Die Boyd Hall sieht aus, als w?re sie einem M?rchen entsprungen. Ruby hat mir auf dem Weg hierher erz?hlt, wie viel Arbeit sie gestern noch hatten und was sie alles aufgebaut und geschmückt haben, aber niemals h?tte ich erwartet, dass es so traumhaft sein würde.
Kellner schl?ngeln sich mit Tabletts, auf denen Sektfl?ten mit Champagner und Orangensaft stehen, zwischen den Tischen hindurch, und an einem schwarzen Flügel auf der Bühne sitzt ein Pianist im Frack, der eine klassische Melodie spielt, die die ganze Halle erfüllt.
?Ich kann gar nicht glauben, dass du das alles organisiert hast?, wispere ich und sto?e Ruby meinen Ellenbogen leicht in die Seite.
?Das war das ganze Team?, gibt sie wie von selbst zurück. Sie kneift die Augen zusammen und betrachtet die runden Tische in der Mitte des Saals, an denen bereits vereinzelt G?ste Platz genommen haben, dann die langen Tische an der linken Seite, wo sp?ter vermutlich das Buffet aufgebaut sein wird. Ich kenne diesen Blick genau – Ruby kontrolliert, ob auch alles genau so ist, wie sie es sich vorgestellt hat.
?Ruby!?, erklingt eine Stimme, die ich definitiv nicht kenne.
Ich drehe meinen Kopf und entdecke einen blassen Jungen mit halblangem, dunklem Haar und hübschen, von dichten Wimpern umrahmten onyxfarbenen Augen. Er hat einen markanten Kiefer und hohe Wangenknochen, die irgendwie nicht zu dem jungenhaften Grinsen und seinen fr?hlich leuchtenden Augen passen wollen.
?Kieran, hi?, gibt Ruby zurück und setzt ein L?cheln auf, das ich an ihr so noch nie gesehen habe. Es ist h?flich, professionell, aber gleichzeitig irgendwie reserviert. Auf jeden Fall nicht das L?cheln meiner Schwester.
?Die Caterer sind vor zehn Minuten gekommen und bauen im Nebenzimmer bereits auf?, sagt Kieran, bevor sein Blick auf mich f?llt. ?Hi. Ich bin Kieran. Du bist bestimmt Ember.? Er streckt mir die Hand entgegen, und automatisch ergreife ich sie. Perplex sehe ich zu Ruby. Eigentlich hatte ich angenommen, dass niemand in dieser Schule über mich oder unsere Familie Bescheid wei?, schlie?lich hat Ruby zu Hause immer so ein riesiges Geheimnis aus Maxton Hall gemacht. Ich dachte, dass sie diese Trennung zwischen Privatem und Schulischem auf beiden Seiten strikt durchzieht. Dass dieser Junge hier meinen Namen kennt, irritiert mich also ein bisschen.
?Freut mich, dich kennenzulernen, Kieran?, sage ich.
Als Kieran meine Hand losl?sst, l?chelt er Ruby an, und seine Wangen f?rben sich unübersehbar rot.
A-ha.
Offensichtlich hat Ruby noch einen Verehrer an dieser Schule. Es überrascht mich nicht, dass sie mir nichts davon erz?hlt hat. Ruby spricht so gut wie nie über ihre Gefühle. Ich frage mich manchmal, wie Ruby so sein kann, ohne zu explodieren. Ich k?nnte das, was ich empfinde, niemals so zurückhalten – weder die guten noch die schlechten Gefühle. Wenn mir etwas nicht passt, sage ich das lautstark. Wenn ich glücklich bin, trage ich das automatisch nach au?en. Ruby ist kontrollierter als ich und viel weniger impulsiv.
Ich bin so in Gedanken versunken, dass ich gar nicht mitbekomme, wie Ruby und Kieran weiter in Richtung Bühne gehen. Schnell folge ich ihnen, nur um dann zehn Minuten lang zuzuh?ren, an was im Laufe des Abends noch alles gedacht werden muss. Verstohlen blicke ich mich um, aber Ruby sieht immer wieder zu mir rüber, als h?tte sie Angst, dass ich bei der erstbesten Gelegenheit die Flucht ergreifen und mich in die Arme eines wahllosen Maxton-Hall-Schülers werfen k?nnte. Ich überlege, wie lange es wohl dauern wird, bis sie ein bisschen lockerer oder zumindest zu besch?ftigt ist, um jeden Schritt, den ich mache, wie ein Adler zu beobachten.
Als die Gala schlie?lich offiziell beginnt, sitze ich an einem halb leeren Tisch ganz hinten, sodass ich kaum etwas von dem erkennen kann, was auf der Bühne passiert. Das sind die Sitzpl?tze für das Veranstaltungskomitee, wie Kieran mir wenig sp?ter erkl?rt, und tats?chlich kommen eine Handvoll Schüler in unregelm??igen Abst?nden zu uns, setzen sich kurz und trinken etwas, nur um drei Minuten sp?ter wieder aufzuspringen und zu verschwinden.
Im Moment h?lt ein junger Mann einen Vortrag über seine Depression und erz?hlt, wie er nur durch die Hilfe des Familienzentrums wieder auf die Beine gekommen ist. Es ist eine sehr ergreifende Rede, die den gesamten Saal in ihren Bann zieht. Ich kann sehen, wie einige G?ste sich mit Stofftaschentüchern die Augen tupfen oder mit konzentriert gefurchter Stirn nicken. Auch Kieran neben mir scheint absolut gefesselt.
?Hey?, flüstere ich ihm zu. ?Ich gehe mir kurz was zu trinken holen. M?chtest du auch was??
?Ich kann mitkommen?, sagt er sofort und macht Anstalten aufzustehen.
?Quatsch?, winke ich ab. ?Das schaffe ich schon allein. M?chtest du was??
Kieran z?gert einen Moment, und sein Blick huscht zwischen mir und dem Redner hin und her, dann schüttelt er den Kopf. ?Nein, danke.?
Ich nicke und gehe zur Bar, wo einer der Kellner mich freundlich anl?chelt und fragt, was ich trinken m?chte.
?Ein Glas Sekt bitte?, sage ich, als w?re es v?llig selbstverst?ndlich, aber entweder sieht man mir meine sechzehn – fast siebzehn! – Jahre an, oder er hat die Anweisung, gar keinen Schülern Alkohol auszuschenken, denn er schüttelt langsam den Kopf.
Ich seufze. Dann bleibt mir nichts anderes übrig, als den Kinderpunsch auszuprobieren, der auf dem Buffet neben der Bar aufgebaut ist. Ich nehme mir eines der hübschen Kristallgl?ser, halte es ins Licht und betrachte die kaleidoskopartigen bunten Lichtpunkte, die den Raum in sanfte Farben tauchen.
Im selben Moment, in dem ich beginne, Punsch aus der gro?en Schüssel in mein Glas zu sch?pfen, bricht donnernder Applaus im Saal aus. Offensichtlich ist die Rede vorbei.
Ich gehe ein paar Schritte zur Seite, um den anderen G?sten nicht den Weg zum Buffet zu versperren.
?Hallo, Sch?nheit?, erklingt dicht neben mir eine Stimme.
Ich erstarre. Dann bei?e ich die Z?hne zusammen.
Es ist nicht das erste Mal, dass ich so angesprochen werde. Einige Jungs in meiner Schule haben in der Vergangenheit Wetten darauf abgeschlossen, wer mich mit welchem Anmachspruch am schnellsten rumkriegt – nur zum Spa?, versteht sich.