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AMSTERDAM, APRIL 1656
Wenn sich die letzten Sonnenstrahlen im Wasser des Zwanenburgwal spiegeln, macht Amsterdam Feierabend. Die Färber sammeln ihre magenta- und purpurfarbenen Stoffe ein, die auf den Steinufern des Kanals trocknen. Händler rollen die Markisen ein und schließen die Läden ihrer Verkaufsstände. Ein paar Arbeiter, die nach Hause schlurfen, bleiben kurz an den Heringsständen am Kanal stehen, genehmigen sich einen schnellen Imbiss mit holländischem Gin und setzen dann ihren Weg fort. Amsterdam bewegt sich träge: Die Stadt ist in Trauer, sie erholt sich noch immer von der Seuche, die erst wenige Monate zuvor einen von neun Menschen dahingerafft hat.
Ein paar Meter von der Gracht entfernt, setzt in der Breestraat Nummer 4 der bankrotte und leicht angetrunkene Rembrandt van Rijn den letzten Pinselstrich auf sein Gemälde Jakob segnet die Söhne des Joseph, signiert es in der rechten unteren Ecke mit seinem Namen, wirft seine Palette auf den Fußboden, dreht sich um und steigt die schmale Wendeltreppe hinunter. Das Rembrandt-Haus, drei Jahrhunderte später dazu bestimmt, sein Museum und sein Denkmal zu werden, ist an diesem Tag Zeuge seiner Schmach: Es wimmelt von Bietern, die auf die Versteigerung sämtlicher Habseligkeiten des Künstlers warten. Er schiebt die Gaffer auf der Treppe unsanft zur Seite, tritt aus der Haustür, atmet die salzige Luft ein und stolpert auf das Wirtshaus an der Ecke zu.
In Delft, sieben Kilometer weiter südlich, geht der Stern eines anderen Künstlers auf. Der fünfundzwanzig Jahre alte Johannes Vermeer wirft einen letzten Blick auf sein neues Werk Bei der Kupplerin. Er begutachtet es von rechts nach links. Als erstes die Prostituierte mit der prächtigen, gelben Joppe. Gut. Gut. Das Gelb glänzt wie poliertes Sonnenlicht. Und die Gruppe von Männern, die sich um sie schart: Ausgezeichnet – jeder von ihnen könnte ohne weiteres aus der Leinwand heraustreten und ein Gespräch beginnen. Er beugt sich näher heran, um den angedeuteten und doch durchdringenden Blick des anzüglich grinsenden jungen Mannes mit dem geckenhaften Hut einzufangen. Vermeer nickt seiner eigenen Miniatur zu. Ausgesprochen zufrieden signiert er das Gemälde in der rechten, unteren Ecke mit seinem Namen und einem Schnörkel.
Zurück in Amsterdam, in der Breestraat Nummer 57, nur zwei Straßen von der bevorstehenden Versteigerung in Rembrandts Haus entfernt, macht sich ein fünfundzwanzig Jahre alter Kaufmann (nur wenige Tage älter als Vermeer, den er sehr verehren, aber nie persönlich treffen wird) daran, seinen Import-Export-Laden zuzusperren. Für einen Krämer ist er eigentlich zu schmal und zu hübsch. Seine Gesichtszüge sind perfekt, seine olivfarbene Haut makellos, die Augen groß, dunkel und schwermütig.
Er sieht sich ein letztes Mal um: Viele Regale sind so leer wie seine Taschen. Seeräuber haben seine letzte Lieferung aus Bahia abgefangen, und nun gibt es keinen Kaffee, keinen Zucker und auch keinen Kakao. Über eine Generation lang betrieb die Spinoza-Familie ein blühendes Handelsgeschäft, doch nun ist für die Spinoza-Brüder Gabriel und Bento nur noch ein kleines Einzelhandelsgeschäft übrig geblieben. In der staubigen Luft, die Bento Spinoza einatmet, macht er resigniert den übelriechenden Rattenkot aus, der den Duft der getrockneten Feigen, der Rosinen, des kandierten Ingwers, der Mandeln und der Kichererbsen begleitet und sich in die scharfen Dämpfe des spanischen Weines mischt. Er geht hinaus und stellt sich seinem täglichen Duell mit dem verrosteten Vorhängeschloss an der Ladentür. Eine unbekannte Stimme, die ihn gestelzt auf Portugiesisch anspricht, schreckt ihn auf.
»Sind Sie Bento Spinoza?«
Spinoza dreht sich um und sieht sich zwei Fremden gegenüber, jungen, erschöpften Männern, die anscheinend von weither angereist sind. Der eine, der ihn angesprochen hat, ist groß, und sein massiger, vierschrötiger Kopf ist vornübergebeugt, als sei er zu schwer, um ihn aufrecht zu halten. Seine Kleidung ist von guter Qualität, aber verschmutzt und verknittert. Der andere, in einer zerlumpten Bauerntracht, steht hinter seinem Gefährten. Er hat langes, verfilztes Haar, dunkle Augen, ein kräftiges Kinn und eine ebensolche Nase. Seine Körperhaltung ist steif. Nur die Augen bewegen sich, schießen wie verängstigte Kaulquappen hin und her.
Spinoza nickt vorsichtig.
»Ich bin Jacob Mendoza«, sagt der größere der beiden. »Wir müssen Sie sehen. Wir müssen mit Ihnen sprechen. Dies hier ist mein Vetter Franco Benitez, den ich gerade aus Portugal hergebracht habe. Mein Vetter …«, Jacob packt Franco an der Schulter, »… ist in einer Krise.«
»Ja«, antwortet Spinoza. »Und?«
»In einer ernsten Krise.«
»Ja. Und warum suchen Sie mich auf?«
»Uns wurde gesagt, dass Sie derjenige sind, bei dem wir Hilfe finden können. Vielleicht der Einzige.«
»Hilfe?«
»Franco hat allen Glauben verloren. Er zieht alles in Zweifel. Alle religiösen Rituale. Gebete. Sogar die Existenz Gottes. Er lebt in ständiger Furcht. Er schläft nicht. Er spricht davon, sich selbst zu töten.«
»Und wer leitete Sie so in die Irre, dass er Sie hierher schickte? Ich bin nur ein Kaufmann, der ein kleines Geschäft betreibt. Und kein sehr profitables, wie Sie sehen.« Spinoza deutet auf das staubige Fenster, hinter dem die halbleeren Regale zu erkennen sind. »Rabbi Mortera ist unser spiritueller Führer. Sie müssen zu ihm gehen.«
»Wir kamen gestern an, und heute Morgen wollten wir genau das tun. Aber unser Hausherr, ein entfernter Vetter, riet uns davon ab. ›Franco braucht einen Helfer, keinen Richter‹, sagte er. Er erzählte uns, dass Rabbi Mortera mit Zweiflern sehr streng umgeht. Er glaube, sagte mein Vetter, dass auf alle Juden in Portugal, die zum Christentum konvertierten, ewige Verdammnis warte, auch wenn sie gezwungen worden seien, sich zwischen Konversion und Tod zu entscheiden. ›Rabbi Mortera‹, sagte er mir, ›wird Francos Zustand nur noch verschlimmern. Geh zu Bento Spinoza. Er ist ein weiser Mann in solchen Angelegenheiten.‹«
»Was ist das für ein Gerede? Ich bin nichts weiter als ein Kaufmann …«
»Er behauptete, dass Sie der nächste große Rabbiner von Amsterdam geworden wären, wenn der Tod Ihres älteren Bruders und Ihres Vaters Sie nicht dazu gezwungen hätte, das Geschäft zu übernehmen.«
»Ich muss gehen. Ich muss zu einem Treffen, das ich nicht versäumen darf.«
»Gehen Sie zum Sabbatgottesdienst in die Synagoge? Ja? Wir auch. Ich nehme Franco mit, denn er muss wieder zu seinem Glauben zurückfinden. Dürfen wir Sie begleiten?«
»Nein, ich gehe zu einem anderen Treffen.«
»Zu welchem anderen Treffen?«, bohrt Jacob nach, nimmt sich dann aber sofort zurück. »Verzeihen Sie. Es geht mich nichts an. Dürfen wir Sie morgen aufsuchen? Wären Sie bereit, uns am Sabbat zu helfen? Das ist erlaubt, denn es ist eine Mitzwa. Wir brauchen Sie. Mein Vetter ist in Gefahr.«
»Sonderbar.« Spinoza schüttelt den Kopf. »Niemals wurde ein solches Ansinnen an mich herangetragen. Es tut mir leid, aber Sie irren. Ich habe Ihnen nichts zu bieten.«
Franco, der auf den Boden gestarrt hatte, während Jacob sprach, hebt nun die Augen und spricht seine ersten Worte: »Ich bitte nur um wenig, nur um ein paar Worte mit Ihnen. Wollen Sie sich einem jüdischen Mitbruder verweigern? Es ist Ihre Pflicht gegenüber einem Reisenden. Ich musste aus Portugal fliehen, genau wie Ihr Vater und Ihre Familie fliehen mussten, um der Inquisition zu entgehen.«
»Aber was kann ich …«
»Es ist gerade ein Jahr her, seitdem mein Vater auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Sein Verbrechen? Sie fanden Blätter der Thora, die in der Erde hinter unserem Haus vergraben waren. Der Bruder meines Vaters, Jacobs Vater, wurde kurz danach ermordet. Ich habe eine Frage: Sehen Sie sich diese Welt an, in der ein Sohn den Gestank des brennenden Fleisches seines Vaters riecht: Wo ist der Gott, der eine solche Welt erschaffen hat? Warum lässt Er so etwas zu? Werfen Sie mir vor, dass ich diese Frage stelle?« Franco sieht Spinoza einige Augenblicke lang tief in die Augen und fährt dann fort. »Gewiss wird ein Mann, den man den ›Gesegneten‹ nennt – Bento auf Portugiesisch und Baruch auf Hebräisch –, sich einem Gespräch mit mir nicht verweigern.«
Spinoza nickt ernst. »Ich werde mit Ihnen sprechen, Franco. Morgen Mittag?«
»In der Synagoge?«, fragt Franco.
»Nein, hier. Kommen Sie zu mir in den Laden. Er wird geöffnet sein.«
»Der Laden? Geöffnet?«, unterbricht Jacob. »Aber der Sabbat?«
»Mein jüngerer Bruder Gabriel vertritt die Familie Spinoza in der Synagoge.«
»Aber die Heilige Thora«, beharrt Jacob, der ignoriert, dass Franco ihn am Ärmel zieht, »belegt Gottes Willen, dass wir am Sabbat nicht arbeiten, dass wir diesen heiligen Tag mit Gebeten an ihn verbringen und Mitzwot leisten.«
Spinoza dreht sich um und fragt so nachsichtig, als spräche ein Lehrer mit einem jungen Schüler: »Sagen Sie, Jacob, glauben Sie, dass Gott allmächtig ist?«
Jacob nickt.
»Dass Gott perfekt ist? Niemand kommt ihm gleich?«
Wieder stimmt Jacob zu.
»Dann würden Sie mir sicherlich Recht geben, dass per Definition eine perfekte und vollkommene Substanz keine Mängel, keine Unzulänglichkeiten, keine Bedürfnisse und keine Wünsche hat. Ist es nicht so?«
Jacob denkt nach, zögert und nickt dann vorsichtig. Spinoza stellt fest, dass sich Francos Lippen zu einem Lächeln kräuseln.
»Dann«, fährt Spinoza fort, »konstatiere ich, dass Gott keine Wünsche hat, wie, ja selbst ob wir ihn preisen. Und daher gestatten Sie mir, Jacob, dass ich Gott auf meine Art liebe.«
Francos Augen weiten sich. Er dreht sich zu Jacob um, als wollte er sagen: »Siehst du? Siehst du? Das ist der Mann, den ich suche.«
Das Spinoza-Problem
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