Zu Beginn war es ein bisschen merkwürdig, mit Lydia hierherzukommen. Doch sp?testens als sie von einer Arzthelferin aufgefordert wurde, in einen Becher zu pinkeln, war mir klar, dass wir den richtigen Zeitpunkt für Scham beide verpasst hatten.
Jetzt rupft Lydia neben mir an ihrem karierten Schal herum, w?hrend sie immer wieder zur Tür schielt. Vielleicht spielt sie mit dem Gedanken, aufzuspringen und zu fliehen. Als ihr Blick meinen streift, l?chle ich ihr zuversichtlich zu – oder versuche es zumindest. Ich wei? nicht, was genau meine Aufgabe hier ist, also tue ich, was ich mir in dieser Situation von meiner Begleitung wünschen würde. Es scheint zu funktionieren, denn Lydias Schultern entspannen sich ein kleines bisschen.
Nachdem Dr. Hearst fertig mit dem Eintrag am PC ist, legt sie ihre H?nde gefaltet auf dem Tisch vor sich ab und beugt sich ein Stück vor. Ihr Gesicht wirkt freundlich, obwohl ihr dunkles Haar in einen strengen Knoten zurückgebunden ist. Sie hat viele Lachfalten, warme braune Augen und eine angenehme, ruhige Stimme.
?Ms Beaufort, wie geht es Ihnen??, fragt sie.
Ich sehe Lydia an, die wiederum die ?rztin anschaut.
Pl?tzlich st??t sie einen hysterisch klingenden Laut aus, der wohl so etwas wie ein Lachen sein soll. Jedoch fasst sie sich schnell und r?uspert sich, als w?re nichts gewesen. ?Ganz okay, sch?tze ich.?
Dr. Hearst nickt verst?ndnisvoll. ?Bei Ihrer letzten Untersuchung haben Sie über schlimme übelkeit geklagt. Wie sieht es heute aus??
?Es ist besser geworden. Ich habe schon seit einer Woche nicht mehr spucken müssen. Allerdings habe ich manchmal ziemliche Schmerzen, wenn ich nach l?ngerem Sitzen aufstehe. Ist das normal??
Dr. Hearst l?chelt. ?Das ist kein Grund zur Sorge. Ihre Mutterb?nder dehnen sich gerade enorm, weil sie Platz für das Baby schaffen müssen. Gegen die Schmerzen kann ich Ihnen Magnesium verschreiben.?
?Okay, das klingt gut?, erwidert Lydia erleichtert.
Nach dem Gespr?ch schickt Dr. Hearst sie hinter den Vorhang, um sich frei zu machen. Ich bleibe auf meinem Stuhl sitzen und betrachte w?hrend der Untersuchung das Gem?lde, das über dem Schreibtisch h?ngt. Ich versuche herauszufinden, was die vielen Formen und Farben darstellen k?nnten – aber keine Chance. Es ist ein wilder Haufen aus Gelb, Rot und Blau und wahrscheinlich eines der seltsamsten Bilder, das ich je gesehen habe. Ich frage mich, ob es vielleicht ein Kind gemalt hat.
?Alles ist genau so, wie es sein soll?, h?re ich Dr. Hearst sagen. ?Der Muttermund ist fest verschlossen, und solange Sie keine Kr?mpfe oder Blutungen hatten, sollte alles in Ordnung sein.?
Lydia murmelt irgendetwas, was ich nicht verstehe, dann darf sie sich wieder anziehen. Erleichtert atme ich auf. Diesen Teil h?tten wir geschafft.
?Sie k?nnen jetzt gerne zu uns kommen, Ms Bell.?
Lydia hat sich inzwischen auf die Liege neben dem Behandlungsstuhl gelegt und ihre Bluse nach oben geschoben. Ihre Finger ruhen auf ihrem nackten Bauch, und ich stelle fest, dass man inzwischen schon eine deutliche W?lbung erkennen kann.
Ich erwidere Lydias nerv?ses L?cheln, als ich mich neben sie auf einen Stuhl setze. Die ?rztin rollt einen Apparat zu uns heran, von dem ich annehme, dass es sich um ein Ultraschallger?t handelt.
?So, wollen Sie Ihr Baby sehen, Ms Beaufort??
Lydia nickt, sichtlich angespannt, und ich rücke ein wenig n?her an sie heran.
Die ?rztin tr?gt ein durchsichtiges Gel auf Lydias Bauch auf und drückt dann den Kopf des Ultraschallger?ts darauf. Wie gebannt starre ich auf den Bildschirm, erkenne in dem Wirrwarr aus Schwarz und Wei? allerdings erst einmal gar nichts. Doch Dr. Hearst f?hrt unbeirrt weiter über Lydias Haut, und irgendwann ver?ndert sich das Bild. Nach und nach wird es deutlicher, und …
Mein Atem stockt. Neben mir st??t Lydia ein leises ?Oh? aus.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass das rechts auf dem Bildschirm ein kleiner Kopf ist.
?Da ist es?, sagt Dr. Hearst und deutet mit dem Finger auf das Bild. Als sie das Ger?t weiterbewegt, wird das Baby immer deutlicher. Jetzt kann ich sogar winzige Arme und Beine erkennen. Das ist so, so cool und mit Abstand das Faszinierendste, was ich je in meinem Leben gesehen habe.
?Wow?, flüstere ich, woraufhin die ?rztin mir ein L?cheln zuwirft.
Ich wage einen Blick zu Lydia. Ihre Augen sind riesig, als sie ungl?ubig auf den Bildschirm starrt.
?Moment?, sagt Dr. Hearst pl?tzlich und beugt sich ein Stück n?her zum Bildschirm. Einen Augenblick lang ist wieder nur schwarz-wei?es Chaos zu erkennen, dann taucht die kleine Blase wieder auf.
?Alles okay??, fragt Lydia unsicher. Ich lege meine Hand auf ihre Schulter. Das Z?gern der ?rztin macht auch mich nerv?s. Das Kind hat sich bewegt, das habe ich ganz genau gesehen. Sie kann uns jetzt keine Hiobsbotschaft überbringen – nicht jetzt. Lydia wird das nicht verkraften.
?Ms Beaufort, darf ich Ihnen vorstellen?? Dr. Hearst strahlt Lydia an. ?Baby Nummer zwei!? Sie deutet auf einen Punkt auf dem Bildschirm. ?Es versteckt sich ein bisschen neben seinem Geschwisterchen, deshalb kann man es noch nicht so gut erkennen.?
Lydia schnappt nach Luft. Fassungslos starrt sie auf den Monitor, als Dr. Hearst die zweite kleine Blase heranzoomt und das Bild vergr??ert. Auch wenn ich nichts erkenne, wei? ich, dass sie die Wahrheit sagt.
Zwillinge.
Lydia erwartet nicht nur ein Kind, sondern zwei.
Ich kann mir nicht vorstellen, was gerade in ihrem Kopf vor sich geht. Ich t?tschle ihre Schulter ein wenig unbeholfen und suche krampfhaft nach etwas, was ich sagen k?nnte – als Lydia pl?tzlich den Kopf in den Nacken wirft und anf?ngt zu lachen.
Dr. Hearst und ich wechseln einen Blick, der besagt, dass wir ihr diese Reaktion nicht verübeln k?nnen. Wahrscheinlich steht Lydia unter Schock. Nach allem, was sie in den letzten Wochen durchgemacht hat, würde es mich nicht wundern, wenn sie irgendwann durchdreht.
?Das ist der Wahnsinn?, japst sie nach einer Weile und dreht ihren Kopf in meine Richtung. ?Das ist einfach … mir fehlen die Worte.?