?Wir k?nnten die Ferien nutzen und eine Liste mit englischen Unternehmen machen, die infrage k?men, oder was meinst du??, hake ich nach, w?hrend ich mit dem Pinsel über die innere Seite des Regals fahre.
?Das ist eine tolle Idee. Ich habe sogar schon angefangen, weil ich bald einen Guide für ethisch hergestellte Plus-Size-Mode schreiben wollte.?
Ich will gerade antworten, dass unsere Abmachung steht, da klopft es an der seitlichen Garagentür.
?Ruby??
Ember und ich erstarren. Mum darf auf keinen Fall sehen, was wir hier machen. Sie kann n?mlich keine Geheimnisse für sich behalten, schon gar nicht, wenn es um Geschenke für Dad geht. Das haben wir in den vergangenen Jahren mehr als einmal feststellen müssen.
?Wehe, du kommst rein!?, ruft Ember panisch und macht einen schnellen Schritt vor das Gewürzregal, damit Mum es nicht sieht, sollte sie doch ihren Kopf durch die Tür stecken.
?Das hatte ich nicht vor?, h?ren wir sie ged?mpft rufen. ?Ruby, du hast Besuch.?
Ember und ich wechseln einen verwirrten Blick.
?Lin vielleicht??, fragt sie.
Ich schüttle den Kopf. ?Nein, sie verbringt die Weihnachtsfeiertage mit ihrer Mutter in China, um Verwandte zu besuchen.?
Embers Augen weiten sich. ?Meinst du, es ist …?? Sie spricht seinen Namen nicht aus, aber dennoch macht mein Herz einen Satz.
?Wer ist es, Mum??, frage ich laut.
?Kannst du vielleicht einfach rauskommen? Ich habe keine Lust, mich mit dir durch die Tür zu unterhalten.?
Ich verdrehe die Augen und ziehe die eine Schlaufe des Mundschutzes vom Ohr, sodass er halb runterh?ngt und ich mich wie ein Arzt fühle, der gerade bei einer wichtigen Operation eine Pause macht. Ich ?ffne die Tür einen Spaltbreit und schiebe mich hindurch. Mum sieht mich und den Mundschutz mit hochgezogenen Augenbrauen an, und ich erwische sie dabei, wie sie sich auf die Zehenspitzen stellt, um einen Blick durch den Türspalt zu erhaschen. So schnell es geht, ziehe ich die Tür hinter mir ins Schloss.
?Wer ist es??, frage ich leise.
Von einem Moment auf den anderen wird Mums Miene wieder ernst. ?Das Beaufort-M?dchen.?
Das Herz rutscht mir in die Hose. Ich habe ein Déjà-vu von jenem Abend, an dem Lydia hier nach James gesucht hat. Es kann nicht schon wieder etwas Schlimmes passiert sein.
Nicht schon wieder. Bitte, nicht schon wieder.
?Wo ist sie??, frage ich.
Mum deutet in Richtung des Flurs. ?Im Wohnzimmer. Dein Vater und ich sind in der Küche, falls du uns brauchen solltest.?
Ich nicke und ziehe mir den Mundschutz ganz ab. Vorsichtigen Schrittes gehe ich durch den Flur in Richtung Wohnzimmer. Diesmal wappne ich mich, Embers kluge Worte noch ganz frisch in meinem Ged?chtnis.
Lydia sitzt auf unserem alten geblümten Sofa, die H?nde im Scho? verschr?nkt, den Blick auf den Wohnzimmertisch geheftet. Sie tr?gt eine locker fallende Chiffon-Bluse zu einem schwarzen Faltenrock und hat ihre Haare in den für sie typischen Pferdeschwanz hochgebunden. Kein einziges der gelockten Haare steht ab, wie immer vermittelt Lydia den Eindruck, alles an ihr w?re in perfekter Ordnung.
Der apathische Blick in ihren Augen sagt jedoch etwas anderes.
?Hi?, sage ich leise, weil ich sie nicht erschrecken will.
Lydia hebt den Kopf und erblickt mich im Türrahmen. Sie ringt sich zu einem müden L?cheln durch. ?Hi, Ruby.?
Einen Moment lang bin ich unentschlossen, was ich machen soll, entscheide mich aber, zu ihr zu gehen und mich neben sie aufs Sofa zu setzen. Ich unterdrücke den Impuls, Small Talk zu machen und sie zu fragen, wie es ihr geht oder ob alles in Ordnung ist. Stattdessen warte ich.
Nach einer Weile schluckt Lydia schwer. ?Du hattest gesagt, dass ich mich melden soll, wenn ich etwas brauche.?
Einen Moment lang schaue ich sie perplex an, dann nicke ich schnell. ?Ja, natürlich. Egal, was es ist.?
Sie schaut unsicher in Richtung Wohnzimmertür, als würde sie nach jemandem Ausschau halten. Wahrscheinlich fürchtet sie, meine Eltern oder Ember k?nnten hereinkommen oder uns belauschen. Ich rücke ein Stückchen dichter an sie heran.
?Um was geht es??, frage ich leise.
Lydia atmet h?rbar aus. Dann drückt sie den Rücken durch, bis sie ganz aufrecht sitzt. ?Ich habe morgen einen Termin beim Frauenarzt und brauche jemanden, der mich begleitet.?
Es dauert ein paar Sekunden, bis ich realisiert habe, was sie gerade gesagt hat. ?Du m?chtest, dass ich mitkomme??, frage ich verblüfft.
Sie holt zittrig Luft, presst die Lippen fest aufeinander und nickt schlie?lich. ?Du bist die Einzige, die davon wei?.?
?Ist denn irgendetwas los? Hast du Beschwerden oder so??
Lydia schüttelt den Kopf. ?Nein, es ist nur eine Vorsorgeuntersuchung. Aber ich m?chte … nicht allein dorthin fahren.?
Ich frage mich, wie viel überwindung es sie gekostet hat, hierherzukommen und das zu sagen. Bis zu diesem Moment war mir nicht bewusst, wie einsam Lydia sich wirklich fühlen muss. Ich bin die Einzige, die sie darum bitten kann, mit ihr zu einem Arzttermin zu gehen, der ihr mit Sicherheit Angst macht und vor dem sie aufgeregt ist.
Es gibt für mich nur eine einzige Antwort auf ihre Frage, und sie kommt wie selbstverst?ndlich aus mir heraus:
?Natürlich begleite ich dich.?
Das Behandlungszimmer ist vor allem eins: steril. Die W?nde sind wei? und bis auf ein einziges Gem?lde bilderlos. Hinter dem Schreibtisch im linken Teil des Raums befindet sich ein breites Fenster mit zugezogenen Jalousien, rechts daneben eine Ecke, vor der ein hellblauer Vorhang angebracht ist, hinter dem Lydia sich mit Sicherheit gleich umziehen soll.
Wir sitzen auf den beiden Stühlen am Schreibtisch und beobachten die ?rztin Dr. Hearst dabei, wie sie in Lichtgeschwindigkeit etwas in ihren Computer eintippt.