Ich kann nur den Kopf schütteln. Krampfhaft versuche ich mir das in Erinnerung zu rufen, was Dad uns vor der Beerdigung eingetrichtert hat. Aufrecht stehen, die Sonnenbrillen h?chstens für eine halbe Minute abnehmen, keine Tr?nen. Er wollte der Presse nicht mehr Drama geben, als n?tig war.
Es kostet mich meine letzte Kraft, mich zusammenzurei?en. Ich versuche, nicht an Mum zu denken. Daran, dass ich sie nie wieder um Rat bitten kann. Daran, dass sie mir nie wieder einen Tee ins Zimmer bringen wird, wenn ich wieder zu lange am Schreibtisch gesessen und für die Schule gelernt habe. Daran, dass sie mich nie wieder umarmen wird. Daran, dass sie niemals ihr Enkelkind kennenlernen wird. Daran, dass ich vollkommen allein bin und Angst habe, James und Dad auch noch zu verlieren, weil unsere Familie jeden Tag ein Stückchen mehr auseinanderf?llt.
Ein leises Schluchzen befreit sich aus meiner Kehle. Fest presse ich die zitternden Lippen aufeinander, um ja nicht noch ein Ger?usch von mir zu geben.
?Lydia?, wiederholt James, diesmal eindringlicher. Er rückt n?her an mich heran, sodass unsere Arme sich durch den dicken Stoff unserer Jacken berühren. Langsam hebe ich den Blick. James hat die Sonnenbrille abgenommen und sieht mich aus dunklen Augen an. In ihnen erkenne ich etwas, was ich in der letzten Woche verzweifelt gesucht habe. Etwas, was mich daran erinnert, dass er mein Bruder ist und immer bei mir bleiben wird.
James hebt z?gerlich die Hand an mein Gesicht. Sie ist zwar eiskalt, aber dennoch fühlt es sich gut an, wie er mit dem Daumen flüchtig über meine Wange streicht.
?Schei? auf Dad?, flüstert er mir zu. ?Wenn du weinen m?chtest, dann wein gef?lligst. Okay??
Diese Vertrautheit in seinen Augen und die Ehrlichkeit seiner Worte sorgen dafür, dass die Mauer in mir endgültig in die Brüche geht. Ich lasse zu, dass sich die Gefühle in mir in einen Wirbelsturm verwandeln, denn James ist da, um mich festzuhalten. Er legt einen Arm um meine Schulter und zieht mich dicht an seine Seite. Ich vergrabe das Gesicht an seiner Brust. Er fühlt sich nach zu Hause an, und mein schweres Herz wird ein Stück leichter. W?hrend meine Tr?nen unaufhaltsam auf seinen Mantel fallen, sehen wir gemeinsam dabei zu, wie der Sarg immer weiter abgesenkt wird, bis er auf dem Grund angekommen ist.
5
Ruby
Am Mittwoch gehe ich wieder in die Schule. Ich habe über eine Woche ausgesetzt und bekomme die Folgen nun zu spüren. Obwohl Lin mich am Wochenende mit ihren Notizen versorgt hat, habe ich Schwierigkeiten, dem Unterricht zu folgen. Zweimal werde ich in Geschichte aufgerufen und kann keine vernünftige Antwort geben. W?hrend ich betroffen auf meinen Planer starre, scheint es Mr Sutton allerdings kaum aufzufallen. Er wirkt, als stünde er v?llig neben sich und w?re mit den Gedanken ganz woanders. Ich frage mich, ob er genauso oft an Lydia denkt wie ich an James.
Als der Vormittag vorbei ist, bin ich fix und fertig. Am liebsten würde ich mich in die Bibliothek setzen und mir den Stoff für die folgenden Stunden noch einmal anschauen, aber mein Magen knurrt zu sehr, als dass ich das Mittagessen ausfallen lassen k?nnte.
Auf dem Weg zur Mensa hakt Lin sich bei mir unter. ?Alles okay??, fragt sie und wirft mir einen Seitenblick zu.
?Ich werde nie wieder auch nur einen einzigen Tag fehlen?, grummele ich, als wir gemeinsam in Richtung Mensa gehen. ?Das ist das schrecklichste Gefühl der Welt, wenn man keine Ahnung hat, was die Lehrer von einem wollen.?
Lin t?tschelt meinen Arm. ?Du hast dich doch gut geschlagen. Sp?testens n?chste Woche hast du wieder alles aufgeholt.?
?Mh?, mache ich, als wir abbiegen. ?Trotzdem war es –?
Ich halte auf dem Absatz inne.
Wir befinden uns in der Haupthalle von Maxton Hall. Rechts von mir ist die Treppe, die ins Kellergeschoss führt.
Die Treppe, auf der James mich zum ersten Mal geküsst hat.
Die Erinnerung daran, wie er seine Hand um meinen Nacken gelegt und seine Lippen auf meine gepresst hat, überkommt mich ohne Vorwarnung. Sie spielt sich wie ein Film vor meinem inneren Auge ab: sein Mund, der über meinen gleitet, seine H?nde, die mich festhalten, seine selbstsicheren Bewegungen, die meine Knie weich werden lassen. Doch pl?tzlich beginnt mein Gesicht, sich zu ver?ndern – es verformt sich, bis es komplett verwandelt ist. James h?lt nicht l?nger mich, sondern Elaine in seinen Armen und küsst sie leidenschaftlich.
Ein heftiges Stechen f?hrt in meinen Magen, und es kostet mich gro?e Mühe, mich nicht zusammenzukrümmen.
Dann rempelt mich jemand von der Seite an – und ich bin wieder in Maxton Hall. Statt des Kusses sehe ich die leere Kellertreppe und Menschen, die sich in Richtung Cafeteria bewegen. Auch der krampfartige Schmerz in meinem Magen ist abgeebbt.
Ich hole tief Luft. Dieser ganze Schultag war bis jetzt nichts als eine einzige Achterbahnfahrt. Jedes Mal, wenn ich nach oben fahre und beim Kamm ankomme – denke, dass alles normal ist und ich das schon irgendwie schaffe –, sehe ich pl?tzlich etwas, was mich an James erinnert, und werde wieder in die Tiefe, in einen Strudel aus Schmerz gerissen.
?Ruby??, sagt Lin neben mir, ihrer besorgten Miene nach zu urteilen, nicht zum ersten Mal in den letzten Minuten. ?Alles okay??
Ich zwinge ein L?cheln auf mein Gesicht und nicke.
Lin runzelt die Stirn, hakt aber nicht weiter nach. Stattdessen tut sie das, was sie schon den gesamten Vormittag über versucht hat: mich abzulenken. W?hrend sie mich zum Eingang der Cafeteria führt, erz?hlt sie mir von der neuen Reihe von Tsugumi Ohba und Takeshi Obata, die sie verschlungen hat. Sie ist so begeistert davon, dass ich augenblicklich mein Bullet Journal heraushole und die Mangas auf meine Leseliste setze.
Nachdem wir fertig gegessen haben, bringen wir unsere Tabletts zur Geschirrrückgabe. An der Wand daneben lehnt ein M?dchen, das ich nicht kenne. Sie unterh?lt sich mit einem Typ, verstummt aber, als sie mich sieht. Ihre Augen werden gro?, und sie rammt ihm – nicht mal sonderlich unauff?llig – den Ellbogen in die Seite. Ich versuche, die beiden zu ignorieren.