»Dieser Wärter, dieser fette, zerlumpte Schandfleck, der hier Anfang der zwanziger Jahre gearbeitet hat und der so tat, als gehörte ihm hier alles. Wo ist er?«

»Vermutlich meinen Sie Abraham. Er ist schon lange tot.«

»Glück für ihn. Wie schade. Ich hätte ihn so gern wiedergesehen. Haben Sie Familie, Herr Spinoza-Haus-Vorsitzender?«

Ein Nicken von Bierens de Haan.

»Sie haben die Wahl: Entweder führen Sie uns zu den Büchern, und wir lassen Sie augenblicklich zu Ihrer Familie und in Ihre warme Küche gehen, oder Sie sagen es uns nicht, dann wird es sehr lange dauern, bis Sie sie wiedersehen werden. Wir finden die Bücher, das garantiere ich Ihnen, und wenn wir dieses Museum in alle seine Einzelteile zerlegen, bis nur noch ein Haufen Holz und Schutt übrig ist. Und damit werden wir jetzt sofort anfangen.«

Keine Antwort von Bierens de Haan.

»Und anschließend machen wir das Gleiche mit dem Haus nebenan. Und dann kommt Ihr Haus dran. Wir finden die Bücher – das garantiere ich Ihnen.«

Bierens de Haan dachte einen Augenblick nach, fuhr dann unerwartet auf dem Absatz zu Egmond herum und sagte: »Führen Sie sie zu den Büchern.«

»Und ich verlange auch das Gedicht«, setzte Alfred hinzu.

»Es gibt kein Gedicht«, blaffte Bierens de Haan zurück.

Der Wärter führte sie nebenan zu einem verborgenen Schrank in der Vorratskammer, wo die restlichen Bücher nicht besonders sorgfältig unter einer Plane gestapelt und mit Geschirr und Konserven zugestellt waren. Die Soldaten verpackten die Bibliothek und alle anderen Wertgegenstände – Bilder von Spinoza, ein Landschaftsbild aus dem siebzehnten Jahrhundert, eine Bronzebüste von Spinoza, ein kleines Lesepult – professionell in Holzkisten und trugen sie zu ihrem Laster. Zwei Stunden später waren die Plünderer und ihre Schätze schon auf dem Weg nach Amsterdam. »Ich habe an vielen solchen Operationen teilgenommen, Reichsleiter Rosenberg«, sagte Schimmer auf der Rückfahrt, »aber noch nie an einer, die so professionell durchgeführt wurde. Es war ein Privileg, Sie in Aktion zu sehen. Woher wussten Sie, dass die Bücher fehlten?«

»Ich weiß eine ganze Menge über diese Bibliothek. Sie wird für die Hohe Schule von unschätzbarem Wert sein. Sie wird uns dabei helfen, das Spinoza-Problem zu lösen.«

»Das Spinoza-Problem?«

»Zu kompliziert, um es Ihnen jetzt im Einzelnen zu erklären. Sagen wir einfach, es handelt sich um einen grandiosen jüdischen Schwindel auf dem Gebiet der Philosophie, der schon seit vielen Jahrhunderten herumgeistert. Ich beabsichtige, mich persönlich darum zu kümmern. Liefern Sie die Bücher direkt an das ERR-Büro in Berlin.«

»Und mich hat beeindruckt, wie Sie mit dem alten Mann umgesprungen sind. Kaltblütig. Professionell. Er ist sofort eingebrochen.«

Alfred tippte sich auf die Stirn. »Zeige deine Stärke. Zeige dein überlegenes Wissen und deine Entschlossenheit. Sie halten sich für besonders schlau, zittern aber bei dem Gedanken, dass ihr Haus in Schutt und Asche gelegt wird. Sobald ich davon sprach, dass es vielleicht keine warme Küche mehr gibt, war das Spiel vorbei. Genau deswegen werden wir in ganz Europa vorherrschen.«

»Und was ist mit dem Gedicht?«

»Das war unendlich weniger wert als die Bücher. Es war klar, dass er die Wahrheit sagte: Niemand, der diese unschätzbar wertvolle Bibliothek aufgibt, würde sich für ein paar hingeworfene Zeilen eines holperigen Gedichts auf einem Blatt Papier in Gefahr bringen. Aller Wahrscheinlichkeit nach gehörte es gar nicht dem Museum und wurde von einem Wärter aufgehängt.«

Die beiden Holländer saßen niedergeschlagen in der Küche des Wärters. Bierens de Haan stützte den Kopf in die Hände und stöhnte: »Wir haben das, was uns anvertraut war, verraten. Wir waren die Hüter der Bücher.«

»Sie hatten keine andere Wahl«, sagte Egmond. »Zuerst hätten sie das Museum auseinandergenommen und dann dieses Haus. Dann hätten sie nicht nur die Bücher, sondern auch sie gefunden.«

Bieren de Haan stöhnte immer noch.

»Was hätte Spinoza gemacht?«, fragte der Wärter.

»Ich kann mir nur vorstellen, dass er den Weg der Tugend gewählt hätte. Wenn es eine Wahl zwischen der Rettung wertvoller Gegenstände und der Rettung eines Menschen gibt, dann müssen wir die Menschen retten.«

»Ja, Sie haben Recht. Nun, sie sind fort. Soll ich ihr sagen, dass jetzt alles vorüber ist?«

Bierens de Haan nickte. Egmond ging nach oben und klopfte im Schlafzimmer mit einer langen Stange drei Mal an eine Stelle der Zimmerdecke. Ein paar Minuten später öffnete sich die Falltür, eine Leiter fiel herab, und eine verängstigte jüdische Frau mittleren Alters, Selma de Vries-Cohen, stieg herunter.

»Selma«, sagte Egmond, »Sie können aufatmen. Sie sind weg. Sie haben alles an Wert mitgenommen und werden sich jetzt daran machen, den Rest unseres Landes auszuplündern.«

»Warum waren sie hier? Was wollten sie?«, fragte Selma.

»Wegen Spinozas Bibliothek. Ich habe keine Ahnung, warum sie ihnen so wichtig war. Es ist mir vollkommen schleierhaft. Sie hätten sich ohne Schwierigkeiten einen der Dutzende Rembrandts im Rijksmuseum in Amsterdam unter den Nagel reißen können, der weitaus mehr wert gewesen wäre als alle diese Bücher zusammen. Aber ich habe etwas für Sie. Ein Buch haben sie übersehen. Es gab ein einziges Buch von Spinoza in holländischer Übersetzung. Es heißt Ethik, und ich habe es getrennt von den anderen bei mir zu Hause verwahrt. Sie wussten nichts von diesem Buch, und ich werde es Ihnen morgen bringen. Es könnte interessanter Lesestoff für Sie sein – es ist sein Hauptwerk.«

»Eine holländische Übersetzung? Ich dachte immer, er wäre Holländer gewesen.«

»Das stimmt auch, aber zur damaligen Zeit schrieben alle Wissenschaftler auf Latein.«

»Bin ich jetzt in Sicherheit?«, fragte Selma, die immer noch sichtlich zitterte. »Ist es sicher, meine Mutter herzubringen? Und sind Sie selbst sicher?«

»Niemand ist vollkommen sicher, solange diese Bestien losgelassen sind. Aber Sie sind in der sichersten Stadt von ganz Holland.

Sie haben die Türen und Fenster des Museums mit Klebeband versiegelt, sie haben die Spinoza-Gesellschaft abgeschafft, und die deutsche Regierung hat Anspruch auf dieses Haus angemeldet. Aber ich bezweifle stark, dass sie jemals in dieses leere Museum zurückkommen werden. Hier gibt es sonst nichts, was für sie wichtig wäre. Aber um sicher zu gehen, würde ich Sie trotzdem gern einen Monat lang woanders unterbringen. Mehrere Familien in Rijnsburg haben sich bereit erklärt, Sie zu verstecken. Sie haben viele Freunde in Rijnsburg. In der Zwischenzeit werde ich eine Toilette in Ihrem Zimmer einbauen, bevor Ihre Mutter nächsten Monat eintrifft.«

Als die Bücher in Berlin ankamen, befahl Alfred seinen Männern, sie augenblicklich in sein Büro nach Hause zu schaffen. Am nächsten Morgen ging er mit der Kaffeetasse in der Hand in sein Büro, setzte sich und starrte die Bücher an. Er wollte nur in dem Anblick und dem Duft dieser kostbaren Werke schwelgen – dieser Bücher, welche Spinoza persönlich in Händen gehalten hatte. Stundenlang strich er zärtlich über die Bücher und las die Titel. Einige Autoren waren ihm vertraut – Vergil, Homer, Ovid, Cäsar, Aristoteles, Tacitus, Petrarca, Plinius, Cicero, Livius, Horaz, Epiktet, Seneca und ein fünfbändiges Werk von Machiavelli. Ach, klagte er, wäre ich nur aufs Gymnasium gegangen. Dann hätte ich alle lesen können. Kein Latein, kein Griechisch – die Tragödie meines Lebens. Und dann wurde ihm urplötzlich bewusst, dass es kein einziges Buch gab, das er hätte lesen können: Keines davon war auf Deutsch oder Russisch geschrieben. Es gab zwar auch den Discours de la Méthode von Descartes, aber Alfreds Französisch war ausgesprochen dürftig.

Und die meisten Titel kannte er überhaupt nicht: eine ganze Menge hebräischer Texte, vermutlich das Alte Testament und biblische Kommentare, und viele Autoren, von denen er noch nie gehört hatte wie Nizolius, Josephus und Pagninus. Den Illustrationen nach zu schließen, waren einige davon Werke über Optik (Huygens, Longomontanus), andere anatomisch (Riolan) oder mathematisch. Alfred hatte erwartet, Anhaltspunkte über Lesezeichen oder Marginalien zu finden, die Spinoza vielleicht selbst angebracht hatte, und verbrachte den Rest des Tages damit, jede einzelne Seite jeden Buches umzublättern. Aber vergebens – es gab nichts, keine Spur von Spinoza. Bis zum Nachmittag wurde ihm die unbarmherzige Realität bewusst: Ihm fehlte das Wissen, um anhand der Bibliothek irgendetwas über Spinoza zu erfahren. Offensichtlich musste sein nächster Schritt darin bestehen, sich von klassisch ausgebildeten Wissenschaftlern beraten zu lassen.

Doch Hitler hatte andere Pläne mit ihm. Kurz nachdem die Bibliothek bei Rosenberg ankam, fielen viereinhalb Millionen deutscher Soldaten in Russland ein. Hitler ernannte Rosenberg zum Reichsminister für die besetzten Ostgebiete und verlangte von ihm, einen Masterplan für ein Gebiet in Westrussland zu entwickeln, in dem dreißig Millionen Russen lebten und das von Deutschen neu besiedelt werden sollte. Fünfzehn Millionen Russen sollten deportiert werden. Die anderen fünfzehn Millionen sollten bleiben dürfen, aber innerhalb von dreißig Jahren »germanisiert« werden.

Alfred hatte eine dezidierte Meinung zu Russland. Er glaubte, dass Russland nur von Russen besiegt werden konnte und dass die Deutschen alles versuchen sollten, das Land zu balkanisieren und anzustreben, Kampftruppen, bestehend aus Ukrainern, aufzubauen, die gegen die Bolschewisten marschieren sollten.

Diese anspruchsvolle Aufgabe, zunächst ein Triumph für Rosenberg, verwandelte sich bald in eine Katastrophe. Er legte Hitler seinen Plan vor, aber die Heeresführung war vehement dagegen und ignorierte oder unterminierte sämtliche seiner Vorschläge. Sie ließen es zu, dass Zehntausende ukrainischer Kriegsgefangener in den Lagern starben und Millionen von Zivilisten verhungerten, indem sie alle Lebensmittel nach Deutschland transportierten. Rosenberg beschwerte sich unverdrossen bei Hitler, der ihm schließlich eine grobe Antwort gab: »Hören Sie auf, sich in Militärangelegenheiten zu mischen. Seitdem Sie sich mit ideologischen Themen beschäftigen, ist Ihnen der Kontakt zum Tagesgeschäft abhanden gekommen.«

Bestsellerautor mit Millionenauflage. Herausgeber der wichtigsten Tageszeitung. Ein prestigeträchtiger Regierungsposten nach dem anderen: Vordenker der NS-Ideologie, verantwortlich für die Ausbildung, Leiter des ERR, Reichsminister für besetzte Ostgebiete. Und trotzdem im inneren Zirkel der NSDAP unbeliebt und verlacht. Wie konnte Rosenberg so viele Ehren anhäufen? Eine zuweilen abstruse, verworrene, unverständliche Prosa zieht eine unrealistisch abgehobene Einschätzung der Intelligenz des Autors nach sich. Vielleicht ließ Hitler deswegen nicht locker, Rosenberg so viele anspruchsvolle Aufgaben anzubieten.

Als die Russen schließlich die deutschen Truppen zurückschlugen und ihr Territorium wieder befreiten, wurde Alfreds Posten als Reichsminister der besetzten Ostgebiete irrelevant, und er bot seinen Rücktritt an. Hitler war zu beschäftigt, um darauf zu antworten.

Seine Hoffnung auf ein eingehendes Studium der Bibliothek Spinozas wurde nie realisiert. Es dauerte nicht lange, bis die Alliierten Berlin mit voller Wucht bombardierten. Als ein Haus nur hundert Meter von seinem eigenen zerstört wurde, gab Alfred den Auftrag, die Bibliothek nach Frankfurt in Sicherheit zu bringen.

Alfreds Völkischer Beobachter, das »Kampfblatt des nationalistischen Deutschlands«, kämpfte bis zum bitteren Ende, und unverdrossen fuhr Alfred fort, Hitler sklavisch in seinem Blatt zu preisen. In einer der letzten Ausgaben (vom 20. April 1945) ließ Rosenberg ihn anlässlich seines sechsundfünfzigsten Geburtstags hochleben, pries Hitler als den »Mann des Jahrhunderts«. Zehn Tage später, als die anrückende russische Armee nur noch wenige Straßenzüge vor Hitlers unterirdischem Bunker stand, heiratete der Führer Eva Braun, verteilte Zyanidkapseln an die Hochzeitsgäste, schrieb seinen letzten Willen und erschoss sich, nachdem seine Frau Zyanid geschluckt hatte. Vierundzwanzig Stunden später töteten Goebbels und seine Frau ihre sechs Kinder mit Morphium und Zyanid und brachten sich anschließend gemeinsam um. Ungeachtet dessen rotierten die Druckerpressen des Völkischen Beobachters bis zur deutschen Kapitulation am achten Mai 1945. Als seine Büros gestürmt wurden, fanden die Russen einige vordatierte Exemplare. Die letzte nicht verteilte Ausgabe, datiert auf den elften Mai 1945, enthielt einen Überlebensleitfaden mit dem Titel »Überleben auf deutschen Feldern und in deutschen Wäldern«.

Nach Hitlers Tod flohen Alfred und mit ihm andere überlebende Nazi-Führer nach Flensburg, wo Admiral Dönitz, das neue Staatsoberhaupt, seine Regierung zusammenrief. Alfred hoffte darauf, dass er als dienstältester überlebender Reichsleiter gebeten wurde, dem Kabinett beizutreten. Aber niemand nahm überhaupt Notiz von ihm. Schließlich schickte er einen sorgfältig formulierten Kapitulationsbrief an Feldmarschall Montgomery. Aber selbst die Briten erkannten seine Bedeutung nicht gebührend an, und Reichsleiter Rosenberg wartete sechs Tage lang ungeduldig in seinem Hotel, bis die britische Militärpolizei auftauchte und ihn festnahm. Kurz danach wurde er der amerikanischen Obhut überstellt und davon informiert, dass er zusammen mit einer kleinen Gruppe von NS-Hauptkriegsverbrechen ausgewählt wurde, um im eigens dafür einberufenen internationalen Tribunal in Nürnberg angeklagt zu werden.

NS-Hauptkriegsverbrecher! Tatsächlich! Ein Lächeln huschte über Alfreds Lippen.

In der Zwischenzeit stiegen in Rijnsburg am achten Mai, am Tag des Kriegsendes, Selma de Vries-Cohen und deren betagte Mutter Sophie aus ihrem winzigen Zimmer von der Leiter und traten zum ersten Mal seit Jahren hinaus in die Sonne. Sie gingen ums Haus herum zum Eingang des Spinoza-Hauses, wo sie sich ins Gästebuch eintrugen – es war die erste Eintragung seit vier Jahren: »In dankbarer Erinnerung an die Zeit, die wir uns hier verbergen durften. An das Spinoza-Haus und an diejenigen, die so vortrefflich für uns sorgten und unser Leben vor der deutschen Bedrohung retteten.«





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